Der Zeitgeist und die Bücher oder ist das Zensur?

  • Die Frage bleibt, wer über die Legitimität urteilt …

    Dazu hatte ich schon geschrieben, dass das der Verlag sein könnte, in dessen Namen etwas publiziert wird.

    Die Entscheidung kommt dann entweder freiwillig, aufgrund öffentlichen Drucks, aus rechtlichen Erwägungen oder aufgrund eines vorauseilenden Gehorsams zustande.


    Aber letztlich darf jeder Einzelne für sich selbst über die Legitimität urteilen und daraus seine Handlungen und Konsequenzen ableiten. SiCollier kauft ein Buch nicht, in dem gegendert wird und ich kaufe ein Buch eventuell aus anderen Gründen nicht.

  • Dann lieber verzichten, ab damit in den Giftschrank, auf den Index oder unter den Tresen.

    :gruebel Wäre es dann nicht besser, einfach eine "Triggerwarnung" vorne drauf zu pappen und es ansonsten im ursprünglichen Zustand zu lassen?

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Wäre es dann nicht besser, einfach eine "Triggerwarnung" vorne drauf zu pappen und es ansonsten im ursprünglichen Zustand zu lassen?

    So, wie es z.B. der WDR mit alten Harald-Schmidt-Shows, aber auch mit einigen Folgen von "Ein Herz und eine Seele" gemacht hat? "Wir finden das scheiße, was wir gleich zeigen, aber wir zeigen's trotzdem"? Nee, dann lieber ehrlich werden/sein/bleiben und der selbstgesetzten pädagogischen Maxime konsequent folgen.

  • So, wie es z.B. der WDR mit alten Harald-Schmidt-Shows, aber auch mit einigen Folgen von "Ein Herz und eine Seele" gemacht hat? "Wir finden das scheiße, was wir gleich zeigen, aber wir zeigen's trotzdem"? Nee, dann lieber ehrlich werden/sein/bleiben und der selbstgesetzten pädagogischen Maxime konsequent folgen.

    Dergleichen würde das kulturelle Angebot aber schon erheblich verknappen.

    Außerdem erhält alles, was verboten wird, seinen ganz eigenen Reiz ;)

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Ich hab die ganze Zeit mitgelesen und mir meine eigenen Gedanken dazu gemacht und kann jetzt sagen: Nein, für mich hat das überhaupt nichts mit Zensur zu tun, wenn Bücher behutsam (!) an die heutige Zeit angepasst werden. Heißt: einzelne Wörter oder Szenen ersetzen, natürlich keine ganzen Kapitel umschreiben.


    Interessanterweise entzündet sich diese Debatte immer nur an bestimmten Begriffen. Wenn Wörter, die heute nicht mehr gebräuchlich, ja zum Teil (gerade für Kinder) unverständlich sind, angepasst werden, interessiert das niemanden (in dem von Breumel verlinkten Beitrag gibts ein paar schöne Beispiele). Ist das nicht ein Messen mit zweierlei Maß?


    Weil irgendwo auf den vergangenen 11 Seiten der Wunsch nach verschiedenen Ausgaben aufkam: die gibts doch! Auch wenn die kleine Hexe heute verändert erscheint, sind (wahrscheinlich fast) alle x-Ausgaben der vergangenen Jahrzehnte immer noch erhältlich. Wer es also im Original oder in der Ausgabe von 1973 (Jahreszahl völlig aus der Luft gegriffen) lesen möchte - bitte gerne! Ist wahrscheinlich mit ein bisschen Aufwand verbunden, aber wen es interessiert, der findet in den meisten Fällen sicher die passende Ausgabe.


    Und noch ein Gedanke: Klassiker aus anderen Sprachen werden immer wieder neuübersetzt. Und dabei (natürlich) auch an heutige Sprachgewohnheiten angepasst. Großer Aufschrei? Zumindest mir nicht bekannt.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Wobei die Übersetzungen nur teilweise gemacht werden, um die Sprache anzupassen. Häufig hängt es auch einfach an den Rechten. Nur weil ein Verlag das Recht hat, eine deutsche Version von einem Buch herauszubringen, hat er noch nicht automatisch das Recht an den bereits getätigten Übersetzungen.


    Tatsächlich hat es mich schon bei Übersetzungen gestört, dass die Sprache viel moderner wirkt als im Original. Und die Diskussion um die verschiedenen Übersetzungen von Der Herr der Ringe tobt ja schon seit langem.

