Der Büchereulen-Adventskalender 2023

  • Der 1. Dezember von Breumel


    Weihnachten auf der A1


    „Sind wir bald da?“

    „Nein!“ Entnervt verzog Britta das Gesicht. „Es sind noch mindestens zwei Stunden. Das wisst ihr doch!“

    „Aber es ist so langweilig …“

    „Wir können ja noch eine Folge drei Fragezeichen hören.“

    „Keine Lust. Ich hör Musik.“

    Jan steckte sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und tippte auf seinem Handy herum. Seine Schwester befand sich im gleichen Nicht-ansprechen-Teenager-hört-Musik Modus.

    Holger würde jetzt den Schlaf der gerechten Beifahrer schlafen, wenn er noch bei ihnen wäre. Wehmütig dachte Britta an Weihnachten vor zwei Jahren zurück, ihrem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest. Der Krebs hatte schnell und unbarmherzig zugeschlagen.


    „Mama!“ Britta zuckte zusammen.

    „Mama, es schneit!“ Aufgeregt deutete Ella nach draußen. Und ja, im Licht der Scheinwerfer glitzerten ein paar zarte Schneeflocken.

    „Vielleicht kriegen wir ja weiße Weihnachten!“

    Das wäre schon schön. Zumindest, wenn die Autofahrer nicht in Panik verfielen und die Geschwindigkeit auf Schneckentempo reduzierten. Auch auf Schnee konnte man schließlich schneller als Tempo 30 fahren, wenn man Winterreifen aufgezogen hatte.

    Gebannt beobachtete Ella das dichter werdende Schneegestöber. Auch Jan bemerkte ihre Aufregung. Die Flocken flogen immer dichter, und bald hatte sich eine dünne weiße Decke auf die linke Spur der Autobahn gelegt.

    Besorgt betrachtete Britta die Temperaturanzeige. 2°C – das bedeutete, dass der Schnee antauen konnte und dann zu Eis gefror. Und glatte Straßen hatten ihr gerade noch gefehlt.


    Mit steigender Flockenzahl wurde der Verkehr langsamer. Ganz links fuhr kaum noch jemand vorbei, und die Schneedecke schloss sich allmählich. Der feuchte Schneematsch unter den LKW Reifen ganz rechts begann leicht zu glänzen, und die Fahrgeräusche wurden leiser, je tiefer die Temperatur sank. Als die Verkehrsnachrichten kamen, lauschte sie gespannt. Und da war die Meldung auch schon: „Verkehrschaos auf der A1: Wegen Schneeglätte kommt es zu querstehenden LKW. Die Strecke zwischen Kreuz Unna und dem Kamener Kreuz Richtung Münster ist gesperrt. Wer kann, sollte den Bereich großräumig umfahren.“

    Was war noch mal die letzte Ausfahrt gewesen? Aber da sah sie es auch schon: Warnblinkleuchten und stehender Verkehr.

    „So ein Mist! Jan, schick Oma schon mal eine WhatApp, dass es später wird. Das kann dauern…“

    „Haben sie im Radio gesagt, wie lange?“

    „Nein. Wenn da LKW querstehen, muss der THW ran. Wir können nur hoffen, dass die Leute die Rettungsgasse freihalten …“ Ihren eigenen Wagen hatte Britta schon nach rechts gelenkt, aber so langsam füllte sich auch die linke Spur. Nachdem es nicht mehr weiter ging, schaltete sie den Motor aus.

    „Ella, Jan? Legt euch die Decken über, ich will den Motor nicht die ganze Zeit laufen lassen. Und gebt mir auch eine.“ Zum Glück hatte sie im Winter immer eine Decke im Auto, und auf längeren Strecken packte sie für jeden eine ein.


    Zwei Stunden saßen sie schon fest, und es war keine Besserung in Sicht.

    „Ich habe Hunger.“ Jan schaute unzufrieden aus seiner Decke.

    „Ich schau mal, was noch in der Tasche ist. Da müssten noch Plätzchen drin sein. Und ich hatte Äpfel eingepackt.“ Britta begann auf dem Beifahrersitz zu kramen.

    „Und ich muss aufs Klo.“ Ella sah unglücklich auf die geschlossene Schneedecke.

    Britta seufzte. Sie hatte auch keine Lust, das halbwegs warme Auto zu verlassen, aber „wat mutt, dat mutt“, wie ihre Mutter immer sagte. „Ich gehe mit dir hinter die Leitplanke und halte meine Decke als Sichtschutz hoch. Hier sind Taschentücher.“ Auffordernd hielt sie ihr die Packung hin. „Zieh die Jacke an. Und tritt nicht auf gelben Schnee!“

    „Auf … äh ja.“ Angewidert rümpfte Ella die Nase.


    Es wurde kälter und dunkler. Noch immer ging es nicht weiter. Dann näherte sich ein Wagen durch die Rettungsgasse. Dick eingepackte Menschen liefen nebenher und klopften an die Wagenfenster.

    „Hallo, wir sind vom THW. Es wird noch eine Weile dauern. Haben sie Decken?“

    „Ja danke.“

    „Benötigen sie Verpflegung?“

    „Gerne, wir hatten uns nicht auf eine längere Fahrt eingestellt.“ Durch das Fenster wurde ihnen eine Tüte gereicht.

    „Und haben sie noch genug Benzin, um den Motor ab und an laufen zu lassen?“

    „Ja, wir hatten vor der Fahrt vollgetankt. Der Tank ist noch mehr als Dreiviertel voll.“

    „Sehr gut.“

    Ein weiterer Helfer gesellte sich zu ihnen.

    „Ihrem Nachbar sitzt allein im Auto, und mit mehreren Leuten ist es wärmer. Können sie noch eine Person in ihrem Auto unterbringen, bis es weiter geht?“

    Britta und die Kinder sahen sich an.

    „Wenn es nötig ist, klar.“

    „Vielen Dank.“ Der Mann winkte, und die Tür des Nachbarautos öffnete sich. Eine Gestalt, die ihre Jacke bis zur Nasenspitze zugezogen hatte und eine Decke eng um sich zog, hastete durch das Schneetreiben. Britta deutete auf die Beifahrertür.

    Als er die Kapuze abnahm, entpuppte sich die Gestalt als Mann mittleren Alters.

    „Vielen, vielen Dank! Bei mir wurde es immer kälter.“ Er zitterte immer noch. “Ich heiße Tim.“ Er streckte Britta die eiskalte Hand hin, dann winkte er nach hinten.

    Sie stellten sich vor.

    „Und wo sollte es hingehen?“ Britta hatte nichts gegen Gesellschaft. Ihre Teenager waren nicht sonderlich redselig, und ihr Hörbuch leider auch nicht arg fesselnd.

    „Nach Bremen, meine Eltern über Weihnachten besuchen. Und bei ihnen?“

    „Oldenburg, auch zu den Eltern. Normalerweise drei Stunden Fahrt, länger als fünf haben wir noch nie gebraucht.“

    „Von wo ging’s denn los?“

    „Köln. Und bei ihnen?“

    „Leverkusen. Wir sind also quasi Nachbarn.“ Er grinste.

