Paul Lynch, Grace

  • ASIN/ISBN: 3772530222


    Klappentext (Verlag):


    Es begann damals 1845. Aber Grace, die einzigartige Heldin des Iren Paul Lynch, ist vollkommene Gegenwart in diesem bildreich-poetischen Roman, der mit ihren Sinnen und Gefühlen die grausame Wirklichkeit der großen Hungersnot erleben lässt.

    Grace, vierzehn, wird in Männerkleidern von zu Hause fortgeschickt, um irgendwo Arbeit, irgendwie Nahrung zu finden in einem Land, wo jeder danach sucht. Ihr zur Seite: der jüngere Bruder Colly. Seine muntere Stimme in ihrem Kopf. Und verschiedene andere merkwürdige Begleiter. Wer wird sie sein, wenn sie diese Wanderschaft durchsteht?

    Ein historischer Roman abseits der Norm, von großer sprachlicher Schönheit und mit einer unvergesslichen Protagonistin.

    Für seinen Roman ›Prophet Song‹ wurde Paul Lynch mit dem Booker Prize 2023 ausgezeichnet. ›Grace‹ ist derzeit der einzige in deutscher Sprache vorliegende Roman des Preisträgers!


    Zum Autor (Verlag, gekürzt):


    Paul Lynch, 1977 in Limerick geboren und im County Donegal aufgewachsen, wurde für seine Romane ›Red Sky in Morning‹ (2013), ›The Black Snow‹ (2014) ›Grace‹ und ›Beyond the Sea‹ (2019) vielfach ausgezeichnet. Für seinen jüngsten Roman ›Prophet Song‹ (2023) erhielt er den Booker Prize. Paul Lynch lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Dublin.

    ›Grace‹ ist derzeit der einzige in deutscher Sprache vorliegende Roman des Preisträgers.

    Christa Schuenke, geboren 1948 in Weimar, ist frei- und hauptberuflich als literarische Übersetzerin aus dem Englischen tätig.


    Mein Lese-Eindruck:


    Der Roman versetzt uns in das Irland der Großen Hungersnot in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Über fünf Jahre hinweg fielen die Kartoffelernten aufgrund der sog. Kartoffelfäule aus und führten zu einer katastrophalen Hungersnot, die durch die englischen Exporte und fehlende Hilfsmaßnahmen noch verschärft wurde.


    Grace, gerade 14 Jahre alt, wird von ihrer Mutter als Junge verkleidet auf den Weg gebracht: sie soll sich Arbeit suchen und für sich selber sorgen. Grace liebt ihre kleinen Brüder und trennt sich schwer von ihnen, aber Colly, einer der Brüder, begleitet sie heimlich.


    Was nun beginnt, ist eine Odyssee durch das hungernde Land. Immer durch Graces Augen sieht der Leser die Not der Menschen: Bettelnde und heruntergekommene Menschen, die ihren Besitz und sich selbst verkaufen für einen Penny oder ein Stück Brot; verwahrloste und halb erfrorene Kinder, verhungerte Menschen in Straßengräben, gespenstische Kolonnen von Hungernden, die durchs Land ziehen, verwahrloste Kinderbanden. Gras, Vogelmiere, Kräuter – alles wird gegessen, Haustiere sowieso, und die Vögel werden vom Himmel geholt. Und immer gegenwärtig die Angst vor den Constablern und die Angst, als Diebin am Galgen zu enden.


    Der Hunger lässt die Menschen verrohen, niemand ist sicher vor seinem Mitmenschen, und Grace muss mit ihrem Messer ständig auf der Hut sein vor Diebstahl und Übergriffen. Die seltenen milden Gaben von wohltätigen Reichen sind nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern sie rufen bei Grace auch einen unbändigen Hass hervor auf die Nutznießer der Hungersnot. Der Hass wird gesteigert, wenn sie sieht, wie die reichen Bauern ihren Besitz sichern. Sie schrecken dabei vor Mord und Totschlag nicht zurück und lynchen auch halbverhungerte Kinder. Der Wolf ist des Menschen Wolf geworden.


    Auch Grace verroht, der Hunger macht sie mitleidlos und hart. Sie stiehlt, sie schlägt, sie setzt ihr Messer ein, sie schüttelt bettelnde Kinder von ihrem Arm. Aber sie leidet unter ihren Taten, und die Toten kommen als Hungerhalluzinationen zu ihr, sodass sie schließlich Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten kann.

    Der Autor wahrt streng die Perspektive des jungen Mädchens, und damit macht er es dem Leser nicht immer leicht. Grace ist noch ein Kind, sie versteht einiges nicht, und so bleibt es dem Leser überlassen, sich das Geschehen zusammenzureimen. Mit diesen Leerstellen gelingen dem Autor aber auch äußerst anrührende Stellen, z. B. im Zusammenhang mit dem geliebten kleinen Bruder, mit dem sie auch nach dessen Tod ständige Zwiesprache führt.


    Ein sprachlich dichter Roman, düster, lyrisch und poetisch, allerdings mit Längen.


    09/10 Pkt.