  • Empfinde ich auch so.


    https://www.fr.de/panorama/bip…de-erben-zr-92850956.html


    "Es sind sehr punktuelle und behutsame Änderungen, die wir vorgenommen haben“, sagt Verlagsleiterin Bärbel Dorweiler der Zeit. „Wir haben das N-Wort, das an einer Stelle im Buch vorkam, gestrichen. Jims schwarze Hautfarbe wird nicht mehr zu Lukas schmutziger weißer Haut in Beziehung gesetzt, und andere stereotype Beschreibungen sind reduziert worden.“


    "Die Änderungen seien in Absprache mit den Erben von Autor Michael Ende und Illustrator F.J. Tripp gemacht wurden. Der Verlag selbst sagt: „Wir sind sicher, damit ganz im Sinne von Michael Ende, der bekanntermaßen weltoffen, respektvoll und immer für die Kinder war, zu handeln.“ Die Neuausgabe erscheint damit in einer Zeit, in der Rechtsextremismus vom Verfassungsschutz als große Gefahr eingeordnet wird und Spitzenpolitiker zum Kampf gegen Rassismus aufrufen."


    "Die Ausgaben von Jim Knopf mit den ursprünglichen schwarz-weißen Original-Illustrationen seien unverändert lieferbar, so der Verlag. Sie würden zukünftig ein einordnendes Nachwort enthalten."


    Finde ich gut erklärt in diesem Artikel. Und wer will, kann die Neger-Bücher sogar noch kaufen. Wozu die ganze Aufregung.

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

  • Interessanterweise entzündet sich diese Debatte immer nur an bestimmten Begriffen.

    Inwiefern ist das "interessant"?


    Der Begriff "Zensur" ist immer so naheliegend, weil es auch nur wenige sinnvolle Termini in dieser Bedeutungswolke gibt. Natürlich ist es keine Zensur, wenn vermeintlich gewarnt oder Texte flurbereinigt werden. Zensur ist die instantiierte, staatliche Kontrolle dessen, was veröffentlicht werden darf und was nicht - und auch noch, in welchem Wortlaut.


    Noch einmal. Jemand hat einen Text verfasst, vor Jahren und Jahrzehnten, und jetzt kommt jemand daher und sagt: So geht das nicht mehr. Wir können den Text in dieser Form nicht mehr veröffentlichen. Es ginge nur, wenn wir ihn ändern, wenn wir in die ursprüngliche geistige Leistung eingreifen (wobei vollständig egal ist, in welchem Umfang das passiert). Diese Veränderung eines Teils des kulturellen Erbes ist in meinen Augen ein schwerwiegender Eingriff. Die Argumente, die ich bislang dafür gehört habe, rechtfertigen ihn in meinen Augen nicht, vor allem, weil es jedem Menschen freisteht, auf den Konsum des Produkts zu verzichten. Aber die Verlagen wollen weiter verdienen, obwohl die Sittenwächter auf den Barrikaden sind. Das ist eigentlich alles, worum es geht.

  • Diese Veränderung eines Teils des kulturellen Erbes ist in meinen Augen ein schwerwiegender Eingriff.

    a) In den oben aufgeführten Beispielen werden diese Eingriffe durch den Verlag in Abstimmung mit den Erben, also mit den aktuellen Rechteinhabern gemacht. Also völlig im Einklang mit den beteiligten Personen.


    b) Die historischen Ausgaben bestehen unverändert, oder wie Du es schreiben würdest unverändert, weiter und neben und zusätzlich zu den Neuauflagen.

  • Auch nö, das sieht das Erbrecht etwas anders. Und der Verlag sagte ja auch „Wir sind sicher, damit ganz im Sinne von Michael Ende, der bekanntermaßen weltoffen, respektvoll und immer für die Kinder war, zu handeln.“


    Aber ich stimme Dir natürlich insofern zu, dass die Neufassungen nicht zum orwellschen Neusprech werden dürfen und der Sprachkorridor so sehr verengt wird, dass keine individuellen Besonderheiten mehr möglich sind.

  • Auch nö, das sieht das Erbrecht etwas anders. Und der Verlag sagte ja auch „Wir sind sicher, damit ganz im Sinne von Michael Ende, der bekanntermaßen weltoffen, respektvoll und immer für die Kinder war, zu handeln.“

    Oh, Du erbst zwar das Urheberrecht, aber nicht die Urheberschaft. Die kann man sich auch nicht aneignen, wenn Werke gemeinfrei werden.


    Und noch eine letzte Anmerkung: All das wäre weit weniger ein Diskussionsgegenstand, wenn es Konsens gäbe, wenn alle oder wenigstens eine überwältigende Mehrheit sagen würde: Okay, gehen wir so mit dem kulturellen Erbe um. Aber diese Bemühungen und, vor allem, die vorausgehenden Forderungen sind ja politisch intendiert, sie sind weltanschaulich. Dabei spielt keine Rolle, ob man den fraglichen Anschauungen folgt oder nicht - das ist in meinen Augen nicht gutzuheißen. Keine Gruppe sollte die Kultur rückwirkend nach ihren Vorstellungen umformen.

  • Oh, Du erbst zwar das Urheberrecht, aber nicht die Urheberschaft. Die kann man sich auch nicht aneignen, wenn Werke gemeinfrei werden.

    Deswegen wird die Urfassung ja auch nicht eingezogen, sondern besteht weiterhin. Und irgendwann 2173 wird dann das Buch "Nachttankstelle" eventuell in einer Neufassung erscheinen müssen, da dann niemand mehr weiß, was eine Tankstelle mal war. Oder aber es verschwindet in der Versenkung und niemand wird sich je daran erinnern, dass es dieses Buch mal gab.

  • da dann niemand mehr weiß, was eine Tankstelle mal war.

    Nö. Weil die Multikoptereltern* der Zukunft Angst davor haben, dass ihre Kinder erfahren, dass es mal Verbrennungsmotoren gab, verbunden mit der Sorge, dass diese dann wünschen, in die fossile Zeit zurückzukehren.


    (*Multikopter oder auch Quadrocopter sind eigentlich falsche Kofferworte. Man denkt, das Wort "Helikopter" wäre aus "Heli" und "kopter" zusammengesetzt, und "Heli" wäre irgendwas mit Luft oder so, dabei geht es um die Helix (Helico) und den Pter, den Flügel, wie in Pterodactylus. Interessant, gell?)

  • Ich habe mal gegoogelt und einen Artikel darüber gefunden, den ich gut finde.

    Ich habe den Artikel gelesen und kann die dortige Argumentation, daß es um "heute nicht mehr verständliche Begriffe" geht, nachvollziehen. Ich meine mich zu entsinnen, daß mir der Begriff "Muhme" schon in meiner Kinderzeit (und die ist einige Jahrzehnte her) nicht geläufig war und ich mir den von meinen Eltern habe erklären lassen.


    Zu dem Thema gibt es dort übrigens auch einen Kommentar von Jaques Schuster .

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Deswegen wird die Urfassung ja auch nicht eingezogen, sondern besteht weiterhin.

    Jo, aber der Verlag, der die Verwertungsrechte hält, druckt nur noch die woke Fassung. Neu kaufen kann man also nur das (vorläufige) Ergebnis des Weichspülgangs.

    Und irgendwann 2173 wird dann das Buch "Nachttankstelle" eventuell in einer Neufassung erscheinen müssen, da dann niemand mehr weiß, was eine Tankstelle mal war.

    Das Beispiel ist nicht so banane, wie es zuerst scheint. Abseits der Tatsache, dass sich viele Verlage mit ihren aktuellen Programmen bemühen, möglichst nicht anzuecken, gibt es auch sehr starke Bemühungen, die Backlists nach sexistischen, ableistischen, trans- oder homophoben Aspekten zu durchleuchten, und dabei geht es nicht notwendigerweise um den Grundtenor der Romane, sondern durchaus auch um einzelne Figuren (es geht dem Antagonistenprinzip also an den Kragen - aber Gegenspieler sind sowieso viel zu unachtsam). Die Verlage werden mit entsprechenden Hinweisen zugeballert, und, wie ich vorher schon erwähnt habe, Leute belagern inzwischen Buchhändler und -innen, und drohen ihnen sogar, wenn sie vermeintlich diskriminierendes Material weiter im Sortiment behalten. Was also mit Rassismus in der Backlist anfängt (und auf die aktuellen Programme längst angewendet wird), endet mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dort. Einige sehr lautstarke Menschen vertreten die Überzeugung, dass die Annahme, es gäbe Geschlechter, Ursache für sehr viele Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen ist, und dass genderneutrales Verhalten das Gebot mindestens der Stunde, auf jeden Fall aber das Nahziel für den gesamten gesellschaftlichen Umgang ist. Wer sich an einigen deutschen Unis nicht genderneutral verhält, kann jetzt schon einiges erleben. Und es ist einfach auch zu erwarten, dass früher oder später die ersten Backlistneutralisierungen vorgenommen werden.


    Übrigens ist das Verständnisargument tatsächlich ziemlich ballaballa. Romane und Erzählungen erzählen von ihrer Zeit. Wer sich damit beschäftigen will, muss damit konfrontiert werden, dass es eben eine andere Zeit war, in jeder Hinsicht. Die modernisierten Fassungen der alten oder gar antiken Erzählungen überlässt man dann den Theatern, wo sie sehr gut aufgehoben sind.