Der Historiker, Elizabeth Kostova, Bloomsbury Berlin, 2005, 832 Seiten, Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence, ISBN 3-8270-0590-6
Klappentext:
Spät in einer Nacht findet ein junges Mädchen in der Bibliothek ihres Vaters ein altes Buch und ein Konvolut mit vergilbten Briefen. Die Briefe sind alle an meinen lieben und bedauernswerten Nachfolger adressiert, und sie nehmen das Mädchen mit in ein Labyrinth, in dem sich die Geheimnisse der Vergangenheit ihres Vaters mit dem mysteriösen Schicksal ihrer Mutter zu einem unvorstellbaren Verhängnis verbinden, das weit in die Historie zurückreicht.
Die Briefe führen zu einer der dunkelsten Mächte in der Menschheitsgeschichte: Vlad dem Pfähler, dem barbarischen Herrscher und Urbild der Dracula-Legende. Eine Suche in Klöstern, Bibliotheken und Archiven beginnt, bei der die Grausamkeiten von Dracula zu Tage treten, die sich bis heute fortsetzen...
Die Autorin: (lt. Klappentext)
Elizabeth Kostova hat einen BA-Abschluss an der Universität von Yale und einen Master Abschluss in Creative Writing an der Universität von Michigan gemacht. Hier wurde sie für die ersten Kapitel des Historikers mit dem Hopwood Award ausgezeichnet. Sie recherchierte und schrieb zehn Jahre an diesem Roman.
Meine Rezension bei Amazon:
Elizabeth Kostova überrascht uns mit einem Roman, bei dem mit extremen Meinungsunterschieden der Leser und Leserinnen zu rechnen ist: entweder man liebt ihn oder man haßt ihn.
Zu Beginn des Romans lernen wir die 16-jährige namenlos bleibende Erzählerin kennen, die in der Bibliothek ihres Vaters, des Diplomaten und Historikers Paul, ein uraltes Buch findet, dessen Seiten bis auf die Abbildung eines Drachens mit dem Schriftzug Drakulya leer sind. Abgesehen von diesem Buch findet das Mädchen eine Reihe rätselhafter Briefe. Als sie ihren Vater auf ihren Fund anspricht, erzählt dieser nach einigem Zögern, die unglaubliche und schreckliche Geschichte, wie er und Jahre zuvor sein Mentor Professor Rossi Nachforschungen über den berühmten und berüchtigten rumänischen Fürsten Vlad Tepes, den Pfähler, dem historischen Vorbild für Dracula, angestellt haben. Rossi war bei seinen Recherchen auf das Mysterium der letzten Ruhestätte und der sterblichen Überreste von Vlad Tepes gestoßen. Als Rossi bei dem Versuch, dieses Mysterium zu klären, verschwand, begab sich Paul mit Rossis Tochter Helen auf die Suche nach seinem Mentor, indem er dessen Recherchen fortführte. Zwanzig Jahre später wiederholt sich die Geschichte. Paul verschwindet auf mysteriöse Weise, woraufhin sich seine Tochter, die Erzählerin, auf die Suche nach ihm und damit auch nach der Wahrheit hinter dem Mythos Dracula begibt.
Elizabeth Kostova verknüpft in ihrem Schauerroman historische Fakten und Fiktion mit einer Prise Phantastik. Die drei Zeitebenen der Handlung, die 30er, 50er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, sind kunstvoll miteinander verwoben, allerdings nicht immer explizit kenntlich gemacht, wodurch eine hohe Aufmerksamkeit des Lesers gefordert wird. Legende und Mythos von Dracula entfalten sich durch Briefe, Archivmaterial und andere Dokumente, die uns Einblick in 500 Jahre südosteuropäischer Geschichte verschaffen. Auf der Suche nach Dracula führt uns die Autorin zu zahllosen Schauplätzen zwischen Südfrankreich und Rumänien, die sie sehr liebevoll beschreibt.
Die Suche nach Dracula ist zwar Leitmotiv für die Handlung des Romans, das eigentlich bewegende Motiv ist aber die Suche eines Mädchens nach ihrer Herkunft, ihrer Familiengeschichte und damit auch zu den Hintergründen ihrer Beziehung zum Vater. Sehr schön fand ich dabei auch die Überlegungen der Autorin zu Geschichte und ihrer Bedeutung für den Menschen. Den Charakteren des Romans ist es gemeinsam, von einer akademischen Wissbegierde getrieben zu sein und ein unstillbares Interesse an Geschichte und menschlicher Kultur zu haben.
Elizabeth Kostova schafft in ihrem Roman eindeutige Beziehungen zu Bram Stokers Dracula, es gelingt ihr aber, sich über die historische Figur Vlad Tepes deutlich von der romantisierten Darstellung des Dracula nach Stoker zu distanzieren. „Der Historiker" ist weder ein Horrorroman noch ein nervenzerreißender Thriller sondern ein sehr gut erzählter klassischer Schauerroman mit subtilem Spannungsaufbau, der atmospärisch dicht ist und eher zu sanftem Grusel führt. Leider wird der Roman, wie ich mittlerweile feststellen musste, als Thriller vermarktet und in die Nähe von Dan Brown gerückt, womit m. E. bei den Lesern vollkommen falsche Erwartungen erzeugt werden. Wer Vampirromane à la Anne Rice liebt, wird enttäuscht sein; wer Spannung à la Dan Brown in schlichter Erzählweise favorisiert, wird mit „Der Historiker" wohl auch nicht glücklich sein.
„Der Historiker" ist sowohl in seinen Reisebeschreibungen als auch historischen Elementen äußerst detailverliebt erzählt, was hervorragend zur akribischen Arbeit der Protagonisten passt. Hervorstechend ist die elegante, flüssige Sprache der Autorin, deren Stil nicht nur wegen der Liebe zum Detail sondern auch in der sprachlichen Gestaltung ein wenig an Charles Dickens erinnert. Positiv hervorzuheben ist hier auch die Leistung des Übersetzers Werner Löcher-Lawrence.
Trotz einiger logischer Fehlerchen und Ungereimtheiten, trotz einer etwas schnell erzählten Pointe, habe ich diesen Roman sehr genossen und habe den Buchdeckel nach 832 Seiten mit großem Bedauern geschlossen, weil der Roman „schon" zu Ende war. Das Finale des Romans mag etwas fragwürdig sein, es stellte mich aber mehr zufrieden als manch anderes denkbare Ende. Ausnahmsweise fand ich es sogar angenehm keine Abgrenzung zwischen historischen Fakten und Fiktion geliefert zu bekommen, sondern habe es genossen, dies im Dunkeln bleiben zu lassen.
Mein Fazit: „Der Historiker" ist ein wunderbarer, langsamer und origineller Schauerroman in eleganter Sprache wie geschaffen für neblige Herbst- und Winterabende.
Interessante Links:
- Homepage zum Buch
- Vlad Tepes bei Wikipedia
- Bram Stoker bei Wikipedia
Extra für die Eulen:
Die Filmrecht wurden lt. diverser Beiträge im Web bereits an Sony Pictures verkauft. Das wird dann wohl ein Road-Movie der besonderen Art. Ich werde mir den Film aber ganz sicher nicht anschauen, da ich mir nicht vorstellen kann, daß der Film den besonderen Reiz des Romans, der sich aus der Sprache erschließt, umsetzen kann.
Der Roman hat mich so gut unterhalten, daß ich trotz kleiner Schwächen die volle Punktzahl vergebe.
Bye
Pelican
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