ASIN/ISBN: 3498003763 |
Klappentext:
«Hat sie Muscheln am Strand gesammelt, den schreienden Möwen nachgeschaut und im Sand gelegen?» In der Titelgeschichte von Natascha Wodins neuem Buch zieht die Erzählerin eine Spur von Mariupol am Asowschen Meer, an dem ihre Mutter aufwuchs, bis hin zur Regnitz in Franken, dem Fluss, in dem diese sich das Leben nahm. In einer anderen Geschichte beobachtet sie ihre Nachbarin, die in ihrem baufälligen Haus buchstäblich verfault, und andernorts, auf Sri Lanka, begegnet sie extremem sozialen Elend und einer bedrohlichen, alles verschlingenden Natur. Zurück in Deutschland, geht es um das Schicksal eines Unbekannten, der als psychisch kranker Patient entmündigt in einer Klinik im Fichtelgebirge lebt. Dorthin, «in die dunkelsten deutschen Wälder», schickt die Erzählerin ihm eine Nachricht, und es entwickelt sich eine Brieffreundschaft, dann eine Liebe, deren Anker die verbindende, rettende Kraft der Musik ist.
Nach den großen Romanerfolgen «Sie kam aus Mariupol» und «Nastjas Tränen» - Natascha Wodin erzählt in fünf Geschichten meisterhaft und mit großer Dringlichkeit vom Gefühl des Fremdseins im eigenen Leben und schenkt ihren Figuren eine Heimat in der Literatur.
Mein Hör-Eindruck:
Natascha Wodin legt hier fünf Erzählungen vor, die für diese Ausgabe eigens überarbeitet wurden. Alle Erzählungen haben Gemeinsames. Immer ist es eine ältere Ich-Erzählerin, die erzählt und die ohne Zweifel das Alter Ego der Autorin ist. Denn immer sind es autobiografisch gefärbte Geschichten, die mit ihrer chronologischen Anordnung Wodins Biografie folgen. Und immer thematisieren die Erzählungen ein schwer traumatisiertes Leben, es geht um gesellschaftliche Außenseiter und um das Gefühl der Fremdheit und Abgespaltenheit.
Die Titelgeschichte „Der Fluss und das Meer“ greift auf Wodins Erfolgsroman „Sie kam aus Mariupol“ zurück und reflektiert das Schicksal ihrer Mutter. Dabei verbindet die Autorin das Asowsche Meer, die ursprüngliche Heimat ihrer Mutter, mit dem Fluss Regnitz, in dessen Nähe die Mutter wohnte und in dem sie sich auch das Leben nahm. Wodins Mutter ist in den Diktaturen ihrer Zeit aufgerieben worden: Stalins Terror, der Holodomor in den 30er Jahren und schließlich die Verschleppung als Zwangsarbeiterin nach Deutschland. Würde ihre Mutter das heutige zerbombte Mariupol wieder sehen, „wäre das wie ein dritter Mordversuch an meiner Mutter“. Die Autorin tröstet sich mit der Vorstellung, dass die Wasser der Regnitz irgendwann, über einige Umwege, in das Schwarze und dann das Asowsche Meer fließen, um ihrer Mutter Heimat zu bieten.
Eine solche Heimat sucht die Ich-Erzählerin in allen Geschichten. In einer Geschichte besteht die Suche nach einer Heimat aus der Hoffnung auf eine enge Bindung an einen ehemaligen Jugendfreund, der Patient in einer psychiatrischen Anstalt ist. Beide lieben Musik, und der Freund verfügt – sagt er - über die erstaunliche Fähigkeit, jedes, aber auch jedes Musikstück in seinem Kopf ablaufen zu lassen. Bei dieser Erzählung überlegt man als Leser zum ersten Mal (und leider nicht zum letzten Mal), inwieweit Wodin hier mit den Möglichkeiten eines unzuverlässigen Erzählers spielt. Ein Krankensaal mit 30 Betten? Ein psychiatrisches Krankenhaus ohne therapeutisches Konzept? Angelegt auf Unterordnung? Patienten als billige Arbeitskräfte? Psychiater als unmenschliche Automaten? Der Versuch einer Bindung misslingt, und zwar beiderseits.
Alle Erzählungen sind für die Autorin eine Art „Exorzismus“, mit dem sie ihre inneren Dämonen versucht in Schach zu halten. Ihr Schreiben ist aber nicht nur Therapie, sondern auch ihre einzig mögliche Brücke zur Außenwelt. In der letzten Erzählung schildert sie quälend eindringlich ihre Ängste und ihre krisenhaften Zustände, die ihr das Weiterleben erschweren. Wodin schont sich dabei nicht, und sie schont auch nicht ihre Leser. Sie legt ihre Wunden bloß: nach wie vor sei sie verachtet “als slawischer Untermensch“, sie gehöre nicht dazu, weil sie über andere Erfahrungen verfüge, sie beschreibt ihre Entwurzelung, ihre Heimatlosigkeit, ihre traumatische Kindheit mit dem gewalttätigen Vater und dem Suizid der Mutter, ihr Anders-Sein und immer wieder ihr Fremdsein und ihre Heimatlosigkeit. Die melancholisch-elegische Stimme von Martina Gedeck passt hervorragend zum Erzählton.
Wodin klagt an. Sie klagt Deutschland an, das die Augen verschlossen habe vor dem Schicksal der Zwangsarbeiterkinder. Sie klagt aber auch ihre Eltern an, die ihr Schicksal und ihre Opferrolle vor ihren Kindern aus Scham verschwiegen hätten. Das Ergebnis dieser generationenübergreifenden Traumatisierung seien massive psychische Probleme, die häufig in psychiatrischen Krankenhäusern bzw. in Gefängnissen ende.
Auch wenn einige der Behauptungen bzw. Erzählelemente Widerspruch hervorrufen und/oder sich nicht mit eigenen Wahrnehmungen decken: Wodin gibt einer Gruppe unserer Mitbürger eine Stimme, und diese Stimme verdient es gehört zu werden.
5/10 Pkt.