    Britta grinste auch. Wenn man schon im Schneesturm im Auto festsaß, war ein gar nicht so unattraktiver, offenbar alleinstehender Mann mit Humor nicht die schlechteste Option für den Beifahrersitz.


    Eine Stunde später waren sie beim Du. Sie hatten das Kartenspiel aus dem Gepäck gekramt, welches eigentlich als Weihnachtsgeschenk gedacht war, und spielten auf der Mittelkonsole. Sogar Jan und Ella hatten sich von ihren Handys losreißen können.


    Zwei Stunden später tranken sie den heißen Tee, welchen der THW vorbeigebracht hatte, aßen Weihnachtsplätzchen und sangen alle zusammen „In der Weihnachtsbäckerei“.


    Drei Stunden später hatten sich Britta und Tim ihre halbe Lebensgeschichte erzählt. Sie wusste jetzt, dass er Ingenieur war, vorwiegend im Außendienst arbeitete und deshalb kaum Gelegenheit hatte, jemanden kennenzulernen. Er hatte von ihr erfahren, dass sie seit knapp zwei Jahren Witwe war, als Programmiererin in Vollzeit im Homeoffice arbeitete und gerne wieder ins Kino gehen würde, nur nicht wusste, mit wem. Sie hatten Handynummern ausgetauscht, WhatsApp Kontakte angelegt und sich fest vorgenommen, sich wiederzusehen, wenn sie alle wieder zuhause waren. Die Sonne war untergegangen, und Jan und Ella waren vor Langeweile eingeschlafen.


    Dann kam endlich die erlösende Nachricht: Der Streu- und Räumdienst hatte die Fahrbahn gesichert und die querstehenden LKW waren wieder auf der Spur. Vor ihnen begannen die Autofahrer, ihre Scheiben vom Schnee zu befreien, und Tim musste sich um sein Auto kümmern. Schließlich konnten sie ihre Fahrt fortsetzen.


    *****


    Elf Monate später: Britta deckte gerade den Tisch, als es an der Haustür klingelte. Mit einem Kuss begrüßte sie Tim, der sich sichtlich über die Begrüßung freute. Da begann im Radio „Driving Home for Christmas“. Beide grinsten sich an: „Sie spielen unser Lied.“

  • Der 2. Dezember von Sinela


    Alles wie gehabt


    Der Chef schlug die Augen auf und bedankte sich im nächsten Moment dafür, dass er gut

    geschlafen hatte. Er stutzte und lachte dann herzhaft – hatte er sich doch jetzt tatsächlich bei sich

    selbst bedankt. Doch schlagartig verstummte er, denn ihm kam der Gedanke, dass er womöglich

    wunderlich wurde. Schließlich war er ja nicht mehr der Jüngste. Doch dann grinste er, er war

    schließlich der Chef, er würde bis zum Ende aller Zeiten fit und gesund bleiben. Schluss mit dem

    Blödsinn, befahl er sich selbst, es wartet eine Menge Arbeit auf mich. Er stand auf, zog sich an und

    öffnete die Tür, um über den Flur in sein Arbeitszimmer zu gehen. Doch dann blieb der große Mann

    schlagartig stehen, er traute seinen Augen nicht: die Garderobe, der Schuhschrank, die Bilder an der

    Wand – alles war mit gehäkeltem Zeug eingewickelt! Das durfte doch nicht wahr sein! Der Chef

    rannte in sein Arbeitszimmer, auch dort war alles mit gehäkelten Sachen überzogen. Seinen Stuhl

    zierte eine Jacke, sein Schreibtisch verschwand unter einen dicken Decke, und der allwissende

    Monitor war von einem Maxirock bedeckt. Er hörte ein Geräusch und schaute nach rechts. Seine

    Augen wurden schmal wie Schlitze, sein Kopf wurde hochrot, dass nicht noch Dampf aus seinen

    Ohren kam, war alles.

    »Äh, hallo Chef, hast du gut geschlafen?«

    »Luana!«, schrieh der große Mann, »bist du von allen guten Geistern verlassen?«

    »Warum?«, fragte die Elfe in aller Unschuld.

    »Na darum!« Der Chef drehte sich einmal um seine eigene Achse. »Was soll das für einen Sinn

    haben, alles mit gehäkeltem Zeug zu umwickeln, würdest du mir das bitte erklären?«

    »Ach, weißt du Chef, draußen ist es doch so kalt, weshalb es auch hier drinnen immer kälter wird,

    und damit die Sachen nicht frieren und ich ja über das Jahr verteilt so viel gehäkelt habe, dachte ich,

    ich wickle sie damit ein.«

    »Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank? Das sind Dinge, die können nicht frieren, das sind

    nämlich keine Lebewesen, sondern es ist einfach nur Blech!«

    »Aber nein Chef, auch diese Dinge haben eine Seele, sie ...«

    »Es reicht, mach dass du rauskommst, bevor ich mich vergesse!«

    Luana schaute ihren Chef an und das, was sie in dessen Augen sah, ließ sie ganz schnell aus dem

    Raum flüchten. Allerdings verstand sie überhaupt nicht, dass er sauer auf sie war, sie hatte es doch

    nur gut gemeint.


    Am nächsten Tag hatte sich der Chef wieder beruhigt. Die Wichtel und Kobolde hatten alle Sachen

    in seinem Zuhause wieder ausgewickelt, es war Normalität eingekehrt im Land hinter den Wolken.

    Was man so Normalität nennen konnte in der Vorweihnachtszeit. Die Kobolde und Wichtel

    arbeiteten in ihren Werkstätten und machten viele Überstunden, um die vielen Wünsche der

    Menschenkinder zu erfüllen. Die Engel flogen hierhin und flogen dorthin, um den Menschen den

    Geist der Weihnacht zu bringen, und der Chef überwachte alles am allwissenden Monitor. Luana

    hingegen war totlangweilig. Sie hatte keine Wolle mehr, deshalb konnte sie nicht mehr häkeln. Alle

    waren beschäftigt, nur sie wusste nichts mit sich anzufangen. Langsam schlenderte die Elfe über die

    Wiese, um sich dann auf einen großen Stein zu setzen. Dieser war gesäßkalt, aber das merkte sie gar

    nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, so hatte sie sich ihr Leben nicht vorgestellt!


    Der Chef sah die unglückliche Elfe an seinem allwissenden Monitor und seufzte. Sie machte ihn

    irre, gar keine Frage, aber tief in seinem Inneren tat sie ihm dann doch leid. Es musste doch

    irgendetwas geben, was Luana ohne ein Chaos anzurichten erledigen konnte. Er grübelte und

    grübelte, doch es fiel ihm nichts ein. Doch dann hatte er einen Geistesblitz – Frau Holle war doch

    schon mehrmals bei ihm gewesen, weil ihr das Bettdecken ausschütteln langsam zu schwerfiel und

    sie deshalb eine Hilfe hierfür haben wollte. Aber in dieser hektischen Zeit konnte er niemand

    entbehren, weshalb sie bisher immer laut schimpfend von dannen gezogen war, als er ihr gesagt

    hatte, dass das nicht möglich sei. Ha, das war es – Luana sollte Frau Holle helfen, beim Bettdecken

    ausschütteln konnte sie nichts falsch machen! Er wusste nicht, wie sehr er sich in dieser Hinsicht

    irren sollte!


