Anstrengend, aber sehr, sehr lesenswert
Im Jahr 1979 zieht eine knapp fünfundzwanzigjährige Frau (mit den Initialen „S. H.“) nach New York, weil sie Schriftstellerin werden und dort Motive und Figuren für ihren ersten Roman sammeln will. Im Jahr 2017 erinnert sich die zweiundsiebzig Jahre alte S. H. an jene Zeit. Dabei helfen ihr lange und sehr ausführliche Tagebucheinträge von damals, die die junge S. H. in ein Mead-Heft geschrieben und an „Liebe Seite“ adressiert hatte. Die dritte Textebene stellen Fragmente aus jenem Kriminalroman dar, an dem die junge Autorin gearbeitet hat. Es gibt auch noch eine vierte, denn Damals-S.H., die den Spitznamen „Minnesota“ trug, konnte durch die dünnen Wände ihres schäbigen Appartementhauses hören, was eine Nachbarin namens Lucy Brite von sich gab. Sie begann, auch das akribisch aufzuzeichnen, was etwas einfacher wurde, als sie ein Stethoskop zur Hilfe nahm und aus dem unfreiwilligen Zuhören ein aktives Belauschen wurde. Als es in S.H.s Wohnung zu einem dramatischen Vorfall kommt, greift die bislang unbekannte Nachbarin beherzt ein, und es stellt sich heraus, dass die Vermutungen nur marginal mit den Tatsachen korrelierten – was keinesfalls bedeutet, dass die Spekulationen ein Ende haben.
Fast fünfzig Jahre nach den Geschehnissen versucht die Gegenwartsfigur, die Lücken zu füllen, die die Notizen lassen, zu interpretieren, was tatsächlich geschehen ist, und sich dem vergangenen Ich zu nähern, es zu verstehen, auch zu kritisieren, es mit dem Gegenwarts-Ich zu vergleichen. Es geht aber vor allem um Rollen, um Klischees und um patriarchalische Strukturen allüberall, in den Familien, in der Kunst, in der Bildung, in der Wirtschaft, der Wissenschaft und in allen sozialen Teilsystemen. Die junge S.H. wird bereits vom eigenen Vater auf ihr vermeintlich geschlechtsverursachtes Schicksal reduziert, und wie gebildet und kultiviert das Umfeld auch sein mag – eine attraktive junge Frau wird vor allem anderem als attraktive junge Frau wahrgenommen und behandelt, was letztlich auch die Selbstwahrnehmung stark beeinflusst, da es unmöglich scheint, sich dem zu entziehen, wenn man denn ein Sozialleben haben möchte.
Neben dem bei Hustvedt jederzeit präsenten Thema Misogynie reflektiert die Autorin einen wesentlichen Abschnitt der eigenen Historie, stellt ihrem vergangenen Ich kritische Fragen, aber vor allem der Gesellschaft, die sich zum Zeitpunkt der Niederschrift nach acht Jahren Obama soeben anschickt, den organenen Donald zum Präsidenten zu küren, also eine Ikone der Rückwärtsgewandtheit, eine Symbolfigur vor allem für jene, die sich die „guten“ alten Zeiten zurückwünschen, und damit auch eine Welt der klareren (und für sie selbst vorteilhaften) Rollenverteilung.
Wie immer bei Siri Hustvedt ist die Lektüre, die mit klugen Verweisen gespickt ist und voraussetzt, dass man entweder ebenfalls alles (einzuordnen) weiß oder (wie in meinem Fall) dazu bereit ist, sie zu unterbrechen, um Quellenforschung zu betreiben, vor allem Arbeit. Es ist eine Arbeit, die sich lohnt, die nachdenklich stimmt, die anregt, sich und das Umfeld und die Gesellschaft noch kritischer zu betrachten, aber diese Arbeit ist manchmal auch ein bisschen langweilig, wie ich zugeben muss, und nicht immer ist erkennbar, welchen Zweck die Autorin im Sinn hatte, als sie niederschrieb, was sie niederzuschreiben müssen meinte. Der nach meinem Gefühl zu lang geratene Text ist auch kein „Roman“, wie das verschämte kleine Wort unten am Rand des Covers suggeriert, sondern eine Collage und ein Gewebe, oft sogar dicht am Sachtext, und illustriert mit Zeichnungen aus Hustvedts Feder. „Damals“ ist aber auch ein im besten Sinne sehr leidenschaftliches Buch, gewürzt mit einer Prise Melancholie. Hustvedt zieht Bilanz, nicht nur in Bezug auf sich selbst, und kommt dabei nicht nur zu guten Ergebnissen.
Notiz an mich selbst: Ich muss endlich was von Djuna Barnes lesen.
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ASIN/ISBN: 3498030418 |