2023 war für mich sowas wie ein David Mitchell-Jahr. Nachdem ich vor einigen Jahren von ihm “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet” gelesen habe, habe ich 2023 zunächst “Die Knochenuhren” gelesen (brillant), anschließend “Der Wolkenatlas” und dann eben “Slade House”.
David Mitchells Werk hat einen starken inneren Zusammenhang. Seine Romane spielen in einer phantastischen Welt, in der er etwas erzählt, was er selbst ‘a sort of sprawling macronovel’ nennt. Diese phantastische Welt tritt zuweilen deutlich in den Vordergrund (Slade House, Knochenuhren), manchmal ist sie aber auch so stark im Hintergrund, dass sich ihr Vorhandensein erst erschließt, wenn man weitere Bücher von ihm kennt (z.B. in “Die tausend Herbste des Jacob de Zoet”).
Er lässt sich keinem Genre zuordnen, in gewisser Weise müsste man jedes seiner Bücher unter Phantastik einordnen, auch die Romane, bei denen das nicht der Fall zu sein scheint, wie 'Die tausend Herbste des Jacob de Zoet' oder sicherlich auch 'Utopia Avenue'. Andere, bei denen der phantastische Anteil größer ist, z.B. Knochenuhren, spielen dennoch überwiegend und überzeugend in unserer realen Welt. Er lässt sich auch deswegen keinem Genre zuordnen, weil er gerne auch innerhalb eines Buches zwischen verschiedenen Genres wechselt, indem er eine übergreifende Geschichte in verschiedenen Genres aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Besonders gelungen ist das aus meiner Sicht in Knochenuhren, dem Roman in dem Holly Sykes den Fixpunkt des Romans bildet. Knochenuhren wird erzählt in folgenden 6 Teilen/Genres chronologisch im Kontext von Holly Sykes (also wiederum anders als in Wolkenatlas wo Zeit/Raum/Perspektive symmetrisch um den Mittelpunkt des Romans gespiegelt wurde):
- Coming of age aus der Perspektive von Holly Sykes in ihrer Jugend
- Elitärer Campusroman aus der Perspektive des intelligenten und bösartigen Hugo Lamb, der sich in Holly verliebt
- Kriegsreportage aus der Perspektive des Ehemanns von Holly (Irak-Krieg)
- Literaturroman aus der Perspektive des Schriftstellers Crispin Hershey, der mit Holly befreundet ist (in dem es viel um den Literaturbetrieb geht)
- Fantasy
- Dystopische Science-Fiction
In den ersten 4 Teilen bricht dabei immer auch mal die phantastische Welt kurz ein, wird aber immer wieder von den Protagonisten verdrängt.
Mitchells Stärke scheint mir bei Knochenuhren vor allem in den literarischen Formaten Campusroman und Literaturroman zu liegen, wenn die Perspektive eine höchst intelligente Stimme erfordert. Z.B. die Art, wie Mitchell Crispin Hersheys Kindheit auf gerade mal 1,5 Seiten skizziert, hat mich völlig umgehauen in ihrer brillanten Kunstfertigkeit. Mitchell kann aus meiner Perspektive literarisch eigentlich alles was er will, er scheint grenzenlose Möglichkeiten zu haben. Dennoch ist es eine Art Hass-Liebe die ich zu seinen Büchern empfinde, es ist mir manchmal einfach zu viel Kunst, es ist wie ein Musiker, der in seiner ganzen Virtuosität den Raum vergisst, um das Ganze auch mal wirken zu lassen. Vermutlich kann ich ihm zu oft einfach nicht mehr folgen…
Aus meiner Sicht schwächelt Mitchell dabei leider ausgerechnet in den Genre-Teilen Fantasy und Science-Fiction. Dabei ist Fantasy die eigentliche Wurzel seines kreativen Schaffens, so nennt er Ursula K. Le Guins ‘Magier von Erdsee' als wesentlich für seine Motivation Schriftsteller zu werden und liest nach eigenen Angaben regelmäßig diesen Roman erneut (https://www.theguardian.com/bo…-tolkien-george-rr-martin). Deswegen gehörte zu meinem ‘Mitchell-Jahr’ auch ‘Der Magier von Erdsee’, den ich selbst zwar als kunstvoll, aber doch recht altbacken erlebt habe.
