Fang Fang, Glänzende Aussicht

  • Zur Autorin (Quelle: Verlag):


    Fang Fang ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. In den letzten 35 Jahren hat sie eine Vielzahl von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Stets spielten die Armen und Entrechteten in ihren Werken eine große Rolle. 2016 veröffentlichte sie den von der Kritik gefeierten Roman Weiches Begräbnis, für den sie mit dem renommierten Lu-Yao-Preis ausgezeichnet wurde.


    Klappentext (Quelle: Verlag), gekürzt:


    Dieser heute in China unterdrückte Roman machte Fang Fang bei seinem Erscheinen 1987 schlagartig berühmt: Glänzende Aussicht erzählt das Leben einer einfachen Arbeiterfamilie aus Wuhan aus Sicht des verstorbenen jüngsten Sohnes. Es ist ein drastisches Porträt: Zu elft haust die Familie in einer dreizehn Quadratmeter kleinen Hütte. Schon die Jüngsten lernen stehlen, um ihren Beitrag zum Familienleben zu leisten. Im Schatten eines Vaters, der vor allem mit der Faust erzieht, versuchen die neun Brüder und Schwestern auf je eigene Weise, den Fesseln ihrer Herkunft zu entkommen und eine bessere Zukunft zu finden.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Das Leben war ein Ameisendasein, der Tod wie ein Staubkorn“


    Der Roman beginnt sehr eindringlich mit drei identischen Satzanfängen: „Bruder Sieben sagt“. Und schon weiß der Leser: hier gibt nicht traditionell der älteste Bruder den Ton an, sondern ein nachgeborener Sohn. Wie es zu dieser Verschiebung kommt, erzählt der Roman.


    Wie in ihrem beeindruckenden Roman „Weiches Begräbnis“ nimmt uns die Autorin mit in ihre Heimatstadt Wuhan und entfaltet das Geschehen, indem sie die Geschichte einer Familie erzählt. Eine proletarische Familie, die mit 11 Personen in einem einzigen Raum, einem Bretterverschlag von 13 qm in dem Barackenviertel von Wuhan lebt. Hier lebt die Familie dicht an dicht mit anderen ehemaligen verarmten Kleinbauern, die in die neuen Städte zogen, um Arbeit zu finden. Alle behalten sie ihre gewohnten patriarchalischen Strukturen bei: Kinderreichtum ist erwünscht, die Familie ist der Bezugspunkt, der Vater hat das Sagen, Töchter zählen nichts, und die Durchnummerierung der Söhne zeigt die hierarchische Struktur der Familie.


    Gewalt ist an der Tagesordnung: Gewalt auf der Straße, am Arbeitsplatz, in organisierten Banden und vor allem in der Familie. Besonders Bruder Sieben ist der täglichen Gewalt des Vaters schutzlos ausgesetzt. Bruder Acht stirbt mit 2 Wochen und wird von seinen Brüdern beneidet um dieses glückliche Los; er ist es, der die Geschichte seiner Familie erzählt.


    Der Leser begleitet die Familie und erlebt mit ihnen die wesentlichen Etappen des chinesischen Wegs nach dem II. Weltkrieg, wobei der Fokus auf der Entwicklung des Bruders Sieben liegt, der sich nichts sehnlicher wünscht, als „dass Vater auch ihm eine Kiste zimmern würde, in der er schlafen konnte“. Landreform, Kollektivierung. der sog. Große Sprung mit der furchtbaren Hungersnot, die Kulturrevolution ab den 60er Jahren und die Landverschickung der städtischen Jugend – all das spiegelt sich in der Geschichte der Familie. Auch die damit einhergehende Änderung der Gesellschaft zeigt sich: Bruder Sieben gelingt es, in den Parteikadern Fuß zu fassen und nun „gehört er nicht mehr der Familie, sondern der Regierung“, er hat glänzende Aussichten, so wie einige seiner Brüder auch. Und wie auch der kleine Ich-Erzähler. Die Baracken werden abgerissen und durch Hochhäuser ersetzt – glänzende Aussichten für alle Bewohner – und er wird auf einem ordentlichen Friedhof neben einem seiner Brüder begraben, „dann können sie sich Gesellschaft leisten“.

    Auch das ist eine glänzende Aussicht...


    Es ist die Art und Weise, wie Fang Fang diese Geschichte erzählt, die den Roman so eindringlich macht. In ihrem Wuhan Diary schreibt sie: „Ich habe mich bemüht, mein Hirn Stück um Stück vom ganzen Müll und Gift zu säubern, die man in der Vergangenheit in mein Hirn gequetscht hat“. Statt vorgefertigte und erwünschte ideologische Überhöhungen zu übernehmen, will sie die Ereignisse festhalten und dem Vergessen entreißen.


    Sie vermeidet dabei jede politische Note. Sie verfällt weder in den erwünschten Lobgesang noch in eine Kritik. Es gibt kein Gut und Böse, kein Falsch und Richtig, es ist keine Rede von Klassenkampf und Klassenfeinden, sie klagt nicht an und nennt keinen Schuldigen, sondern sie hält sich an das, was sie gesehen und erkannt hat. Es ist möglich, dass sie aus Angst vor der Zensur keine Urteile abgibt, immerhin hat Fang Fang hinreichend Erfahrung mit der repressiven Kulturpolitik Chinas. Aber gerade dieser Rückzug auf Fakten und ihre ambivalente Literarisierung machen den Roman packend.

    Der Roman wurde übersetzt von Michael Kahn-Ackermann, dem ehemaligen Direktor des Pekinger Goethe-Instituts, der ein sehr hilfreiches Nachwort angefügt hat.


    Fazit: Ein ungemein packender Ausflug in 20 Jahre chinesische Geschichte.


    10/10 Pkt.


    ASIN/ISBN: 3455016782

  • Glänzende Aussicht - Fang Fang


    Hoffmann&Campe, 2024

    176 Seiten

    OT: Fengjing

    Übersetzt von Michael Kahn-Ackermann


    Mein Eindruck:

    Eine herausragende chinesische Familiengeschichte einer klugen Autorin.

    Es zeigt das Leben in China in der Nachkriegszeit bis in die Achtziger Jahre hinein.

    Die im Klappentext erwähnte Arbeiterfamilie leben beengt und in Armut. Der jüngste Sohn schläft sogar unter dem Bett der Brüder. Es geht häufig derb zu.Viel Gewalt, nur selten Zuneigung.

    Trotzdem beginnt man als Leser sich schnell für die Familie zu interessieren. Nach und nach zeigt Fang Fang den Verlauf des Lebens aller Familienmitglieder. Originellerweise ist das von dem geisterhaften Blick des Kindes, der gleich nach der Geburt gestorben ist, begleitet und kommentiert. Das steht aber nicht so im Vordergrund, dass man sich an der Erzählweise stören müsste, falls man diese geisterhafte nicht so mag.

    In den betrachteten Jahrzehnten passiert einiges. Es ist alles andere als ein langweiliges Buch. Mich hatte es schnell gepackt.

    Ein gutes Buch einer wichtigen Autorin.


    Erwähnenswert ist auch das Nachwort, dass dem Leser gute Hinweise zu Chinas Entwicklung in der beschriebenen Zeit und zu Fang Fangs Schreibmethode mitgibt. Eine Satz daraus, dem ich sehr zustimme, möchte ich hier zitieren:

    „Fang Fang strebt die Rückgewinnung eines tatsächlichen Realismus an, gekennzeichnet durch gründliche Recherche, einen unverstellten Blick ohne ideologisch verzerrende Brille auf die widersprüchliche Gegenwart und Vergangenheit der chinesischen Gesellschaft, durch genaue, urteilsfreie und zugleich empathische Beobachtung der Komplexität der von ihr erdachten Charaktere und ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen.“