Der Zeitgeist und die Bücher oder ist das Zensur?

  • Und vor welchen Traumata und Erfahrungshorizonten und Lebenswirklichkeiten und -situationen usw. usf. willst Du bitte wie ernsthaft durch "Triggerwarnungen" schützen? In der Konsequenz ginge das nur durch ein Verbot sämtlicher Produkte, die Gefährdungspotential haben, und auch dieser Gedanke liegt einigen nicht allzu fern.

    Genau diese Konsequenz ist es aber, die sich immer mehr breit macht: sobald irgendwo irgend eine auch nur mögliche Gefahr am Horizont erscheint, wird nach einem Verbot gerufen. (Ich weiß, das ist etwas (?) überspitzt.) Aufgewachsen in einer Zeit, da niemand daran dachte, Zäune um Seen zu errichten, anzunehmen, daß Menschen zu Rassisten werden, weil sie (wie damals so gut wie jeder andere auch) den Begriff "Neger" verwendeten oder KInder in fast schon gepanzert anmutenden Autos (nennt man wohl "SUVs") jeden Meter gefahren werden, und schon gar niemand auf die Idee kam, vor Inhalten von Büchern zu warnen. Aufgewachsen also in einer so furchtbaren Zeit frage ich mich manchmal, wie ich so alt werden konnte, daß in ein paar Wochen, wenn man Udo Jürgens glauben darf, das Leben für mich erst anfängt?


    Um nicht falsch verstanden zu werden: ich könnte in meiner Biographie auch so einige Dinge aufzählen, die Tom in seinen Beiträgen genannt hat, habe also durchaus Vorbelastungen. Und es gibt durchaus Dinge, über die ich eher nichts lesen (oder in Filmen sehen) möchte. Aber wie Tom früher schrieb, gibt es in Klappentexten Hinweise auf den Inhalt. Bisher ist es mir eigentlich immer gelungen, aus diesen Hinweisen herauszufiltern, ob ich besser die Finger von einem Buch lassen sollte oder nicht. Falls die Tendenz zu "nicht lesen" geht, sammle ich so lange Informationen, bis ich eine klare Meinung habe - und lese oder nicht. Es gibt, soweit ich mich erinnere, nur eine Ausnahme von dieser Regel, wo ich nicht erkannt habe, daß ich das Buch besser nicht lesen sollte. Und das war ausgerechnet noch eine LR hier im Forum. Allerdings habe ich auf die Folgebänden dann verzichtet.


    Anmerkung an mich: ich hätte nie gedacht, daß ich einmal dermaßen mit Toms Meinung übereinstimme, wie hier in diesem Thread. Keine Ahnung, wie ich das einschätzen soll. Ob ich tatsächlich noch lernfähig bin? ;-)

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Und letztlich dienen doch alle Regelungen, Warnungen etc. doch auch dazu, diese kritischen Themen in das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Etwas, das potenziell problematisch sein könnte, wird einfach nur hervorgehoben und darauf aufmerksam gemacht. Vieles haben wir in der Vergangenheit einfach verwendet ohne uns darüber weitere Gedanken gemacht zu haben. Nun haben wir eine Zeit, in der wir für vieles ein wenig sensibilisiert werden. Mehr ist es eigentlich nicht.

  • Ich habe als Kind häusliche Gewalt durch meinen versoffenen Vater erfahren. Und nicht zu knapp.

    Darüber zu Lesen ist trotzdem kein Problem, sondern steigert eher die Tiefe der Geschichte. Man weiß doch, dass Geschichten Fiktion sind.

  • Ich habe als Kind häusliche Gewalt durch meinen versoffenen Vater erfahren. Und nicht zu knapp.

    Darüber zu Lesen ist trotzdem kein Problem, sondern steigert eher die Tiefe der Geschichte. Man weiß doch, dass Geschichten Fiktion sind.

    Hat dann was mit deinem Fell zu tun, andere sind da halt deutlich weicher.


    Mich interessiert Mobbing auch einen Scheiß Dreck in Büchern und ich wurde früher gemobbt und habe mich gerächt.


    Wenn es ja nur Fiktion ist, dann brauchen wir auch dieses Thema nicht weiter zu diskutieren, weil alle möglichen Traumatas in den Büchern sind Fiktionen sofern sie nicht auf eine Wahre Begebenheit basieren...

  • Ich vermag ehrlich nicht zu verstehen, wo es dasselbe sein soll, ein Buch zu zensieren, also möglicherweise strittige Inhalte herauszuschneiden oder abzumildern, oder es in seinem ursprünglichen Zustand zu belassen, aber Warnungen hinzuzufügen, die jeder, der sie nicht zu brauchen meint, nicht einmal lesen muss. Das sind für mich zwei völlig verschiedene Vorgehensweisen.

    Wenn jemand in etwas eingreift, um Dich daran zu hindern, es so wahrzunehmen, wie es war oder ist, oder ob Dich jemand vor dem Konsum eines Kulturproduktes - aus vermeintlich guten Gründen (wobei derjenige selbst festlegt, was gute und was weniger gute Gründe wären) - warnt, das sind zwei "völlig verschiedene" Vorgehensweisen? Völlig verschieden? Mit Verlaub, aber das sind zwei Ausprägungen derselben Sache. Und es hat beides dieselbe Zielsetzung, nämlich Kultur mit politisch-pädagogischen Aspekten auszustatten. Sie zu politisieren und zu instrumentalisieren.


    SiCollier : Danke.

  • Ich vermag ehrlich nicht zu verstehen, wo es dasselbe sein soll, ein Buch zu zensieren, also möglicherweise strittige Inhalte herauszuschneiden oder abzumildern, oder es in seinem ursprünglichen Zustand zu belassen, aber Warnungen hinzuzufügen, die jeder, der sie nicht zu brauchen meint, nicht einmal lesen muss. Das sind für mich zwei völlig verschiedene Vorgehensweisen.

    Mir fällt es auch schwer das zu verstehen, aber ich bin kein Autor/Künstler und kenne mich im Verlagswesen auch nicht aus.


    Aus psychologischer Sicht finde ich es nach wie vor nicht verkehrt, wenn vor manchen Dinge gewarnt wird.

    Ob man es nun Triggerwarnung nennen sollte, könnte man vll drüber streiten, jeder Mensch ist da ja unterschiedlich anfällig...

  • Wenn jemand in etwas eingreift, um Dich daran zu hindern, es so wahrzunehmen, wie es war oder ist, oder ob Dich jemand vor dem Konsum eines Kulturproduktes - aus vermeintlich guten Gründen (wobei derjenige selbst festlegt, was gute und was weniger gute Gründe wären) - warnt, das sind zwei "völlig verschiedene" Vorgehensweisen? Völlig verschieden? Mit Verlaub, aber das sind zwei Ausprägungen derselben Sache. Und es hat beides dieselbe Zielsetzung, nämlich Kultur mit politisch-pädagogischen Aspekten auszustatten. Sie zu politisieren und zu instrumentalisieren.


    SiCollier : Danke.

    Für mich ist es das, ja: in einem Fall hindert man mich (und alle anderen) daran, es überhaupt zu konsumieren, im anderen erhalte ich eine Warnung (oder auch nicht, wenn ich die Triggerwarnungen nicht lese), es steht mir aber völlig frei, wie ich darauf reagiere. Ich kann die Warnung ignorieren und das Werk trotzdem (oder gerade deswegen - eine Auswirkung, die man auch nicht unterschätzen sollte, wie Tante Li schon anmerkte) lesen.


    Und SiCollier - Letzten Endes sind Triggerwarnungen doch auch nur Informationen über Inhalte, die für einige Leser vielleicht zu problematisch sind. Zugegeben, sie sind klarer formuliert und nicht aus Hinweisen herausgefiltert, aber sie sind definitiv keine Verbote.

  • Wenn jemand in etwas eingreift, um Dich daran zu hindern, es so wahrzunehmen, wie es war oder ist, oder ob Dich jemand vor dem Konsum eines Kulturproduktes - aus vermeintlich guten Gründen (wobei derjenige selbst festlegt, was gute und was weniger gute Gründe wären) - warnt, das sind zwei "völlig verschiedene" Vorgehensweisen? Völlig verschieden? Mit Verlaub, aber das sind zwei Ausprägungen derselben Sache. Und es hat beides dieselbe Zielsetzung, nämlich Kultur mit politisch-pädagogischen Aspekten auszustatten. Sie zu politisieren und zu instrumentalisieren.


    SiCollier : Danke.

    Ein Verbot ist für mich etwas völlig anderes als eine Warnung. Ich kann mein zwölfjähriges Kind zuhause Deadpool schauen lassen, trotz FSK16. Und genauso kann ich eine Triggerwarnung ignorieren.


    Verbote setzen voraus, dass es Konsequenzen gibt, wenn sie übertreten werden. Und hier sind weit und breit keine Strafen in Sicht.

    “You can find magic wherever you look. Sit back and relax all you need is a book." ― Dr. Seuss

  • im anderen erhalte ich eine Warnung (oder auch nicht, wenn ich die Triggerwarnungen nicht lese), es steht mir aber völlig frei, wie ich darauf reagiere.

    Es steht Dir tatsächlich nicht völlig frei, wie Du auf eine Warnung reagierst. Eine Warnung ist eine Warnung, also eine Vignette, ein Text, ein Icon, ein Geräusch, ein Lichtzeichen, das Dir sagt: Achtung, hier droht eine Gefahr. Und zwar eine Gefahr, die so groß ist, dass akzeptiert wird, dass in die Freiheit der Kunst eingegriffen wird. Jemand meint, dass das, was Du zu tun oder zu konsumieren im Begriff bist, in so vielen Fällen problematisch sein kann, dass eine Warnung davor ausgesprochen werden muss. Diese Warnung betrifft Dich vielleicht nicht, weil Du nicht zur gefährdeten Gruppe gehörst, aber wir warnen Dich trotzdem (mit), weil wir nach dem Prinzip agieren, dass es kein Zuviel gibt.


    Warnungen machen etwas mit uns. Sie lassen uns vorsichtig werden, was meistens die Absicht dahinter ist, zögerlicher, nicht selten auch ablehnend. Sie lassen uns hinterfragen, was wir zu tun im Begriff sind. Etwas, wovor gewarnt werden muss, kann nicht (nur) gut sein, und so entsteht Ablehnung. Wir folgen dem Signal, das uns sagt, dass etwas daran nicht gut ist, was wir da tun wollen. Selbst wenn wir in großen Gesten so tun, als wäre uns das egal, verarbeiten wir die Information.


    Ich weiß nicht, ob Ihr mitkriegt, was in Florida so los ist, oder auch in anderen US-amerikanischen Bundesstaaten an Schulen und Universitäten. Da wird auch vor Texten gewarnt. Oder wurde, denn vielerorts sind längst die nächsten Eskalationsstufen gezündet - von Eltern, die ihre Kinder vor vermeintlich falschen Weltanschauungen, Lebensweisen und Denkmodellen schützen wollen, von Aktivisten, die zu verhindern versuchen, dass Kunst und Literatur mit vermeintlich diskriminierenden Inhalten noch auf die Lehrpläne oder in die Bibliotheken darf, von Politikern, die an die Schöpfungsgeschichte glauben und die Evolutionslehre verneinen - oder die so aggressiv homophob sind, dass es kaum noch in Worte zu fassen ist.


    ich bin ein bisschen enttäuscht darüber, wie stark bei meinen lieben Eulen der Wunsch verbreitet ist, so mit Literatur umzugehen. ;(

  • :/  Tom Du warnst also vor den Anfängen einer Gedankenpolizei?

    Siehst Du eine Trigger-Warnung als Vorstufe zur Bücherverbrennung? :hmm


    Was in der USA mit der dortigen Demokratie und Glaubensfreiheit passiert ist schon erschreckend. Und es wäre wirklich höchste Zeit, dass sie ihre Werte mal ernsthaft in Frage stellen. Aber so weit sind wir hier doch noch lange nicht!

    Aber ich finde es schon wichtig, dass wir uns hier darüber unterhalten (auch wenn nicht alle Argumente gehört werden ;))

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

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  • Ja, du hast recht, eine Warnung kann meine Herangehensweise an ein Werk verändern, auch wenn sie für mich nicht notwendig war. Aber das kann auch ein Artikel im Kulturteil der Zeitung, eine Rezension hier in der Eule, ein Gespräch mit Freunden, die ein Buch bereits gelesen haben.


    Ja, ich bekomme mit, was in Teilen der USA in dieser Hinsicht abgeht und finde es erschreckend. Aber ich sehe trotzdem noch deutliche Unterschiede zwischen dem Mindset "Wir müssen alles tun, damit niemand dieses Buch lesen kann, es verboten wird und bestehende Auflagen eingestampft werden" und dem Satz "Achtung: enthält eine explizite Schilderung einer Vergewaltigungsszene" an einer Stelle, an der es nur diejenigen lesen, die sich eben genau darüber informieren wollen. Und ich sehe deutliche Unterschiede im Denken der von dir geschilderten Politiker und Eltern und den hier diskutierenden Eulen.

  • Siehst Du eine Trigger-Warnung als Vorstufe zur Bücherverbrennung?

    Und Leute, die für Triggerwarnungen sind, wären dann sozusagen auf dem Weg, Nazis zu werden? Nein!


    Aber es ist ein Eingriff in die Kunst- und Meinungsfreiheit, der andere Eingriffe legitimieren kann. Und das andernorts schon getan hat. Wenn wir Kunst nicht mehr Kunst sein lassen, sondern sie auf eine pädagogische (gut gemeinte) Weise einzuklammern beginnen, nehmen wir ihr einen essentiellen Aspekt. Und wir nehmen den Menschen, die sich mit Kunst auseinandersetzen wollen, die Freiheit, das möglichst unvoreingenommen zu tun. Gleichzeitig begründen wir, wie angedeutet, eine Legitimation für jene, die noch viel, viel weiter gehen wollen. Und wir wissen aus der Menschheitsgeschichte, dass Prozesse sowieso nie nach ihrer ersten Stufe enden. Es finden sich immer genug Leute, um ein paar Schritte weiter zu gehen.

  • Und wir wissen aus der Menschheitsgeschichte, dass Prozesse sowieso nie nach ihrer ersten Stufe enden. Es finden sich immer genug Leute, um ein paar Schritte weiter zu gehen.

    Zum Glück leben wir in einem Land und in einer Zeit, wo jeder kleine Schritt heiß und öffentlich diskutiert wird :)

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    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

  • Gleichzeitig begründen wir, wie angedeutet, eine Legitimation für jene, die noch viel, viel weiter gehen wollen. Und wir wissen aus der Menschheitsgeschichte, dass Prozesse sowieso nie nach ihrer ersten Stufe enden. Es finden sich immer genug Leute, um ein paar Schritte weiter zu gehen.

    Hier gebe ich dir recht - aber für mich ist die Konsequenz daraus eine andere. Ich sehe uns auch hier in der Verantwortung, alles, was in unserer Gesellschaft passiert, genau zu beobachten - eben auch den Umgang mit Literatur und Filmen, und wenn dann Leute wie in Teilen der USA bereit sind, die paar Schritte mehr zu machen, sich dagegen zu wehren. Das auch unbedingt, indem man laut darauf hinweist, es anprangert.


    Aber kann die Angst davor, wie Menschen einen Ansatz ausnutzen, übertreiben oder ins Gegenteil verkehren, nicht auch eigentlich positive Entwicklungen ausbremsen?

  • Freiheit hat zwei Komponenten,

    a) die individuelle (für die Tom hier plädiert) und

    b) die gesellschaftliche (für die ein paar andere hier plädieren).


    Ja, beide Komponenten können missbraucht werden. Immer vom potenziellen Missbrauch auszugehen, verengt allerdings den Blick. Aber es ist gut, dass Tom hier eine Warnung vor dem potenziellen Missbrauch ausspricht.

  • Zitat

    Zum Glück leben wir in einem Land und in einer Zeit, wo jeder kleine Schritt heiß und öffentlich diskutiert wird :)

    Eigentlich sollte ich sagen: nicht nur heiß sondern auch nüchtern, respektvoll und argumentativ diskutiert wird!

    :kopfdreher

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    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte