Der Zeitgeist und die Bücher oder ist das Zensur?

  • Aus der anderen Ecke hingegen...

    Das ist fraglos richtig.


    Andererseits erleben wir nicht nur an US-amerikanischen Universitäten - quasi diametral zur politischen Entwicklung des Landes drumherum - eine Art, äh, sanfte Diktatur der Wokeness, die auch europäische Universitäten längst erreicht hat, und die Herabstufungen mit sich bringt, wenn sich Studenten Studierende nicht genderneutral ausdrücken oder verhalten wollen, bei der Seminare zu Safe Spaces ausgerufen werden, in denen bestimmte Themen und Meinungen einfach nicht mehr geäußert werden dürfen, bei der die Lehrpläne und Bibliotheken einer Bereinigung um vermeintlich diskriminierendes Material unterzogen werden usw. usf. Die Linken gießen ordentlich Öl ins Feuer der Rechten. Und weil sie das so kompromissfrei und in der felsenfesten Überzeugung, die alles umfassende Erkenntnis zu besitzen, vor sich her tragen, nimmt es sich in der absolutistischen Konsequenz dann nur noch wenig. Die Gefahr für die Freiheit der Meinung, der Kunst und der Lehre ist zwar nicht ganz die gleiche, aber sehr ähnlich.

  • Das geschieht mit Kinder- und Jugendbüchern. Es ist mit "Pippi Langstrumpf" gemacht worden und derzeit mit "Jim Knopf" in der Mache.

    Mir ist nur bekannt, dass in beiden Büchern der Begriff "Neger" ersetzt wurde. Und das nicht, um die Leserschaft zu beschützen, sondern um den mit diesem Begriff diskiminierten Betroffenen entgegenzukommen.


    Die farbigen Freundinnen meiner Kinder erleben immer noch häufig Alltagsrassismus und teilweise sogar offene Diskriminierung. Solange sowas passiert, sind diese Änderungen ein Tropfen auf dem heißen Stein. Einfach mal die Kommentare in Facebook lesen, wenn in einer Werbekampagne dunkelhäutige Models verwendet werden. Zum Fremdschämen!

    Mir ist schon klar dass dieses "Zensur!" Geschrei ein "Wehret den Anfängen" ist, aber in Anbetracht der echten Diskriminierung und der unzensierten Beleidigungen darf man in Deutschland meiner Meinung nach noch viel zu viel ungestraft sagen. Ja, ich bin für Zensur auf Facebook und Co.! Vor allem, wenn harmlose Bemerkungen zu Sperren führen, aber rassistische Kommentare brauner Dumpfbacken nicht entfernt werden.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Die farbigen Freundinnen meiner Kinder erleben immer noch häufig Alltagsrassismus und teilweise sogar offene Diskriminierung.

    Nicht nur die farbigen Freundinnen Deiner Kinder. Fast alle nichtweißen Menschen in fast allen europäischen und nordamerikanischen Menschen erleben ständig Rassismus. Das ist nichts, was nur den Freundinnen Deiner Kinder passiert.


    Und dass die Kommentare bei Facebook und anderswo überwiegend von Vollhonks oder von Leuten kommen, die mit der Anonymität und Freiheit nicht umzugehen wissen, hat in direkter Weise nicht viel mit dem Problem zu tun. Die meisten Menschen sind Arschlöcher, wenn sie sich unbeobachtet oder sicher fühlen, und die ganz besonders großen Arschlöcher lockt social media besonders an.


    Es ist kein "Zensur"-Geschrei. Es ist ein Prozess, der kulturelles Erbe einer zeitgeistlichen Anpassung unterzieht, und es geht dabei um die Frage, was wichtiger ist - der Zeitgeist oder das kulturelle Erbe, so scheiße es auch im Einzelfall sein mag, wenigstens teilweise.


    Und wenn Du schon mit persönlichen Erfahrungen kommst, die übrigens nicht evident sind. Einer meiner besten Freunde ist vor fünfzig Jahren aus Südafrika nach Deutschland gekommen, und was der während dieser fünf Jahrzehnte an Rassismus auszuhalten hatte, geht auf keine Kuhhaut. Aber wenn der Begriff "Neger" in einem alten Text verwendet wird - oder auch in einem neuen, der von der Vergangenheit erzählt oder vom Rassismus in der Jetztzeit -, dann kratzt ihn das nicht. Eher im Gegenteil. Der Terminus steht für etwas. (Edit: Aber von jemandem so bezeichnet werden, das will er natürlich nicht, um es noch vorsichtig auszudrücken.)

  • So ein Buch habe ich noch nie gelesen, ...


    Nun ja, zum Einen hat Tom schon auf Jim Knopf und Pippi Langstrumpf hingewiesen, zum Anderen war genau dieses "Umschreiben" der Anlaß für mich, diesen Thread zu eröffnen. Weil es eben gerade passiert (mit Jim Knopf).


    Da ich es nicht besser formulieren kann, hier dieses Zitat:

    Es ist kein "Zensur"-Geschrei. Es ist ein Prozess, der kulturelles Erbe einer zeitgeistlichen Anpassung unterzieht, und es geht dabei um die Frage, was wichtiger ist - der Zeitgeist oder das kulturelle Erbe, (...)

    Das ist genau das, was ich eigentlich meine. Und wenn sich der Zeitgeist in einigen Jahren/Jahrzehnten wieder mal ändert, werden auch die Bücher wieder auf den dann herrschenden Zeitgeist umgeschrieben. Am Ende sind vom Originalwerk nur noch Autor und Titel übrig. Ist das wirklich so erstrebenswert?

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Das ist genau das, was ich eigentlich meine. Und wenn sich der Zeitgeist in einigen Jahren/Jahrzehnten wieder mal ändert, werden auch die Bücher wieder auf den dann herrschenden Zeitgeist umgeschrieben. Am Ende sind vom Originalwerk nur noch Autor und Titel übrig. Ist das wirklich so erstrebenswert?

    Es ist EIN Begriff angepasst worden. Meinetwegen auch gestrichen. Aber deshalb zu befürchten, dass irgendwann die Werke so stark angepasst werden, dass das Original unkenntlich gemacht wurde, ist meiner Meinung nach vollkommen übertrieben. Ob da nun Negerkönig oder Inselkönig oder Häuptling oder etwas ähnliches steht, ändert am Inhalt des Werks meiner Meinung nach nicht das geringste, es ist lediglich respektvoller.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • Es ist EIN Begriff angepasst worden.

    Nö, da ist schon noch ein bisschen mehr passiert. ;)


    ändert am Inhalt des Werks meiner Meinung nach nicht das geringste, es ist lediglich respektvoller.

    Das ist eine Behauptung, der man widersprechen kann. Mal davon abgesehen, dass "Respekt" durchaus eine wandlungsfähige Maxime ist, haben die Begriffe, wie sie im Original verwendet wurden, auch über Konnotationen und Implikationen verfügt, und die Respektimpfung hat das verändert. Aber der Vorgang ist auch schon 2009 initiiert worden, und seither ist, von den plakativen Vorgängen abgesehen, noch eine Menge passiert. Wir haben das schon in anderen Threads diskutiert. Verlage betreiben Vollzeitstellen, um dem Ansturm von Mails und Anrufen zu bewältigen, bei dem es um vermeintlich diskriminierende Inhalte geht, und meistens wird schnell und diskret reagiert - es wird einfach gestrichen, geändert, zurückgezogen, zurückgehalten. Aber es ist ja inzwischen auch schon so, dass Leute in Buchhandlungen gehen, Bücher aus den Regalen zerren und zu Boden werfen (oder gekaufte Bücher eine halbe Stunde später zurückbringen), während sie die Betreiber dazu auffordern, das Material aus dem Sortiment zu nehmen, weil es sexistisch, ableistisch, rassistisch oder in anderer Weise diskriminierend sein kann, und die Ziele dieser Aktionen reichen vom Gesamtwerk von Philip Roth bis hin zu sämtlichen (!) Kinderbüchern, die nicht in der Hauptsache erkennbar divers, achtsam und inklusiv sind. Ich bin mit einer Kinderbuchverlegerin befreundet, die könnte Dir stundenlang von den Aktionen dieser Leute erzählen, und davon, wie schwierig es inzwischen ist, Kinderbücher zu verlegen, die nicht den woken Anforderungen der aktuellen Helikoptergeneration entsprechen. Der Pippi-Langstrumpf-Quatsch war nur einer der Meilensteine, aber das ist schon wieder fast 15 Jahre her. Inzwischen ist da einiges mehr passiert, und vieles passiert einfach überhaupt nicht mehr, weil vorauseilender Gehorsam einfacher ist.


