Lis wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Sehe nur ich dabei diesen Schmierfink Julian R. vor meinem geistigen Auge? Möchte ich mit so jemand verheiratet sein? Selbst ohne diesen expliziten Skandal lädt man an der Seite so eines Mannes „eine Art von Schuld“ auf sich, auch wenn man keine Ahnung von Übergriffen etc. hat. Doch allein der Job als Schmutzfink bei einem Lügenblatt macht so jemanden zu einer Art von Täter und wenn man an seiner Seite ist, respektiert/akzeptiert oder zumindest duldet/toleriert man, dass der Partner durch seine Arbeit viel Schmutz produziert, der Menschen verletzt und manchmal sogar ruiniert.
Allerdings konnte ich hier die Vorwürfe, sie wäre nur Goldgräberin, die von ihrem Ex profitiert hat und sich nun den nächsten Kerl sofort angelt, nicht nachvollziehen. Allerdings fände ich die Frage, wie in einem umgekehrten Fall mit einem Mann verfahren worden wäre, sehr interessant zu beleuchten. Lis' Fehler war es einfach, zu lange die Vorteile ihres privilegierten Daseins zu genießen und dabei die Augen gegenüber ihrer Umwelt geschlossen zu lassen. Sicher, die Taten hat ihr Mann beganngen, aber sie hat sehr lange einfach weggesehen und -gehört. Schuld hat sie damit juristisch nicht auf sich geladen, aber dass sie eine moralische Schuld empfindet, kann ich gut nachvollziehen. Und ehrlich gesagt spricht es auch für sie, dass sie so empfindet und sich nicht einfach nur schüttelt und denkt „fort mit Schaden“.
Das Kästchen mit den Papieren... ja, so erklärt sich Lenes Härte, auch gegenüber Gisela. Dabei kann das Kind ja nichts dafür. Wen sollte man hassen? Elias vielleicht, der hatte ja sicher so eine Ahnung, dass er keine Konfirmanden über die „Rattenlinie“ schleust. Der Verdacht auf Nazis oder Kriegsverbrecher lag schon nahe. Sehr gut gefallen hat mir hier, dass der Prolog noch einmal aufgegriffen wurde und die doch sehr harte Szene so in einen zeitlichen Kontext gesetzt wurde. Das hat gut gepasst.
Aber schwierig: Lene konnte anscheinend weder Elias noch sich selbst verzeihen, und ihrer Tochter Gisela anscheinend auch nicht. Eine traurige Geschichte, die lange Schatten geworfen hat. Ob und wieviel Gisela wohl selbst davon weiß? Ist es in so einem Fall besser zu wissen, welchen Grund die Ablehnung hat oder nicht? Auch das finde ich eine schwierige Frage: weiß man es, kann man ja argumentieren, dass man doch selbst nichts dafür kann, die Tochter eines Schweins zu sein. Weiß man es nicht, fragt man sich, was man falsch gemacht hat, dass man nicht so von den Eltern geliebt wird, wie man es sollte...
Ich denke, Elias war darüber schockiert, was für ein Monster er da ins Haus gelassen hat. Und vermutlich dachte er sich, besser Lene erfährt es von ihm als jemand anderem. Wäre es so gewesen, hätte sie ihn sicher gefragt, ob er es gewußt hätte und eine Lüge hätte sie garantiert als solche erkannt.
Vermutlich ahnte er, dass hier die Flucht nach vorne immer noch besser ist als ein (trügerischer) Zeitgewinn durchs Verheimlichen der Schlagzeile. Alles kommt
irgendwann ans Tageslicht.
Die finale Aufklärung ging mir ein klein wenig zu glatt vonstatten: Laden an Saskia übergeben, Befreiungsinterview und gut ist. Da hätte ich mir ein wenig mehr Ausführlichkeit gewünscht. Dafür, wie sehr und wie lange Lis unter dem Prozeß und seinen Folgen gelitten hat, wurde mir das ein wenig zu hektisch abgenudelt.
Und ganz ehrlich: Marco spielt so eine kleine Rolle im Buch – den hätte ich gar nicht gebraucht. Auch ohne ihn war für mich sehr gut erkennbar, dass Anna eine toughe Frau ist, die alleine sehr gut klarkommt – aber eben auch keine typische Einzelgängerin ist.
Nichtsdestotrotz hat mir das Buch wirklich sehr gut gefallen und ich bedanke mich sowohl bei Nicole Wellemin bei der Leserundenbegleitung als auch beim Verlag für das Gratisexemplar, das einen Platz in meinem Regal finden darf (und wer mich kennt, weiß, dass bei mir aus Platzgründen nur wenige Bücher nach der Lektüre bleiben dürfen).