Der Stich der Biene / The Bee Sting - Paul Murray

  • The Bee Sting von Paul Murray ist zunächst einmal eine fast schon klassische Familiensaga, die zu Beginn der Wirtschaftskrise 2008 in einem kleinen Ort in Irland spielt. Im Mittelpunkt steht die Familie Barnes: die Eltern Dickie und Imelda, die 17-jährige Tochter Cass und der 12-jährige Sohn PJ. Dickie betreibt einen lokalen Autohandel und hat es zu einem gewissen Wohlstand gebracht, wodurch er Teil des lokalen Geldadels geworden ist. Zu diesem gehört auch die Familie eines befreundeten Rinderzüchters, zu der es in der Geschichte Verbindungen gibt. Cass ist befreundet mit Elaine, der manipulativen Tochter des Rinderzüchters, und „Big Mike“, wie er genannt wird, ist bekannt für seine Affären und macht auch Imelda Avancen. Mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise verschärft sich die Lage für die Familie Barnes dramatisch. Jedes Familienmitglied hat seine eigenen aktuellen Krisen und schleppt zudem persönliche Geister mit sich, die plötzlich und mit großer Wucht wieder zum Vorschein kommen.


    Das klingt zunächst nicht nach der Art von Buch, die mich normalerweise anspricht. Der Roman wird oft mit den Romanen von Franzen verglichen, aber ich fand Franzens Die Korrekturen furchtbar langweilig. Familiensagas dieser Art hat man schon hundertfach gelesen oder im Fernsehen gesehen. Warum also sollte mich die Geschichte der Familie Barnes interessieren? Zum einen erscheint mir die Erzählung weniger realistisch, als man denken könnte – nicht, weil übernatürliche Ereignisse stattfinden (denn das tun sie nicht, abgesehen von metaphorischen Elementen, in denen der Roman fast schon eine Geistergeschichte oder ein Märchen wird, oder gelegentlichen übersinnlichen Vorahnungen von Nebenfiguren), sondern weil der Autor mit der Romanform spielt und vor allem mit den Erwartungen des Lesers. Der Autor scheint stets die Kontrolle zu behalten, während er den Leser ständig auf falsche Fährten führt. Er präsentiert eine Handlung, die oft auf Zufällen basiert und manchmal konstruiert wirken könnte, was man als Leser jedoch dem Autor verzeiht. Dieses Stilmittel passte, weil es thematisch in dem Roman für mich vor allem um Nicht-Kommunikation ging. Die Figuren reden (oder nicht-reden) ständig aneinander vorbei und das bestraft der Autor mit entsprechenden Konsequenzen und ohne irgendeine Gnade.


    Das führt zum eigentlichen Punkt, der den Roman so stark macht: den extremen Sog, mit dem man in die Geschichte hineingezogen wird. Im englischsprachigen Original hat der Roman 640 Seiten, und keine einzige Seite ist langweilig. Die Handlung treibt unaufhörlich und mit zunehmender Geschwindigkeit voran – zumindest war das meine Erfahrung. Bis etwa Seite 490 wird der Roman in jeweils einem Kapitel aus der Sicht einer Figur erzählt: erst aus der Sicht von Cass, dann PJ, Imelda und schließlich Dickie. Danach ändert sich die Erzählstruktur, aber ich möchte nicht zu viel verraten. Das Kapitel aus der Perspektive von Cass ist sehr einladend geschrieben. Ein Bruch gibt es dann aber bei Imelda. Während alle anderen Perspektiven eher traditionell erzählt werden, fehlen in Imeldas Abschnitt Punkt und Komma, was vermutlich ihren leicht chaotischen mentalen Zustand widerspiegeln soll. An dieser Stelle könnte der Roman einige Leser verlieren, aber man gewöhnt sich schnell an den Stil. Rückblickend wirken Imeldas Abschnitte sogar fast am berührendsten. Die Wechsel in der Erzählperspektive nutzt der Autor, um ein eigentlich triviales Stilmittel immer mal wieder einzusetzen: das des Cliffhangers. Das macht der Autor aber auf eine Weise, die ich literarisch und konzeptionell schon wieder ausgefeilt finde. Das alles passt zum spielerischen Umgang des Autors mit seinem Material, es fügt sich nahtlos in die Romanarchitektur ein.


    Ich war schwer begeistert. Zur Handlung darf man kaum etwas schreiben. Jedes Detail würde wie ein Spoiler wirken. Und sprachlich sitzt alles. Der Roman ist mit viel Humor und sprachlicher Raffinesse geschrieben.


    Der Roman stand dieses Jahr auf der Shortlist für den Booker Prize. Im März erscheint die deutsche Übersetzung.


    ASIN/ISBN: 0241353955

    ASIN/ISBN: 395614581X

  • Familie Barnes


    Der Autor Paul Murray war mit seinem Roman Der Stich der Biene, 2023 bei dem Booker Prize nominiert.

    Jetzt gibt es den Roman auch auf deutsch und ich musste zugreifen.

    Dann ist es eine Familiensaga, die lese ich sowieso gerne.

    Es ist ein kompakter Roman von 700 Seiten und wird nie langweilig.

    Er spielt in der Wirtschaftskrise 2008 in Irland

    Die Familie Barnes bestehend aus dem Autohändler Dickie, seiner Frau Limelda, der 16jährigen Tochter Cass und dem 12jährigen Sohn PJ.


    Von jedem Familienmitglied erfahren wir abwechselnd von ihren Empfindungen.

    Der Autor hat das brillant gestaltet. Es geschehen oft brenzlige Situationen, die aber doch glimpflich ablaufen.


    Der Roman hat mich total gefesselt. Ich habe mit den jeweiligen Personen gezittert.

    Es ist ein bemerkenswerter Unterhaltungsroman.

  • Buchrezension: Der Stich der Biene von Paul Murray

    ASIN/ISBN: 9783956145810

    Sprache: Deutsch

    Ausgabe: Gebundenes Buch

    Umfang: 700 Seiten

    Verlag: Kunstmann, A

    Erscheinungsdatum: 14.03.2024


    In "Der Stich der Biene" von Paul Murray entfaltet sich eine Geschichte, die tief in die Dynamik der Familie Barnes eintaucht. Dickie Barnes, der Protagonist, betreibt ein lukratives Autogeschäft, das jedoch ins Wanken gerät. Die Familie steht vor Herausforderungen, die nicht nur ihre Geschäftsinteressen, sondern auch ihr persönliches Glück und ihre Beziehungen betreffen. Ein zentrales Ereignis im Buch ist ein unerwarteter Bienenstich während Imeldas Hochzeitstag, der symbolisch die unter der Oberfläche brodelnden Spannungen und unvorhergesehenen Wendungen im Leben der Charaktere widerspiegelt. Der Roman, der in Irland angesiedelt ist, bietet eine dichte Erzählung, die die Leserinnen und Leser mit ihren komplexen Charakteren und dem reichhaltigen, emotionalen Unterton fesselt.


    Der Roman verfolgt das Leben der Familie Barnes, jeweils aus den einzelnen Perspektiven der Protagonisten und entwickelt sich jeweils mit Rückblicken in die Vergangenheit unaufhörlich weiter. Das erlaubt eine intensive Entwicklung der Charaktere und nimmt uns mit auf die unterschiedlichen Herausforderungen wie das Erwachsenwerden, familiäre Beziehungen und persönliche Krisen, die die Personen zu dem machten, was sie jetzt sind. In durchaus über weite Strecken berührender Erzählung wirft er eine Reihe philosophischer Fragen auf, die zum Nachdenken anregen und sicherlich auch einige Lesende bewegen wird.


    Insgesamt ist der Schreibstil flüssig, allerdings lässt es sich Paul Murray nicht nehmen den Leser in dem Kapitel rund um Imelda, Dickies Ehefrau, zu fordern durch den Verzicht auf Satzzeichen. Das Ende des Buches allerdings ist für mich nur noch eine Aneinanderreihung von losen Gedanken für mich mit dem Ziel, die unterschiedlichen Handlungsstränge zu einem Ende zu verknoten. Das ist für mich absolut misslungen.

    Die zentrale Botschaft, die uns der Autor in seinem Werk darlegen will, ist für mich die menschliche Suche nach Bedeutung und Verständnis in einer sich verändernden oder zusammenbrechenden Welt sein.


    Mein Fazit: "Der Stich der Biene" von Paul Murray ist ein Roman, der durchaus eine Mischung aus Humor und Tragik bietet, die das Lesepublikum auf eine emotionale Achterbahnfahrt mitnimmt. Das Buch behandelt tiefgründige Themen wie Familie, Schicksal, Sterben, Verlust und die Herausforderungen, ein guter Mensch in einer komplexen Welt zu sein. Sicherlich ist es an einigen Stellen recht langatmig und nimmt „die Luft“ raus. Für das Ende muss ich auf jeden Fall aber auch einen Punktabzug geben.

    Viele Grüße
    Thomas


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    wyrd bid ful aræd - Das Schicksal ist unausweichlich

  • Hinterhältig, klug, manchmal etwas zäh, nicht immer stimmig, aber unterm Strich nicht schlecht


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    Der irische Autor Paul Murray hat in den letzten zwanzig Jahren ganze vier Romane vorgelegt, darunter „Skippy stirbt“ (2010), die dreibändige, vielschichtig aufgebaute Erzählung um den Tod eines Jungen, der auf eine irische Eliteschule ging. Das Romantriptychon hinterließ damals einen zwiespältigen Eindruck bei mir – einerseits war das stark gemacht, ausgedacht, aufgebaut, konstruiert und formuliert, andererseits hatte es Murray überdreht und dabei seine Figuren aus den Augen verloren. Um es vorwegzunehmen: Ganz ähnlich verhält es sich bei „Der Stich der Biene“ (OT: „The Bee Sting“) auch.


    Erzählt wird ein Gesellschaftsdrama, das im Kern aus der Geschichte der Familie Barnes besteht, vor allem aus derjenigen der Teilfamilie von Dickie, dem Sohn des nach Portugal emigrierten Provinzoligarchen Maurice. Der kluge, schöngeistige, klandestin bisexuelle Dickie hat dessen Autohaus und vom verstorbenen Bruder die unfassbar schöne In-Spe-Braut Imelda übernommen. Imelda stammt aus, vorsichtig gesagt, komplizierten Familienverhältnissen. Aber auch Dickies Hintergründe sind nicht einfach. Die Haupthandlung spielt achtzehn Jahre nach den ausführlich geschilderten und immer wieder als Rückblenden eingebauten Vorgeschichten der beiden Hauptfiguren, deren Perspektive jeweils eingenommen wird, und Murray hat jeder Figur ihre eigene Sprache und Ausdrucksweise gegeben; bei Imeldas Abschnitten beispielsweise fehlen deshalb fast alle Satzzeichen.

    Neben den Eheleuten Dickie und Imelda gibt es noch die achtzehnjährige Cassandra, die soeben ihren Schulabschluss macht, und PJ, den zwölfjährigen Sohn, dessen vollständiger Name nie erwähnt wird. Cass wird mit ihrer besten Freundin Elaine nach Dublin umziehen, um dort aufs Trinity College zu gehen, auf dem auch Dickie war. PJ hat Stress mit den anderen Kids und eine heimliche Online-Freundschaft mit einem Jungen aus Dublin, der sich Ethan nennt und möglicherweise nicht wirklich ein Junge ist. Das Autohaus läuft nicht mehr. Dickie wird von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt, die er sich aber zugleich als Alternative für die Zukunft zurückwünscht, und Imeldas Dämonen sind ebenfalls zahlreich.


    Genau wie bei „Skippy stirbt“ kristallisiert sich auch bei diesem Roman erst nach und nach heraus, wovon der Autor eigentlich erzählen möchte, wobei es so ganz kristallklar bis zum fulminanten Ende nicht wirklich wird, und die Wegstrecke dorthin ist oft düster und steinig, denn die 700-Seiten-Schwarte hat ihre zähen Momente, und davon nicht wenige. Manchmal nervt sie nachgerade, denn die Figuren haben gemein, quasi sehenden Auges von einer Katastrophe in die nächste zu marschieren, und die Gründe dafür sind nicht immer nachvollziehbar. Ob es nun PJ ist, der sich für die Fehler seines Vaters verkloppen lässt, oder Imelda, die den Avancen von Big Mike allmählich nachgibt, dem Vater der Tochterfreundin Elaine.


    Der Titel des Romans bezieht sich auf ein Ereignis während der Hochzeit von Dickie und Imelda, einer Veranstaltung, die ohnehin unter keinem guten Stern stand, und er ist eine Metapher für kleine Geschehnisse mit großen, langfristigen Folgen. Allerdings hält die Geschichte das Versprechen des Titels nicht ganz ein, und obwohl Murray ein äußerst kluger Erzähler und brillanter Beobachter ist, gibt es, um im Bild zu bleiben, eine Art Grundsummen, das nie verklingt. Anders gesagt: Zumindest ich habe Murrays Figuren ihre Gedanken und, vor allem, ihr Verhalten nicht immer abgekauft, was tatsächlich eine Untertreibung ist, denn es ging mir fast unaufhörlich so. Es fühlte sich beim Lesen merkwürdigerweise an, als wären die Romanfiguren Leute, die vom Autor dafür engagiert worden sind, diese Romanfiguren zu spielen.


    Andererseits hat Murray viele wichtige Themen in wirklich beeindruckender Weise bearbeitet und untergebracht, und die Lektüre ist oft ein cleveres Vergnügen, etwa, wenn es um die Prepper und ihre Lebensfundamente geht, oder um die hochkomplizierte Zeit zwischen dem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr. Nicht nur an diesen Stellen ist „Der Stich der Biene“ äußerst lesbar und ein großes Vergnügen, aber Murray liebt das ganz große Drama, und darunter leidet die eigentliche Geschichte.