Und damit komme ich endlich zum Slade House - wenn man erst mehrere Mitchells gelesen hat, macht es eigentlich keinen Sinn mehr, die Bücher unabhängig voneinander zu betrachten und Knochenuhren scheint mir - von denen die ich gelesen habe - das Buch zu sein, das am meisten Licht auf diese Macronovel wirft, die Mitchell erzählt. Knochenuhren und manche Zitate aus anderen Büchern, z.B. aus Number9Dream: “Dreams are shores where the ocean of spirits meets the land of matter. Dreams are beaches where the yet-to-be, the-once-were, the-will-never walk awhile with the still are.”
Knochenuhren ist allerdings noch enger mit Slade House verknüpft, denn Slade House ist entstanden aus Ideen, die in Knochenuhren nicht verwendet worden sind. Diese Ideen hat Mitchell in einem Twitter-Projekt in einer Folge von 280 tweets noch vor der Veröffentlichung von Knochenuhren erzählt. Ein Tweet hat dabei maximal die Länge von 140 Zeichen. Um einschätzen zu können, wie viel da rein passt, hier ein Tweet von David Mitchell 2016: Afternoon, all. SLADE HOUSE is out today in paperback. Escape from Brexit fallout thru the small black iron door. What cld go wrong?
Dieses Twitter-Projekt wiederum wurde umgearbeitet zum ersten Teil von Slade House.
Diese Fragmentierung in Tweets passt wunderbar zu David Mitchells fraktaler Erzählweise. Eigentlich ist es eine natürliche Sache, diese Zusammenstellung von Wörtern zu Sätzen zu Absätzen, zu Geschichten. Natürlich ist es ein Unterschied, ob Schriftsteller dabei tatsächlich aus Buchstaben und Wörtern immer wieder etwas Neues erschaffen oder ob sie aus den Klischees des Mainstream schöpfen. David Mitchell stellt fraktales Erzählen in den Mittelpunkt seiner Romane. Im Kleinen - wie in diesem Fall besonders augenfällig bei den Tweets der Vorabversion von Slade House - wie im Großen. Wer ein einzelnes Buch von ihm liest, wird es tatsächlich ganz anders lesen, eine ganz andere Sicht auf die Personen haben, als andere, die bereits ein anderes Buch von ihm gelesen haben. Es setzt sich alles immer wieder zu einem neuen Bild zusammen.
Slade House ist eigentlich ein klassischer Spukhausroman. Ich ordne ihn dennoch hier mal unter 'Zeitgenössisch' ein, weil er mit den anderen Romanen von Mitchell, den zumeist als zeitgenössisch empfundenen, eng verbunden ist. Aber zum einen eben eingebettet in diese Mitchellsche Macronovel - mit besonderer Nähe zu Knochenuhren - und zum anderen folgt er auch dieser für Mitchell typischen Fragmentierung in Episoden aus unterschiedlichen Perspektiven mit einem gemeinsamen Fixpunkt. In diesem Fall eben eine kleine schwarze Tür zu diesem Spukhaus, die nur alle 9 Jahre ganz kurz auftaucht. Ein winziger Punkt in Zeit und Raum, ein einzelner Tropfen in einem grenzenlosen Ozean…
Erzählt werden 5 Episoden in denen unterschiedliche Menschen diesem Eingang begegnen. Wie aus anderen Romanen gewohnt, prägen hierbei die einzelnen Personen stark die von Mitchell verwendete Erzählweise. Es beginnt mit Nathan Bishop, einem Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung und seiner Mutter.
Hier wie die Geschichte tatsächlich auf Twitter veröffentlich wurde, alle 280 Tweets:
https://www.theguardian.com/bo…hells-twitter-short-storyUnd hier David Mitchell zur Entstehung von Slade House: