Selbst auf die Gefahr hin, hier eine Lawine loszutreten, will ich das Folgende nun doch schreiben, weil es mich vom Prinzipiellen her schon lange bewegt. Vor allem würde mich interessieren, was Autoren über diese Thematik denken, könnten sie (bzw. deren Werke) in einigen Jahren/Jahrzehnten doch von ebensolchen „Umschreibungen“ betroffen sein.
Am 23. Februar fand sich in der hiesigen Tageszeitung ein Artikel mit der Überschrift Schluss mit „Rassismus in Lummerland“ (hier der Link zur Onlineversion, die von der Druckversion abweicht: Verlag streicht rassistische Passagen und Bilder aus „Jim Knopf“-Büchern – „ganz im Sinne von Michael Ende“ , hat andere Autorin als in der Druckausgabe).
Die beiden Lummerland-Bücher zählten in meiner Kindheit zu meinen absoluten Lieblingsbüchern; keine Ahnung, wie oft ich die gelesen habe. Obwohl ich die ursprünglichen Ausgaben hatte (und noch immer besitze), bin ich seltsamerweise nicht zum Rassisten geworden. Obwohl es in der Schule in der Pause Brötchen gab, deren Namen ich heute nicht mehr ungestraft nennen darf, ohne einen „Shitstorm“ auszulösen. Niemand hat sich damals dabei (bei den Bezeichnungen) etwas gedacht. Und seltsamerweise wußte ich sogar, daß China heute (und schon damals in den 60er Jahren) keinen Kaiser mehr hat und man dort nicht mal Schnürsenkel unter den Reis mischte - obwohl das doch so genau so im Buch stand.
Als meine Tochter in das Alter kam, holte ich meine alten, sehr zerlesenen Exemplare hervor und las sie ihr vor. Weil die doch sehr mitgenommen sind, wollte ich die durch neue ersetzen (auch, weil die Schrift in den 60er Jahren doch sehr klein und mühsam zu lesen war). Da stellte ich fest, daß in den erhältlichen Auflagen (Anfang der Nullerjahre) schon Änderungen waren - „Mandala“ statt „China“ etwa. Hä? Dachte ich - und blieb bei den alten Originalversionen.
Nun sollen die Bücher (wie viele andere auch) also erneut an den herrschenden Zeitgeist angepaßt werden. Wohin soll das eigentlich noch führen? Provozierend gefragt: sollen/müssen jetzt alle Bücher früherer Zeiten, die eine andere Meinung als die aktuelle (bzw. was manche Kreise dafür halten) vertreten, umgeschrieben oder gar verboten werden? Muß alles bedingungslos dem heutigen Zeitgeist unterworfen und geopfert werden? Und wenn sich der Zeitgeist ändert (was ganz sicher eines Tages passieren wird): die Umschreibung aufs Neue auf den dann „gültigen“ Zeitgeist?
Brauchen wir eine „Zensurbehörde“ (oder wie immer man eine solche Stelle nennen mag), die auf Unverträglichkeiten mit dem heutigen Zeitgeist achtet und alles entsprechend „gleichrichtet“ und umschreibt?
Das war heute übrigens auch Thema im „Pro und Contra“ der „WELT am Sonntag“. Das Contra schloß mit den Sätzen:
In welchem zeitlichen, räumlichen und persönlichen Kontext entstanden sie? Diese kritische Auseinandersetzung findet nicht statt, wenn man Texte so weit glättet, dass sie niemanden mehr kränken können. Wer anderen diese Auseinandersetzung nicht zumutet, kann das Lesen gleich ganz sein lassen.
Ist man heute wirklich geistig so … beschränkt, daß man alles auf den heutigen Zeitgeist ausrichten und entsprechend verändern muß? Haben wir das Denken verlernt? Gilt nur noch eine einzige Meinung/Ansicht? Wie ist das mit der Freiheit der Künste/Literatur - oder gar der Meinungsfreiheit?
Wenn ich nur noch Bücher lesen dürfte, die dem heutigen Zeitgeist entsprechen, würde ich das Lesen wohl wirklich aufgeben. Oder, wie ich mir schon mehrfach vorgenommen habe, mich nur noch auf das Lesen von Büchern, die vor 1900 erschienen sind, beschränken. Aber das kann die Lösung doch nicht sein, oder?