Der Roman mit dem vollständigen Titel „Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern – Herausgegeben von E.T.A. Hoffmann“ ist eines der Hauptwerke der deutschen Romantik, erschienen in zwei Teilen 1819 und 1821. Ein geplanter dritter Teil kam infolge von Hoffmanns Tod 1822 nicht mehr heraus. Das Fragment von mehreren Hundert Seiten wurde und wird viel gelesen, studiert und immer wieder besprochen sowohl in Aufsatz- wie in Buchform. Wozu noch einen weiteren Sekundärtext hinzufügen? Er soll sich nur an hier zufällig Reinlesende richten, die das Werk noch nicht kennen, oder an solche, die sich gern an ihre Lektüre erinnern lassen. Man erwarte unter diesen Umständen keine regelrechte Rezension.
Das Buch ist vieles gleichermaßen, unter anderem Satire und Parodie, Schauerroman und Tierfabel. Es hat autobiographische Bezüge und eine zeitkritische Tendenz. Die Katerhandlung umfasst etwa ein Drittel des Gesamttextes, der größere Rest entfällt auf die Handlung um Kreisler und seine Bezugspersonen am Pseudo-Hof von Sieghartsweiler. Der Kater erzählt seine Lebensgeschichte fortlaufend chronologisch, unterbrochen von Fragmenten aus einer Kreisler-Biographie von unbekannter Hand. Es wird fingiert, der Kater hätte sich dieser Blätter nur als Manuskriptpapier bedient und der Text auf ihnen wäre versehentlich mit abgedruckt worden. Der Leser mag herausfinden, in welcher Beziehung beide Teile zueinander stehen.
Hoffmanns Stil erweist sich jeweils als virtuos. Im Detail zeigt sich bereits die Freude an genauer Beobachtung der Wirklichkeit. (Modell für den schriftstellernden Kater war Hoffmanns eigene Katze.) Murr hat sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht und verfasst Lyrik wie Prosa, besonders gern gelehrte Abhandlungen, gerichtet an die Katerjugend. Er parodiert unfreiwillig den deutschen Bildungsroman und hält sich als Dichter für ein Genie. Dieser Wahn entspricht demjenigen des Fürsten Irenäus, der nach Verlust seines kleinen Territoriums an der Fiktion festhält, noch regierend-gekröntes Haupt zu sein, und wie ehedem einen Hof mit Hofstaat unterhält. Eine solche Satire erinnert an Vergleichbares von Jean Paul, ist gerichtet gegen Kleinstaaterei und opportunistischen Untertanengeist. Auf Murrs Seiten wiederum werden neben dem Geniekult und -wahn die Burschenschaften und inflationärer romantischer Überschwang aufs Korn genommen. Das muss man selbst gelesen haben: wie Murr und seine geliebte Miesmies voneinander scheiden, tränenselig in übereinstimmendem Kalkül, oder wie Murr sein erstes Duell „auf den Biss“ übersteht …
Die Tiergesellschaft, zu der auch Hunde gehören, ist nicht nur Parodie des „Hofes“, der gar keiner ist, sie ist charakterisiert auch durch Spießbürgerlichkeit. Murr gilt in der Sekundärliteratur vor allem als der Philister im Gegensatz zum genial-zerrissenen wahren Künstler Kreisler. Das trifft es aber nicht ganz. Murrs Entwicklung kann man bei all dem Prätentiösen doch als einen echten Reifeprozess verstehen. Er hat so viel überstanden: Erotomanie und Exzesse der Burschenschaftler. Sein Lebenslauf weist wie derjenige Kreislers zuweilen große Gefahr für Leib und Leben auf. Am Ende kommt er in seiner Einstellung gegenüber der Gesellschaft zu resignativen Schlüssen, bei denen der Herausgeber kritisch anmerkt, das seien ja eben auch Kreislers Gedanken dazu. Der Kater war zeitweise in Kreislers Obhut, als sein Halter Meister Abraham auf Reisen. Von diesem Orgelbauer und Magier war hier noch nicht die Rede …
… und auch nicht von der Rätin Benzon, vom Prinzen Hektor und dessen Bruder oder von den jungen Damen Julia und Hedwiga. Und es wird hier auch nicht ausgeplaudert, wie sie alle zueinander stehen und wie erst am Ende des Romans der verwickelt geschürzte Knoten aufgelöst wird, mehr oder weniger. Es gab schon Kritik der Art, dass die Kreisler-Geschichte allzu fragmentiert sei. Indessen sind die Makulaturblätter so „zufällig“ dann doch nicht. Zwar brechen die Kreisler-Abschnitte regelmäßig mitten im Satz ab und setzen nach einem Murr-Zwischenspiel mitten in einem ganz anderen und in anderem Zusammenhang wieder ein, dennoch folgen sie inhaltlich einigermaßen chronologisch aufeinander. Was Kreisler ab seinem ersten Eintreffen in Sieghartsweiler fortlaufend erlebt, wie die Intrigen am Hof ablaufen, das kann der aufmerksame Leser sich schon erschließen. Wahr ist allerdings, dass Kreislers Vorgeschichte nur in andeutenden Rückblenden erzählt wird.
Abschließend ein Beispiel für die anhaltende Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit dem Roman: Sarah Kofman aus dem Kreis um den Philosophen Derrida hat dazu 1984 das Buch „Schreiben wie eine Katze“ veröffentlicht.