Plinio Martini, Requiem für Tante Domenica

  • ASIN/ISBN: 385791386X

    Zum Autor (Quelle: Verlag):


    Plinio Martini (1923–1979) wurde in Cavergno als Sohn eines Bäckers in ärmliche Verhältnisse geboren. Er wuchs mit sieben Brüdern im Dorf und im Val Bavona auf. 1942 schloss er das Lehrerseminar in Locarno ab und unterrichtete zeitlebens im Maggiatal, erst in Cavergno und später in Cevio.

    Anfang der 1950er-Jahre erschienen im «Giornale del popolo» erste Erzählungen sowie die Gedichtbände «Paese così» und «Diario forse d’amore». 1970 folgte sein erster Roman «Il fondo del sacco», der vier Jahre später in deutscher Übersetzung unter dem Titel «Nicht Anfang und nicht Ende» erschien. Der Roman erzählt von einem Tessin jenseits der verbreiteten Tessinklischees und gehört längst zu den Klassikern der Tessiner Literatur. Martini starb 1979 im Alter von nur 56 Jahren.


    Klappentext:


    Tante Domenica ist gestorben. Die bigotte alte Jungfer hatte mit dem Pfarrer zusammen über die Moral im Dorf gewacht. An ihrem Totenbett sitzt der angereiste Neffe. Jugenderinnerungen steigen hoch, und im Leichenzug begegnet er Giovanna, seiner ersten Liebe wieder. Aus den Erinnerungen zwischen Zorn und Zärtlichkeit ersteht ein eindrückliches, realistisches Bild des alten Val Bavona, entwickelt sich die Geschichte einer glücklich-unglücklichen Kindheit und Jugend im engen Tal, geprägt von Katholizismus und Tradition. Dann erhält Tante Domenica eine feierliche Totenmesse, wird zu Grab getragen, ein jeder wirft eine Handvoll Erde ins Grab und geht seiner Wege. Libera me, Domine!



    Mein Lese-Eindruck:


    Das untere Maggiatal ist heute touristisch relativ gut erschlossen und fasziniert durch seine dramatischen Landschaften. Je weiter man aber hochwandert Richtung Fusio oder auch wenn man abbiegt ins Seitental der Bavona, umso ursprünglicher, rauer und zivilisationsferner präsentiert sich die Landschaft. Enge, schroffe Täler, kleine zusammengeduckte Siedlungen, enge Häuser aus Granitsteinen, mit Granitplatten gedeckt, unendlich lange und steile Treppen zu den kärglichen Alpwiesen – all das wirkt heute pittoresk, aber es lässt den Wanderer erahnen, wie hart und entbehrungsreich das Leben in diesen Tälern gewesen sein muss.


    Plinio Martini ist in diesem Teil des Tessins aufgewachsen und dort sein Leben lang geblieben. In seinem Roman stellt er uns die Menschen dieses Tals vor, ihre Arbeit, ihr tägliches Leben und einige der Geschichten, die er vermutlich dort gesammelt hat.


    Ein junger Mann, Marco, kehrt zur Beerdigung seiner überfrommen Tante Domenica ins Dorf zurück. Er hat sich Arbeit gesucht in der Schweizer Industrie und ist damit einer die vielen Abwanderer, die aufgrund der wirtschaftlich mehr als prekären Situation das Bavona-Tal verlassen haben. Dennoch wird deutlich, wie sehr er sich seiner Heimat verbunden fühlt, auch wenn seine jungen Jahre aus täglicher harter Arbeit, aus großer Armut, Hunger und Entbehrungen bestanden. Dabei lässt es sich der Autor mit einem augenzwinkernden Sarkasmus nicht nehmen, auch den Machtdünkel der katholischen Kirche ins Visier zu nehmen.


    Nun aber beobachtet Marco kampierende Urlauber am Fluss, die sich fremden Tätigkeiten wie Ballspielen hingeben, die jungen Leute wandern aus oder ab ins Unterland wie er, ein Wasserkraftwerk wird gebaut, Spekulanten kaufen den Boden für billiges Geld auf – kurz: die Moderne zieht in diese verlassene Gegend und ändert das Leben ihrer Bewohner von Grund auf.

    Martini beurteilt den Einbruch der Moderne offensichtlich als Niedergang und setzt nicht nur Zia Domenica, sondern der untergehenden bäuerlichen Kultur seiner Heimat mit diesem Roman ein Denkmal.


    Eine schöne Idee des Limmat-Verlages, zum 100. Geburtstag des Autors diesen Roman wieder aufzulegen!

    Eine spritzig-ernste Lektüre für jeden Tessin-Reisenden, weit entfernt von jeder folkloristischen Idylle!


    08/10 Pkt.