    Und, nein, das ist kein Geschrei. Das ist ziemlich sanftes Entsetzen. (Edit: Auch über Leute, die diese Vorgänge verteidigen, und das aus einer zumeist leider ziemlich egozentrischen Perspektive.)

  • Die Linken gießen ordentlich Öl ins Feuer der Rechten.

    Ja, Gedanken in der Richtung habe ich auch immer mal wieder. Mich treibt dabei weniger das Öl im Feuer der Rechten um, als die Verschiebung der politisch in der Mitte stehenden Wähler, die typischerweise darüber entscheiden, wie regiert wird. Bei z.B. Eingriffen in die Sprache scheint mir klar, in welche Richtung das viele treiben wird.
    Ich wüsste aber nicht, wie man damit die anscheinend steigende Sehnsucht nach einer 'starken autokratischen' Hand erklären kann. Mir ist da 'Das kleinere Übel' als Motivation nicht ausreichend. Denn es ist ja offensichtlich nicht das kleinere Übel.

    Die Gefahr für die Freiheit der Meinung, der Kunst und der Lehre ist zwar nicht ganz die gleiche, aber sehr ähnlich.

    Wenn sich dieses Denken tatsächlich in entsprechenden Gesetzen niederschlagen würde: Ja.
    Es ist aber zum Glück nicht der digitale Heugabelmob, der die Gesetze festlegt.
    Tatsächlich ist es hier in Deutschland eine recht überalterte Gesellschaft, die die Mehrheit der Wahlstimmen in der Hand hält. Entsprechend habe ich Vorschläge für irgendwelche Gesetze in der Richtung bisher nur aus der rechten Ecke gehört. Um z.B. Gendern zu verbieten.
    Und ja es gibt auch die andere Seite, z.B. Verwaltungen oder Firmen, die das Gendern einführen. Aus meiner Sicht führt das zum Gegenteil von dem, was Gendern möchte: Es wird zur Amtssprache. Bedeutungslose Syntax statt Semantik.

    Die Belletristik hingegen...

    Nicht nur bzgl. der Sprache, auch bzgl. der Inhalte. Abseits des Mainstreams wird das gelesen werden, was eine Bedeutung hat, was provoziert, was neue Gedanken aufwirft.


    Und auch drüben in den USA scheint mir das Hauptproblem der Demokraten nicht der woke Geist an den Unis, sondern vielmehr dass sie einen Präsidentschaftskandidaten haben, der im Gegensatz zum republikanischen MAGA-Trump zwar immerhin nicht der 'Boomer'-Generation angehört, aber aus den falschen Gründen...
    Da spielt das sonstige Öl, das beide Seiten fleißig in die jeweiligen Feuer schütten, keine große Rolle mehr. Fürchte ich.

  • Aber ich bin abgeschweift...

    Zum Thema:
    Auch ich habe mich seinerzeit darüber geärgert, dass Roald Dahls Kinderbücher - ausgerechnet Roald Dahl - abgeändert wurden. Ich habe ihn als Kind und auch später gerade deswegen gerne gelesen, weil er Kinder eben nicht beschützen möchte, sondern sie ernst nimmt. Er erzählt ihnen Geschichten auf Augenhöhe. Traut ihnen was zu.
    Und ein Teil dieses Zutrauens in die Kinder, selbst die Welt zu erleben und selbst zu urteilen, wurde tatsächlich aus den Büchern entfernt.


    Andererseits: Wenn Dahls Bücher sich dadurch besser verkaufen, mehr Kinder einen Dahl statt irgendwelcher langweiligen Blaupausenware mit 'EsDarfAberNichtsSchlimmesPassieren'-Story lesen. Hmmm...
    Es entscheidet dann eben doch der Markt.

  • Die geänderten Kinderbuchklassiker hatte ich tatsächlich nie in der Hand. Mein Mann und ich sind beide als Kinder schon Vielleser gewesen, insofern waren die Kinderbuchklassiker hier sowieso vorhanden, teils mehrfach. Und sie haben größtenteils schon wieder neue Besitzer.


    Allerdings habe ich mit meinen Kindern darüber geredet, welche Begriffe heute so nicht mehr verwendet werden, was mich sonst noch so aus heutiger Sicht an den Büchern stört - und warum sie so geschrieben worden sind, weil Autoren eben einfach immer Kind ihrer Zeit sind. Natürlich nicht im Kindergartenalter, sondern später - aber das Thema haben wir heute noch gelegentlich, wenn ähnliche Dinge wieder mal durch die Presse gehen.


    Ich habe bis sie ins Jugendalter kamen, jedes Buch, das meine Kinder gelesen haben, ebenfalls gelesen - entweder sowieso, weil ich vorgelesen habe, oder weil ich wissen wollte, was sie lesen, um für Gespräche zur Verfügung zu stehen und zu wissen, was sie so prägt. War tatsächlich auch für mich eine interessante Erfahrung.

  • streifi : Es gibt noch wenig belastbare Aussagen dazu, wann das sensitivity reading hierzulande von wem eingesetzt wird, aber der PEN Berlin hat dazu im vergangenen Herbst eine Umfrage unter seinen Mitgliedern durchgeführt, auf deren Ergebnis ich sehr gespannt bin. Aber, ja, es gibt Autoren und -innen, die das ihrerseits beauftragen, meines Wissens aber vor allem Leute, die im Selfpublishing unterwegs sind.

    Ich meine es in einer Danksagung am Ende eines Buches gelesen zu habe. Ich kann Dir aber nicht sagen in welchem. Zuviele Bücher, die ich gelesen habe und die Info an sich fand ich interessant, aber dann doch nicht so, dass ich es mir im Detail gemerkt habe.

  • Und wenn Du schon mit persönlichen Erfahrungen kommst, die übrigens nicht evident sind. Einer meiner besten Freunde ist vor fünfzig Jahren aus Südafrika nach Deutschland gekommen, und was der während dieser fünf Jahrzehnte an Rassismus auszuhalten hatte, geht auf keine Kuhhaut. Aber wenn der Begriff "Neger" in einem alten Text verwendet wird - oder auch in einem neuen, der von der Vergangenheit erzählt oder vom Rassismus in der Jetztzeit -, dann kratzt ihn das nicht. Eher im Gegenteil. Der Terminus steht für etwas. (Edit: Aber von jemandem so bezeichnet werden, das will er natürlich nicht, um es noch vorsichtig auszudrücken.)

    Wenn Breumels Beispiel nicht evident ist, ist es deins aber auch nicht ;-) Aber wieviel Schwarzen, die das Wort nicht stört darf es denn weiter genutzt werden? Fast jeder, mit dem man diskutiert kennt einen Schwarzen, der sich nicht an dem Begriff „ Neger“ stört, weswegen man sich wundert, warum das so wichtig ist….. Vermutlich kommt es halt auch immer auf den Kontext an. Das Wort in einem Buch stört sicher nicht so sehr, weil man ja nicht persönlich gemeint ist.



    Die geänderten Kinderbuchklassiker hatte ich tatsächlich nie in der Hand. Mein Mann und ich sind beide als Kinder schon Vielleser gewesen, insofern waren die Kinderbuchklassiker hier sowieso vorhanden, teils mehrfach. Und sie haben größtenteils schon wieder neue Besitzer.


    Allerdings habe ich mit meinen Kindern darüber geredet, welche Begriffe heute so nicht mehr verwendet werden, was mich sonst noch so aus heutiger Sicht an den Büchern stört - und warum sie so geschrieben worden sind, weil Autoren eben einfach immer Kind ihrer Zeit sind. Natürlich nicht im Kindergartenalter, sondern später - aber das Thema haben wir heute noch gelegentlich, wenn ähnliche Dinge wieder mal durch die Presse gehen.


    Ich habe bis sie ins Jugendalter kamen, jedes Buch, das meine Kinder gelesen haben, ebenfalls gelesen - entweder sowieso, weil ich vorgelesen habe, oder weil ich wissen wollte, was sie lesen, um für Gespräche zur Verfügung zu stehen und zu wissen, was sie so prägt. War tatsächlich auch für mich eine interessante Erfahrung.


    Ich befürchte, da bist du leider in der Minderheit. Viele nehmen sich die Zeit sicher nicht über das gelesene auch mit den Kindern zu sprechen. Für mich wäre es auch selbstverständlich.

    Aber wir kucken mit unseren Kindern auch schon sehr lange die Nachrichten und sprechen darüber. Wenn ich mir dann teilweise anhöre was die Mädels so von ihren Freundinnen erzählen, machen das auch ganz viele nicht. Und so wird aktuelles Zeitgeschehen dann auch teilweise bei Kindern und Jugendlichen falsch eingeordnet. Oder sich an irgendwelche coolen Influencern orientiert. (Siehe der umstrittene Podcast von Hoss und Hopf)

  • Ein Fernsehtipp zum Thema (oder so?) :

    Heute auf ARD alpha um 21:45 kommt eine Sendung mit Titel Was darf man heute noch sagen? Wenn Sprache polarisiert aus dem Jahr 2022 :whistling:


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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Das geschieht mit Kinder- und Jugendbüchern. Es ist mit "Pippi Langstrumpf" gemacht worden und derzeit mit "Jim Knopf" in der Mache.

    Du hast die Bibel gelesen? Das bringen nicht viele fertig. (Ich hab's tatsächlich auch getan, ist aber 'ne Weile her und ich würde es nicht noch einmal tun.)

    Nicht zu vergessen "Die kleine Hexe", ich glaube, mit der hat es angefangen.

  • Ich habe mal gegoogelt und einen Artikel darüber gefunden, den ich gut finde.


    https://www.welt.de/kultur/lit…-werden-Messerwerfer.html

    Ist schon fast elf Jahre alt und kennt daher keine aktuellen Entwicklungen, von der Grundaussage gefällt mir der Text aber auch.


    Zitat

    Lieber als die Würde einiger Kinder retteten sie wahlweise die Kunst, die Freiheit, das Geschichtsbewusstsein oder doch wenigstens die deutsche Sprache.

    Nur weil eine Aussage vor x Jahren mal unbedenklich war, legitimiert das nicht die aktuelle Verwendung.

  • Ich habe mal gegoogelt und einen Artikel darüber gefunden, den ich gut finde.


    https://www.welt.de/kultur/lit…-werden-Messerwerfer.html

    Interessant fand ich darin, dass Ottfried Preußler selber noch und nach seinem Tod seine Töchter versuchen auf der Höhe der Zeit zu bleiben und die alten Texte anscheinend ständig weiter ändern, um für Kinder der nächsten Generation lesbar zu bleiben.

    Die Idee aus den Klaubholzweibern moderne Pfandflaschensammlerinnen zu machen wäre die letzte Konsequenz, aber dann müsste die Kleine Hexe auch aus ihrem idyllischem Waldhäuserl in die Brennpunkt-Hochhaussiedlung umziehen.

    :nerv

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Die Frage bleibt, wer über die Legitimität urteilt …

    :/ ... im Zweifelsfall sind das die Meinungsmacher - also meist die, die am lautesten schreien bzw. überall ihre Überzeugung in Wort und Schrift veröffentlichen.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Wenn Breumels Beispiel nicht evident ist, ist es deins aber auch nicht

    Deshalb kam das auch im gleichen Posting. ;)



    Vermutlich kommt es halt auch immer auf den Kontext an.

    Oh, der Begriff ist ohne Zweifel in jeder Hinsicht herablassend konnotiert und von A bis Z rassistisch, obwohl es Leute mit etymologischem Halbwissen gibt, die Dir erklären werden, dass er das nicht wäre. Aber Du bist nicht automatisch ein Rassist, wenn Du ihn gebrauchst. Natürlich kommt es auf den Kontext an, auf die Verwendung, auf die Bedeutung in der jeweiligen Zeit. Wenn Du jemanden so bezeichnest, musst Du Dir zu recht den Vorwurf anhören, rassistisch zu sein.

    Aber der Begriff "Rassismus" ist auch umgedeutet und mit anderen Inhalten aufgeladen worden. Er ist, wie ich finde, zu einem Gutteil auch seiner Schlagkraft beraubt worden. "Früher" galt als rassistisch, wer Menschen aufgrund ihrer Herkunft ganz offen für geringwertiger hielt. Heute verlierst Du schon Deine Stelle als Radiomoderator, wenn Du Dich (okay, mit etwas unglücklichen Formulierungen) über eine zusammengecastete und ziemlich schlechte K-Pop-Band lustig machst. Wir reden über internalisierten Rassismus, und darüber, dass privilegiert in westlichen, postkolonialistischen Ländern geborene, weiße Menschen den Rassismus in die Wiege gelegt bekommen haben, einfach aufgrund der Geschichte ihres Landes und der dort - auch über die Ausbeutung der Kolonien - erworbenen kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen. Man ist Rassist und kann nichts dagegen tun, ganz unabhängig von der eigenen Vita und vom Alltagsverhalten. Das macht es irre schwer und oft unglaubwürdig, gegen "echten" Rassismus vorzugehen, also Leute anzuklagen, die tatsächlich die Überzeugung vertreten, Nichtweiße, Nichtdeutsche (usw.) wäre minderwertig. Aber jetzt schweife ich.


    Der Begriff ist, wie angedeutet, fraglos rassistisch. Aber seine rassistische Konnotation verschwindet nicht dadurch, dass man ihn auch in Erzählungen von der Vergangenheit oder vom immer noch aktuellen Alltagsrassismus meidet oder sogar versucht, ihn derart zu tilgen, dass Kinder nicht mehr damit konfrontiert werden und ihm nie begegnen (wer glaubt, das sowas funktionieren kann, hat selbst keine Kinder - und verbringt seinen Alltag ohnehin auf einem anderen Planeten). Ganz im Gegenteil verwischt man die Spuren des Rassismus, in der Geschichte und in der Gegenwart. Hunderttausende sitzen heute auf ihren abgenutzten Kunstledersofas, trinken Bier aus Flasche und sagen: "Guck mal, noch ein Neger.", wenn eine Person of Color im Fernsehen zu sehen ist. Denen muss man dabei helfen, aus dieser Denke rauszukommen. Und von denen muss man auch erzählen und sprechen. Auch, wenn wieder jemand erklärt, die eigenen Eltern hätten das immer gesagt und nicht böse gemeint. Nein, böse gemeint haben sie's nicht, aber es war trotzdem ein rassistischer Begriff, und man hatte auch damals schon Gehirne und hätte darüber nachdenken können, was man da sagt.

    Und das hätte auch Astrid Lindgren tun können.

    Hat sie aber nicht.

    Bücher sind nicht nur etwas, mit dem man die Zeit vor dem Einschlafen verbringt, das muss ich einer Eule nicht erzählen. Bücher sind geistige Schöpfungen, die in besonderer Weise mit ihren Schöpfern verbunden sind, und die für diesen Prozess und ihre Zeit und ihre sozialen und kulturellen Wurzeln stehen. Auch, wenn es Abermillionen Bücher gibt, sind doch alle Zeitzeugnisse. Viele Hände und Köpfe waren daran beteiligt, als sie entstanden sind, es sind nicht nur Texte. Damit will ich Bücher keineswegs heiligsprechen, aber ein nachträglicher Eingriff - selbst aus gutem Grund - ist für mich grundsätzlich und jederzeit ein Problem. Dann lieber verzichten, ab damit in den Giftschrank, auf den Index oder unter den Tresen. Wenn es denn wirklich so schlimm ist. Ist es aber überhaupt nicht, weil wir bei jedem verdammten Buch wissen, aus welcher Zeit es kommt, wie es entstanden ist, was Gesellschaften damals akzeptiert oder sogar goutiert haben und was nicht. Und wenn ich nicht will, dass mein Kind einen Begriff wie "Neger" hört, dann muss ich eben darauf verzichten, es vorzulesen. Das ist ja das Tolle: Es gibt Abermillionen Bücher. Niemand - absolut niemand - ist darauf angewiesen, ausgerechnet nach der Pippi oder dem Jim zu greifen. Diese Freiheit haben wir alle.