    Luana strahlte über das ganze Gesicht, als sie durch den Wald zum Haus von Frau Holle ging. Sie

    konnte es kaum glauben, sie durfte der alten Frau helfen, es auf der Erde schneien zu lassen. Wie

    schön war das denn? Vor lauter Glück sprang sie immer wieder in die Luft, aber schon hatte das

    Vergnügen ein Ende, denn sie war vor dem kleinen Fachwerkhaus angekommen, in dem Frau Hole

    wohnte. Die ältere Frau stand vor dem Eingang und sah ihr erwartungsvoll entgegen.

    »Na, du bist ja ein richtiger kleiner Springinsfeld.«

    »Guten Tag Frau Holle, ich heiße Luana und der Chef schickt mich, damit ich ihnen bei allem, was

    so anfällt, helfe.«

    »Na, das wird aber auch Zeit, denn der Winter ist eingekehrt auf der Erde, die Menschen warten

    schon auf den ersten Schnee.«

    »Dann lassen sie uns doch gleich anfangen! Ich freue mich schon so darauf, ihre Bettdecken

    auszuschütteln.«

    Frau Holle lachte.

    »Du bist ja eine ganz fleißige Elfe, wie mir scheint. Aber jetzt essen wir erst eine Kleinigkeit, du

    bist bestimmt hungrig und durstig von dem langen Weg von deinem Zuhause hierher. Komm rein,

    lass uns in die Küche gehen.«

    Das ließ sich Luana nicht zweimal sagen, denn jetzt, wo sie daran dachte, merkte sie, wie hungrig

    sie war. Okay, was zum Trinken wäre auch nicht schlecht, aber Essen wäre ihr auf jeden Fall lieber.


    »Du nimmst die Bettdecken, legst sie über den Fenstersims, nimmst sie ein Stück hoch und

    schüttelst sie dann ganz fest. So fest, dass die kleinen weißen Federn, die darin sind, herausfliegen.

    Sie verwandeln sich dann in Verbindung mit der Luft in Schneeflocken, die dann auf die Erde

    hinunterfallen. Ich lasse dich dann mal alleine, muss in der Küche noch einiges erledigen. Wenn du

    Fragen hast oder bei irgendwas Hilfe brauchst, dann komm einfach zu mir runter.«

    »Mache ich Frau Holle, aber ich denke, das bekomme ich hin.«

    Luana saß der alten Frau hinterher, welche das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog. Die

    Elfe holte eine Bettdecke, ging mit ihr zum Fenster, hielt sie nach draußen und begann sie zu

    schütteln. »Aua, nicht so toll! Geht das nicht auch ein bisschen weniger stark?«

    Luana schrie vor Schreck auf und machte einen Satz rückwärts. Was war das denn? Sprach die

    Decke etwa mit ihr? Vorsichtig ging sie wieder zum Fenster und schüttelte sie erneut.

    »Ja, so ist es viel besser, aber ein wenig stärker darfst du schon schütteln, sonst können wir uns

    nicht aus unserem Gefängnis hier drin befreien.«

    »Wer bist du denn?«

    »Noch bin ich eine Daune, aber wenn du dich anstrengst, darf ich bald als Schneeflocke vom

    Himmel fallen.«

    Luana lachte, was es nicht alles gab! Sie fing an, die Bettdecke in einem schnellen Rhythmus zu

    schütteln und die Daunen fingen an durch die Luft zu wirbeln. Kreisend, vom Wind hierin und

    dorthin getrieben, nach oben, nach links und nach rechts, aber dann ging es abwärts in Richtung

    Erde. Immer mehr in Schneeflocken verwandelte Daunen trieben durch die Luft, so dicht, dass

    Luana kaum noch etwas sah. Immer schneller schüttelte sie die Bettdecke, immer dichter wurde das

    Schneegestöber. Hach, was machte das Spaß!


    Missmutig trottete der sieben Jahre alte Frank neben seiner Mutter her. Er hatte absolut keine Lust

    mit ihr einkaufen zu gehen, aber da sie der Meinung war, dass er dringend eine neue Winterhose

    und dicke Stiefel brauchte, musste er wohl in den sauren Apfel beißen. Dabei würde er viel lieber

    mit seinen Freunden am Bach spielen, Staudämme bauen und selbstgebastelte Schiffe fahren lassen.

    In diesem Moment blieb seine Mutter stehen, öffnete die Tür zu dem großen Kaufhaus und

    zusammen gingen sie hinein. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie endlich in der

    Kinderabteilung angekommen.

    »Jetzt zieh doch nicht so einen Flunsch. Wenn du brav bist, dann gehen wir nachher noch ins Cafe

    gegenüber und du kannst einen Kuchen essen.«

    Franks Miene hellte sich schlagartig auf – er liebte Kuchen! Eifrig nickte er, worauf seine Mutter

    lächelte.

    »Dann komm, lass uns mal schauen, ob wir etwas für dich finden.«


    Eine gute Stunde später saßen Frank und seine Mutter in dem gemütlichen Café. Vor beiden stand je

    ein Kuchenstück, vor dem Jungen noch eine Limo und vor seiner Mutter ein Pfefferminztee. Sie

    ließen sich die süße Köstlichkeit schmecken und unterhielten sich dann ein wenig. Plötzlich sprang

    Frank auf und eilte ans Fenster.

    »Mama, schau mal, es schneit!«, rief er quer durch den Raum. Seiner Mutter war das sehr

    unangenehm, weshalb sie schnell zu ihm hin ging, ihn am Ärmel packte und mit sich zu ihrem

    Tisch zog.

    »So etwas macht man nicht«, tadelte sie ihren Sohn. »Man schreit in einem Café nicht herum, mach

    das nie wieder. Hast du das verstanden?«

    »Ja, Mama«, antwortete Frank geknickt. »Aber schau doch mal, es schneit, ist das nicht toll? Da

    kann ich heute Abend mit Papa bestimmt einen Schneemann bauen«.

    Der Junge hatte die Rüge seiner Mutter schon wieder vergessen, hüpfte auf der Stelle, um dann

    wieder zum Fenster zu laufen. Die Frau seufzte, das hätte jetzt keinen Sinn mehr, am besten wäre

    es, wenn sie gleich nach Hause gingen. Sie ging zur Theke, bezahlte die Kuchen und die Getränke,

    holte an der Garderobe ihre und Franks Jacke, sammelte ihren Sohn ein und gemeinsam gingen sie

    in das Schneegestöber hinaus.


    Im Land hinter den Wolken hatte Frau Holle indessen nach Luana geschaut und sie angewiesen mit

    dem Decken schütteln aufzuhören, denn schließlich war morgen auch noch ein Tag. Gemeinsam

    aßen sie zu Abend und Frau Holle zeigte der Elfe dann ihr Zimmer, denn um jeden Tag nach Hause

    und wieder zur Arbeit zu gehen, war der Weg für Luana zu weit. Selbst wenn sie flog, wäre sie über

    eine Stunde unterwegs gewesen.

    »Gute Nacht Luana, ich gehe schlafen, ich bin hundemüde. Du kannst aber ruhig noch etwas

    aufbleiben und lesen, in dem kleinen Raum neben dem Wohnzimmer findest du viele Bücher.«

    »Vielen Dank Frau Holle, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«

    Die alte Frau schlurfte – gebeugt von den vielen Jahren, in denen sie die Betten ausgeschüttelt hatte

    – aus dem Raum. Luana hörte sie die Treppe hinaufgehen und dann ihr Schlafzimmer betreten. Ha,

    von wegen und lesen, sie würde es auf der Erde noch ein wenig schneien lassen, das machte so viel

    Spaß! Die Elfe wartete noch ein paar Minuten, bevor sie auch sie nach oben ging. Aber mitnichten

    in ihr Zimmer, sondern sie ging mit leisen Schritten in den Raum mit den Bettdecken.


    Am frühen Morgen, es wurde gerade hell, saßen Herr und Frau Heller, die Eltern von Frank, am

    Frühstückstisch. Besorgt sah die Frau hinaus in den Garten, hörte das denn gar nicht mehr auf zu

    schneien?

    »Musst du wirklich nach Nürnberg fahren, Dieter?«, fragte sie ihren Mann. »Bei den

    Straßenverhältnissen muss das doch nicht sein, wer weiß, ob die Räumdienste schon alles gesalzen

    haben?«

    »Tut mir leid, meine Liebe, aber diesen Termin darf ich auf keinen Fall versäumen, ich muss fahren.

    Wird schon nicht so schlimm werden wie es jetzt aussieht. Geh doch mit Frank nachher zum

    Schlitten fahren, da freut er sich bestimmt. Und du bist abgelenkt, wenn du zuhause bleibst, dann

    vergehst du doch nur vor Sorgen.«

    »Ich weiß nicht, ob ich ...«

    »Versprich es mir bitte Helga, das erleichtert mir die Fahrt. In Ordnung?«

    »Na gut, aber bitte melde dich, wenn du in Nürnberg angekommen bist.«

    Herr Heller stand auf, ging zu seiner Frau und gab ihr einen Kuss auf den Kopf.

    »Das mache ich, aber jetzt muss ich los.«


    Es schneite und schneite, die Welt versank in der weißen Pracht. Die Kinder fanden es klasse,

    endlich gab es mal wieder Schnee und dann gleich so viel, endlich konnten sie ihre Schlitten aus

    dem Keller holen und die Hügel hinuntersausen und Schneeballschlachten machen. Die

    Erwachsenen hingegen gefiel das Wetter gar nicht. Gehwege mussten vom Schnee geräumt werden,

    was doch recht anstrengend war, die Räumdienste kamen mit dem Salzen der Straßen nicht mehr

    hinterher, was zu Staus und vielen Unfällen führte, selbst die Straßenbahnen und Busse in den

    meisten Großstädten blieben in ihren Depots, das Alltagsleben stand still.


    »Du Chef, wir haben da ein kleines Problem auf der Erde.«

    »Was ist denn jetzt schon wieder los? Kann nicht einmal alles reibungslos ablaufen?«

    »Hast du in den letzten Stunden schon mal in den allwissenden Monitor geschaut?«

    »Nein, ich war mit anderen Dingen beschäftigt.«

    »Dann solltest du das vielleicht jetzt mal machen.«

    Der große Mann sah den Kobold, der vor ihm stand, an. Dann drehte er sich um und ging zum

    allwissenden Monitor und was er dort saß, ließ ihn den Atem anhalten. Das gab es doch nicht,

    woher kam denn plötzlich dieser viele Schnee? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

    »Luana! Ich bringe diese Elfe um, ich schwöre es!«

    Mit Riesenschritten verließ er den Raum und stand eine Sekunde später vor dem Haus von Frau

    Holle. Schneeflocken ließen sich auf seinem Kopf und seiner Kleidung nieder, um sofort zu

    schmelzen, denn der Chef kochte! Er klopfte an die Tür und als sich nichts tat, klopfte er noch

    einmal. Nach ihm endlos vorkommenden Minuten hörte er Schritte und die Tür öffnete sich.

    »Ja, das ist ja mal eine Überraschung, der Chef höchstpersönlich kommt vorbei.«

    »Wo ist Luana?«

    »In ihrem Zimmer, sie wird noch schlafen, ich bin auch erst durch dein Geklopfe wach geworden.«

    »Wo ist der Raum mit den Bettdecken? Los, jetzt sag schon!«

    Eingeschüchtert durch den rauen Ton antwortete Frau Holle sofort: »Oben, die letzte Tür.«

    Der große Mann drängte sich an der alten Frau vorbei, lief die Treppen hinauf, den Flur entlang und

    riss die Tür zum Bettdecken-Raum auf. Da stand sie, Luana, und schüttelte eine der Bettdecken

    kräftig. Sie war so in ihr Tun vertieft, dass sie nicht hörte, wie der Chef den Raum betrat.

    »Luana, hör sofort auf damit!«

    Vor lauter Schreck ließ die Elfe die Decke los, welche vom Sims rutschte und vor dem Haus auf

    dem Boden landete. Die darin befindlichen Daunen fanden die harte Landung gar nicht schön und

    meckerten laut. Aber niemand kümmerte sich darum, denn Luana starrte wie das Kaninchen die

    Schlange ihren Chef an.

    »Komm sofort her, wir fliegen umgehend zurück zur Basisstation.«

    »Aber warum denn?«, fragte Luana mit piesiger Stimme, »Frau Holle braucht doch noch Hilfe, der

    Winter hat doch erst angefangen.«

    Der Chef machte einige Schritte auf die Elfe zu, worauf diese zurückwich, bis sie an der Wand

    stand.

    »Widersprich mir nicht oder ich vergesse mich. Ein letztes Mal: Komm sofort hierher!«

    Luana nahm all ihren Mut zusammen und ging zu ihrem Chef. Kaum dort angekommen,

    verschwanden beide und Frau Holle, die kurz danach in das Zimmer kam, fand nur noch einige am

    dem Boden liegende Daunen dort vor.


    Der Chef stand vor dem allwissenden Monitor und schaute zu, wie der Schneefall auf der Erde

    immer schwächer wurde und dann ganz aufhörte. Die weiße Pracht türmte sich stellenweise

    meterhoch auf, von manchen Häusern konnte man gerade noch die Dächer sehen.

    »Sollen wir warme Luft nach unten schicken, damit der Schnee taut?«, fragte Aurelia, die neben

    dem Chef stand.

    »Nur ein wenig, sonst schmilzt alles auf einmal und die Menschen dort unten bekommen ein

    schlimmes Hochwasser. Veranlasst du das bitte?«

    Der Engel nickte und ging. Der Chef indes atmete einmal tief ein, drehte sich um und ging zu dem

    Tisch, der in der Ecke stand. Dort saß wie ein Häufchen Elend Luana und bibberte.

    »Jetzt zu dir: Hast du gesehen, was du angerichtet hast? Die Menschen dort unten frieren, weil viele

    Strommasten durch die schwere Schneelast zusammen gebrochen sind. Sie können nicht aus ihren

    Häusern, weil sie die Türen nicht aufbekommen und hungern, weil sie nicht zum Einkaufen gehen

    können. Geschweige denn zur Arbeit. Die Straßen sind nicht befahrbar, es fahren auch keine Züge

    oder Straßenbahnen, kurzum – das Leben da unten ist zum Erliegen gekommen! Man kann dich

    wirklich nichts machen lassen, du bist einfach zu nichts zu gebrauchen! Außer zum Häkeln – geh

    sofort in dein Zimmer und komm mir so schnell nicht wieder unter die Augen! Du kannst von

    Glück sagen, dass Aurelia sich für dich eingesetzt hat, ich hätte sonst vielleicht etwas getan, was ich

    hinterher bitter bereut hätte.«

    »Äh, Chef, es ist aber keine Wolle mehr da«, traute sich Luana zu sagen.

    »Oh doch, inzwischen war der Lieferdienst da und du hast soviel Wolle in deinem Zimmer, dass du

    bis weit ins nächste Jahr beschäftigt sein wirst. Und dann kommt neue Wolle – du wirst diesen

    Raum nie wieder verlassen, das schwöre ich. Und jetzt verschwinde endlich, bevor ich mir es doch

    noch anders überlege und meine Abmachung mit Aurelia vergesse!«

    Doch Luana blieb sitzen, sie hatte keine Kraft zum Aufstehen. Tränen liefen ihr über die Wangen,

    sie schluchzte zum Herzzereißen. Sie weinte und weinte, japste nach Luft. Der Chef sah die Elfe an

    und seine Wut verflog, als er sie so unglücklich da sitzen sah. Oh man, Frauentränen machten ihn

    immer schwach, ließen ihn weich werden und sein Herz öffnete sich weit. Er seufzte, ging zu

    Luana, zog sie hoch und umarmte sie.

    »Ist ja gut, ich habe es nicht so gemeint. Pscht, nicht mehr weinen.«

    So fand Aurelia die beiden, als sie wieder in den Raum hineinkam. Sie räusperte sich laut und der

    Chef ließ die Elfe abrupt los.

    »Es ist nicht so wie du denkst. Ich wollte nur … ich hatte ...«

    Der Engel sah, wie Luana sich die Tränen von der Wange und aus den Augen rieb und hörte, wie sie

    ihre Nase hochzog. Sie grinste, denn sie kannte den Chef ja nun schon seit vielen Jahren und

    wusste, was die Tränen einer Frau mit ihm machten.

    »Luana, geh bitte in dein Zimmer. Es ist ja inzwischen neue Wolle angekommen, du kannst also

    weiter häkeln.«

    Die Elfe sah von Aurelia zum Chef und zurück, nickte und ging dann nach draußen. Hätte sie sich

    umgedreht, hätte sie gesehen, dass der Engel jetzt ihrerseits den Chef umarmte.

    »Was soll ich nur mit dieser Elfe machen?«.

    »Ich weiß, sie ist eine wandelnde Katastrophe, aber sie gehört nun mal hierher, deshalb müssen wir

    einfach schauen, dass wir das Beste aus der Situation machen.«

    Der Chef ließ Aurelia los, trat einen Schritt zurück und schaute sie dann ernst an.

    »Du hast wie immer recht. Jetzt ist Luana ja erst mal wieder beschäftigt, aber eines schwöre ich dir

    – sollte sie wieder alles mit ihrem Häkelzeug einwickeln, weil die Sachen angeblich frieren, dann

    kann ich für nichts garantieren!«

  • Der 4. Dezember von belladonna


    Fundstücke aller Art


    Ich trat durch die alte, quietschende Schwingtür des Bahnhofsgebäudes ins Freie und fühlte mich unsagbar verloren. Hier stand ich nun, an einem trüben Sonntagnachmittag im Advent, allein in einer fremden Kleinstadt. Eigentlich hätte ich längst zu Hause sein wollen, aber die Bahn hatte mal wieder andere Pläne und hatte mich hier an diesem Provinzbahnhof ausgespuckt, Weiterfahrt in meine Richtung frühestens in zwei Stunden. Seufzend sah ich mich um. Der Bahnhofsvorplatz sah genauso wenig einladend aus wie in jeder anderen Kleinstadt auch, ein paar Bushaltestellen, ein verwaister Taxistand und gegenüber ein kleiner Kiosk, der, wie sollte es auch anders sein, geschlossen hatte. „Bin im Urlaub“ stand auf einem vergilbten Zettel an der Scheibe der Eingangstür und es sah nicht so aus, als habe der Eigentümer vor, jemals wieder aus dem Urlaub zurückzukehren.


    Ich überlegte, was ich jetzt tun sollte, als mein Blick auf eine kleine Karte fiel, die jemand in den Türrahmen gesteckt hatte. Da ich Gedrucktem nicht widerstehen kann, zog ich sie neugierig heraus. Café Fundbuero stand darauf – „Fund- und Kuchenstücke aller Art, täglich geöffnet“. Wenn das kein Wink des Schicksals war… Eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen wären jetzt genau das Richtige, und so ging ich los in Richtung Innenstadt. Die Karte verriet, dass sich das Café am Marktplatz befand; es konnte also nicht so schwer zu finden sein. Tatsächlich erreichte ich schon kurze Zeit später einen Platz, bei dem es sich vermutlich um den Marktplatz handelte. Auch er lag leer und verlassen da bis auf ein einsames Reiterstandbild in der Mitte und einige Tauben, die gelangweilt zwischen den Pflastersteinen pickten. Offensichtlich gab es hier keinen Weihnachtsmarkt, nicht einmal einen Weihnachtsbaum und auch keine nennenswerte Weihnachtsdekoration. Wirtschafts- und Energiekrise hatten also auch hier ihre Spuren hinterlassen; vermutlich war das Stadtsäckel leer und die Weihnachtsstimmung war dem Sparzwang zum Opfer gefallen.

    An einer Straßenecke gegenüber bemerkte ich einige erleuchtete Fenster und darüber den Schriftzug Café Fundbuero. Wieder wunderte ich mich über die Schreibweise mit „ue“, aber vielleicht hatte das Ordnungsamt das so verlangt – wer wusste schon, was in deutschen Bürokratenhirnen vor sich ging? Vielleicht hatte man befürchtet, die Bürger könnten das Café womöglich mit der gleichnamigen Sammelstelle für verlorene Gegenstände verwechseln?


    Ich betrat das Café, das gut besucht war, und sah mich staunend um. Alles wirkte ein wenig wie aus der Zeit gefallen und dabei so wunderbar weihnachtlich, wie man es sich nicht schöner hätte wünschen können. Es roch nach Kaffee, Zimt und Gebäck, die Tische waren mit Kerzen und Weihnachtsgestecken geschmückt und im Hintergrund lief leise klassische Weihnachtsmusik. Die Einrichtung des Cafés erinnerte tatsächlich ein wenig an eine Sammelstelle für Fundstücke aller Art. Tische und Stühle waren bunt zusammengewürfelt, keine zwei Stücke waren identisch und doch fügte sich alles zu einem harmonischen Gesamtbild. Die Deckenlampen waren ebenfalls alle unterschiedlich und die Dekorationen an den Wänden wirkten, als wären auch sie eher zufällig hierher geraten. An einer Wand stand ein großes Regal mit allerlei Gegenständen, die teils wie Antiquitäten aussahen, teils aber auch ganz einfache Alltagsdinge waren, und bei einigen konnte ich auf den ersten Blick nicht erkennen, was sie überhaupt darstellen sollten. Am Regal hing ein Schild mit der Aufschrift: „Verloren – gesucht – gefunden – gib mir ein neues Zuhause!“

    An einer anderen Wand befand sich ein Bücherschrank, dessen Inhalt wohl ebenfalls zum Mitnehmen gedacht war. Direkt daneben war noch ein letzter kleiner Tisch unbesetzt, als sei er für mich freigehalten worden. Ich nahm Platz und kurz darauf trat eine junge Frau an meinen Tisch. „Herzlich willkommen im Fundbuero!“, sagte sie. „Was kann ich Ihnen heute Gutes tun?“ Ich bestellte einen großen Pott Kaffee und, da ich mich angesichts der reichhaltigen Auswahl auf der Karte ohnehin nicht hätte entscheiden können, ein Stück „Überraschungskuchen“. Auf meine Nachfrage erklärte mir die Kellnerin, dass die Inhaberin des Cafés sämtliche Kuchen selbst backe und auch gerne mit neuen Rezepten experimentiere. Daher die „Überraschungskuchen“ aus der Versuchsküche, die bei den Gästen sehr beliebt seien. Das klang spannend und ich freute mich über alle Maßen, als der Überraschungskuchen sich als wunderbare Streuselkreation mit Mohn, Mandeln und Äpfeln entpuppte. Schon beim ersten Bissen fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt und war schon fast wieder mit der Deutschen Bahn versöhnt, die mich an diesen wunderbaren Ort geführt hatte.


    Da ich noch Zeit hatte, stöberte ich ein wenig im Bücherschrank und beschloss, mir ein oder zwei Bücher als Reiselektüre mitzunehmen, und weil ich gerade so schön in Stimmung war, entschied ich mich für einen Weihnachtsroman und einen schmalen Band mit Wintergedichten. Als ich das Café verließ und zurück zum Bahnhof ging, bemerkte ich, dass ich nicht die einzige mit diesem Ziel war. Anscheinend hatten noch einige andere Reisende aus meinem Zug im Fundbuero eine vorübergehende Herberge gefunden und hofften nun wie ich, ihre Reise alsbald fortsetzen zu können. Am Bahnsteig angekommen stellte ich erfreut fest, dass tatsächlich in Kürze ein Zug fuhr, der mich in Richtung Heimat bringen würde. Der Rest der Fahrt verlief ohne Probleme; ich hatte einen Sitzplatz und las meine gefundenen Bücher, die ich einer spontanen Eingebung folgend im letzten Zug wieder in die Freiheit entließ. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, dass jemand sie finden und hoffentlich auch noch einmal Freude an ihnen haben würde.


    Am nächsten Tag wollte ich meine Erlebnisse mit meinen Freunden teilen und suchte im Internet nach dem Café Fundbuero. Doch zu meiner Enttäuschung fand ich es nicht – es hatte keine eigene Homepage, wurde auch sonst nirgends erwähnt, und als ich nach Bildern des Marktplatzes der kleinen Stadt suchte, war an jener Straßenecke nur ein Gardinengeschäft zu sehen. Das alles kam mir sehr seltsam vor, doch als ich in meiner Tasche nach der Karte kramte, mit der ich überhaupt erst auf das Café aufmerksam geworden war, war auch die nicht mehr auffindbar. Ich erinnerte mich, dass ich sie zwischen den Seiten des Buches hatten stecken lassen, das ich im Zug wieder ausgesetzt hatte. Also würde das Café wohl sein Geheimnis bewahren – genau wie ich meine Erinnerung an diesen wunderbaren Zufallsfund im Advent.



  • Der 5. Dezember von Velion


    Lekumo strikes back!


    In Candytown nahe der Puderzuckerbucht waren die Weihnachtsvorbereitungen im vollem Gange. Doch nicht jeder zeigte vollen Zuckereinsatz. Während die Nikoläuse emsig die Häuser der kleinen Stadt mit Schokogoldmünzen schmückten und die Fruchtgummiengel Salzstangen- und Mikadofackeln an den Straßen aufstellten, versammelten sich die Gummibärchen am Strand. Dort hüpften sie auf einen Adventskranz und erzählten sich Weihnachtsgeschichten. Es begann mit Klassikern wie "Die heiligen drei Nikoläuse", ging über "Drei Zuckerstangen für Lebkuchenbrödl" und "Das tapfere Gummibärchen" bis hin zur gruseligen Lekumo-Geschichte. Bei letzteren war der Abend hereingebrochen und die Dämmerung verpasste der Monster-Erzählung einen gruseligen Zuckerglasuranstrich. Nervös schauten einige von ihnen immer wieder auf den Schokoladenozean hinaus. Als die Nacht hereingebrochen war, sorgten die Sterne für etwas Beleuchtung. Eins der Altgummibärchen behauptete, dass es sich um einen riesigen Weihnachtsbaum und um keine Sterne handeln würde, aber die anderen Gummibärchen glaubten ihm nicht und lachten ihn für diese dreiste Behauptung aus. Im zittrigen Schein des Adventskranz-Kerzenlichts wollten sie mit weiteren Geschichten fortfahren, doch eins der jüngeren Haribos sprang plötzlich auf. "Lekumo! Da hinten ist Lekumo!", schrie es und rannte panisch und immer wieder die gleiche Worte schreiend durch Candytown. Die anderen Gummibärchen waren verunsichert, verließen den Adventskranz und beobachteten teils mit den Gummibeinen in der Schokolade stehend am Puderzuckerstrand den Ozean. Doch da war nichts. Oder etwa doch? Ja, da hinten! Eine Bewegung! Das Monster erhob sich aus der Tiefe. Die Schokolade floss an seiner Lebkuchengestalt herab. Lekumo war genau so schrecklich wie aus den Erzählungen. Brutal dreinschauende Mandelaugen, ein honigsüsses Glasurlächeln mit dem Versprechen jeden zu verschlingen, der diesem Maul zu nahe kam. Kurze runde Arme und kräftige Beine, die nur aus der Backofenhölle stammen konnten! Lange standen die Gummibärchen wie paralysiert herum und starrten das Monster an, dass immer näher kam, mit den Beinen Schokolade hochspritzen ließ und dabei furchterregend herumbrüllte. Endlich erkannten sie die Gefahr und liefend kreischend in die Stadt. In Candytown hatten sich die Nikoläuse und Fruchtgummiengel versammelt und betrachteten irritiert die flüchtenden und kreischenden Gummibärchen. Erst als Lekumo den Strand erreichte, erfassten sie die Situation. Die Nikoläuse berieten sich kurz und bewaffneten sich. Die Salzstangen nahmen sie als Speere und die Goldmünzen als Schilde. Sie bildeten eine Reihe und richteten die Speere auf das Monster aus. Ein Fruchtgummiengelchen nahm eine Mikadofackel und stürzte sich todesmutig auf Lekumo. Dieser kickte das Engelchen kraftvoll zur Seite und es purzelte durch die halbe Stadt, bis ein Lebkuchenhaus den Flug stoppte. Mit dem Kopf blieb es in einem Zuckerglasurfenster stecken. Lekumo kam brüllend auf die Nikoläuse zu, stieß ein Lebkuchenhaus zur Seite und nahm ein anderes und schleuderte es auf seine Gegner. Die Hälfte von ihnen wurde unter dem Haus begraben. Die anderen blieben zitternd auf ihrer Position, obwohl der Mut sie bereits verlassen hatte. Zwei Gummibärchen versuchten das Fruchtgummiengelchen aus dem Fenster zu ziehen, doch es gelang ihnen nicht. Als Lekumo näher kam, ergriffen sie die Flucht und überließen das Engelchen ihrem bevorstehenden Fruchtgummischicksal. Ein Nikolaus gab Befehl zum Angriff. Gemeinsam traktierten sie das Monster mit ihren Salzstangen, doch diese brachen an der undurchdringlichen Lebkuchenhaut ab und zeigten nicht die gewünschte Wirkung. Die Fruchtgummiengelchen warfen Mikadofackeln auf das lebkuchige Ungetüm. Doch Lekumo ließ sich davon nicht beeindrucken. Er nahm einen Nikolaus in eins seiner kurzen Arme und schleuderte ihn weit auf den Schokoladenozean hinaus. Die überlebenden Nikoläuse warfen ihre Salzstangen und Schokomünzschilder von sich. Einige legten sich demütig vor dem Monster auf den Boden und baten um Gnade. Die andere versteckten sich hinter Lebkuchenhäusern, Mandarinen oder Keksen. Die Fruchtgummiengel und Gummibärchen verschanzten sich in den Lebkuchenhäusern. Bis auf das Fruchtgummiengelchen, dass immer noch im Fenster steckte. Es schaffte sich allerdings aus eigener Kraft zu befreien. Lekumo beugte sich herab und wollte gerade den ersten der kapitulierenden Nikoläuse das Alu über die Ohren ziehen, um es zu verspeisen, als das Fruchtgummiengelchen heranschoss und wie wild immer wieder an den Lebkuchenfuss des Monsters trat. "Ich mache dich fertig du lebkuchige Bestie! Ich box Dir Dein Zuckerglasurgrinsen aus dem Gesicht! Verschwinde von hier und verkeks dich in den Backofen aus dem Du emporgestiegen bist du, sonst mach ich dich einen Lebkuchenkopf kürzer!" Das Lebkuchenmonster setzte an, um das Engelchen auszulachen, aber da erschien aus dem dunklen Himmel eine Hand und riss das Ungetüm fort in die Dunkelheit.

    "Kevin! Kevin! Verdammt noch mal wie sieht denn die Küche aus! Als hätte hier ein Lebkuchenmonster persönlich gewütet! Zur Strafe darfst du morgen mit Oma Kekse backen!"

    "Nein Mama, nicht mit Oma Kekse backen! Bitte nicht!", war im Candytowner Nachthimmel zu hören. Die Stadt war wieder gerettet worden! "Gepriesen sei Kevins Mutter!" schrien die Überlebenden, schmückten die Stadt neu und veranstalteten das schönste Weihnachtsfest das Candytown jemals erlebt hatte.

  • Der 6. Dezember von Marlowe


    Kasimir und seine Freunde im Kaufhausrausch


    So schnell geht also ein Jahr vorbei und ehe man sich umsieht ist schon wieder Adventszeit. Kasimir, mein Hauswichtel und inzwischen treuer Freund, wollte unbedingt mit seinen Freunden und mir in seinen Geburtstag am vierten Dezember hinein feiern.


    Alle trudelten am vergangenen Sonntag bis zum Mittagessen bei uns ein. Eine lustige Gemeinschaft war das, fröhliche Gespräche und Frotzeleien erfüllten das Wohnzimmer und wir überlegten, wie wir den Nachmittag verbringen wollten. Natürlich tranken wir Glühwein mit Schuss, Amaretto für Dorlefee, Wodka für die trinkfesten Wichtel und mich, es wurde immer lustiger. Plötzlich tauchte ein dicker großer Schatten an der Terrassentür auf. Es pochte laut und jemand rief: „Hohoho, wollt Ihr einen frierenden Mann hier draußen stehen lassen?“

    Der Weihnachtsmann stand da mit einem breiten Grinsen und freute sich über unsere verdutzten Gesichter. Also ließ ich ihn ins Zimmer und er überreichte Kasimir ein kleines Geschenk. „Aber erst morgen aufmachen, Kasimir,“ mahnte er und blickte auf den Topf mit dem heißen Glühwein.

    Ohne weitere Aufforderung reichte ich ihm eine große Tasse davon und gab einen großzügigen Schuss Wodka dazu. Alle freuten sich, denn so ein Freundschaftsbesuch war eine Seltenheit und etwas ganz Besonderes. Die Zwillingswichtel, Fridolin und Fridolar, ließen sich von Frederic von Hicksenstein in die Kunst des Degenfechtens einweihen, dabei alberten sie wie die drei Musketiere in einer Zimmerecke herum, Dorlefee schwebte herum und summte leise ein Feenlied, Kasimir nippte an seinem Glühwein und irgendwie war die Stimmung leicht gelangweilt. Ich schenkte dem Weihnachtsmann erst mal nach und dann hatte ich, wie ich glaubte, einen tollen Einfall. „Hört mal alle her,“ rief ich und als sie mich anblickten und darauf warteten, dass ich nun was Tolles sagen würde, schlug ich vor: „Heute ist doch verkaufsoffener Sonntag in Berlin, wieso gehen wir nicht in die Stadt, zum Kudamm oder so und schlendern ein wenig herum und genießen die Vorweihnachtsstimmung?“

    Der Weihnachtsmann klatschte in die Hände. „Eine sehr gute Idee, zuerst ein Besuch beim Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche und dann ab ins Kaufhaus KaDeWe. Da fallen wir nirgends auf, denn Weihnachtsmänner laufen überall herum und die Wichtel und Dorlefee vergrößern wir auf Kindergröße, da merkt dann niemand, wer wir wirklich sind.“

    Gesagt getan! Kindergröße hieß in dem Fall so zwischen 110 und 150 Zentimeter, aber ich musste zugeben, wir sahen als Gruppe toll aus. Wahrscheinlich ein beliebtes Fotomotiv, dachte ich und fragte mich, ob uns jemand auf YouTube zeigen würde. Aber egal, zunächst wurde nochmal kräftig Glühwein mit Schuss getankt, draußen waren es Minus 4 Grad, da braucht man das und dann ging es los. Eine kurzes Fingerschnippen des Weihnachtsmannes und wir standen alle zusammen abseits im Schatten einer Seitenstraße. „“Was heißt denn KaDeWe,“ wollte Dorlefee wissen. „Kann das weg,“ sagte ich und alle lachten.

    Die Stimmung war prächtig, wir eilten zum Weihnachtsmarkt, fröhliche Musik war zu hören, lachende Gesichter zu sehen und die diversen Gerüche von gebrannten Mandeln, Glühwein und Leckereien betäubten fast die Sinne Doch, das war eine gute Idee von mir, fand ich und lud alle auf einen Früchtepunsch, mit Schuss natürlich, ein.

    Als wir genug gesehen und konsumiert hatten, gingen wir zum KaDeWe, der Weihnachtsmann wollte unbedingt den dortigen “Kollegen“ beobachten. Angeblich kannte er ihn schon lange, war aber seit 12 Jahren nicht mehr dort gewesen.

    Im vierten Stock war alles auf Weihnachten dekoriert. Es war wirklich viel los. Es gab Kinderschminken, ein Ballonkünstler zauberte Ballonfiguren für die Kinder, Lebkuchen konnten verziert werden und vieles mehr. Die Kaufhausbesucher staunten uns an, wir waren ja wirklich eine bunte Truppe, aber alle dachten wohl, wir gehörten zu diesem Adventsprogramm.

    Prompt eilte eine geschäftige junge Frau auf uns zu. Auf ihrem Namensschild stand in goldenen Buchstaben “S. Schnittchen – Eventmanagerin“, sie blätterte in ihren Papieren und fragte mich: „Sind sie gebucht?“ „Natürlich,“ sagte ich, „aber wir wurden noch nicht bezahlt.“ Sie nickte verzweifelt. „Was für ein Durcheinander,“ jammerte sie.

    „Kein Problem,“ ich lächelte sie an, „wir besuchen jetzt erst mal den Weihnachtsmann.“

    Sie sah mich entsetzt an. „Um Gottes Willen, zwei Weihnachtsmänner, das geht doch nicht, die Kinder kommen dann doch ganz durcheinander!“

    „Aber nein, einer ist für die Großen, der andere für die Kleinen zuständig,“ meinte ich.

    Insgeheim dachte ich aber, dass sie natürlich Recht hatte, und suchte nach einem Ausweg. Frau Schnittchen wurde in diesem Moment angepiepst und mit den Worten, ich komme gleich wieder,“ eilte sie zum Zuckerwattestand.

    Doch das hätte nichts mehr gebracht, denn mein Weihnachtsmann hatte den anderen erspäht und eilte zu der Menschentraube vor dem reservierten Platz mit dem goldenen Sessel, auf dem der KaDeWe-Weihnachtsmann saß. Mein Weihnachtsmann stand da wie erstarrt und hörte den Gesprächen zwischen Weihnachtsmann und Kindern zu.

    Der sprach gerade mit einem Mädchen, der kleinen Betty, die sich ein Pony wünschte. Er versprach sich um alles zu kümmern, gab dem Mädchen eine Tüte mit Süßigkeiten und winkte dem nächsten Kind, Manfred. Der wollte einen Kampfroboter und so ging es weiter mit den anderen Kindern. Maria wünschte sich ein Einhorn und Bernd wollte einen Dinosaurier, Ich sah, wie mein Weihnachtmann immer wieder zusammenzuckte und zorniger wurde. Er sah mich an und schimpfte: „Das ist doch nicht mein Freund Peter Georgi, der Typ da ist ein Stümper, ohne Gefühl für die armen Kinder, wo ist Peter?“

    „Dem wurde vor neun oder 10 Jahren gekündigt,“ sagte ich, „dem KaDeWe war er mit 73 Jahren zu alt.“

    Der Weihnachtsmann wurde richtig sauer. Er schnaubte wie ein widerwilliges Rentier, schwankte dabei aber wie ein gut betankter Leichtmatrose. Plötzlich fand ich meine Idee für diesen Ausflug doch nicht mehr so gut.

    „So geht das nicht,“ murmelte der Weihnachtsmann und schnippte mit den Fingern, was immer er wollte, klappte aber nicht, denn Dorlefee hatte ihm Zuckerwatte gegeben, die er mit den Fingern in den Mund gesteckt hatte und nun klebten die Finger aneinander.

    Er sprang mit einem Satz vor den anderen Weihnachtsmann und rief: „Aufhören, aufhören, sofort aufhören!“ Dabei tanzte und schwankte er hin und her und schnippte verzweifelt mit den Fingern. Aber die Magie ließ sich Zeit, irgendwie klappte es nicht mit den verklebten Fingern. Weiter hinten sah ich Frau Sahneschnittchen, wie ich sie heimlich getauft hatte, verzweifelt den Wachmännern winken, sie sollten sofort herkommen und wohl den verrückten Weihnachtsmann stoppen. Die Situation eskalierte also und ich sah einfach keinen Ausweg.

    Inzwischen war der Weihnachtsmann, also der echte, auf die Idee gekommen, mit der linken sauberen Hand zu schnippen und der unechte Weihnachtsmann verschwand. Mein Weihnachtsmann plumpste auf den goldenen Sessel und rief laut: „So, Betty, nun komm mal zu mir.“ Betty, die wie alle anderen Zuschauer mit staunenden Augen das alles sahen, lief zum Weihnachtsmann und der sagte nun: „Du wünschst Dir ein Pony, dann sollst Du nun eines bekommen.“ Er schnippte wieder und zack, erschien ein echtes, lebendes Pony mit Zaumzeug neben Betty und wieherte.

    „Siehst Du, so werden Wünsche wahr, gefällt es Dir?“ Betty nickte begeistert. „Wie soll es denn heißen,“ fragte der Weihnachtmann. Betty überlegte nicht lange. „Lasagne,“ sagte sie. Dabei grinste sie etwas und ich fand sie plötzlich nicht mehr so nett.

    Aber dem Weihnachtsmann sagte das nichts und deshalb nickte er nur. „Ein schöner Name,“ meinte er und dann, „Manfred, kleiner Racker, komm zu mir.“ Der kam mit leuchtenden Augen und wieder schnippte der Weihnachtsmann und zack, stand da ein Kampfroboter, groß und stark, gefährlich und bedrohlich, wie so ein Kerl eben ausschauen muss. Und wieder ein Schnippen und ich sah zum ersten Mal ein lebendes Einhorn neben der kleinen Maria, die vor Freude juchzte.

    Mir wurde schlecht, denn als nächstes käme jetzt der Dinosaurier für Bernd an die Reihe.

    Das Pony wieherte, der Kampfroboter fuchtelte mit seinen bewaffneten Armen und gab gefährliche Geräusche von sich, das Einhorn sprang verschreckt zur Seite, alle Leute darum herum wichen zurück und in diesem Augenblick versuchten die Wachmänner, sich auf den Weihnachtsmann zu stürzen.

    „Ha, so nicht,“ rief er und dann mit ganz lauter Stimme, „Trollkommando hierher!“

    Und aus dem Nichts purzelten die Trolle aus dem Weihnachtsland, mit ihrem Anführer Zumbur vorneweg, von der Decke herab und stürzten sich nun ihrerseits auf die Wachmänner.

    Es war ein Chaos und riesiges Durcheinander. Das Pony und das Einhorn liefen gemeinsam durch den breiten Mittelgang und die Menschen sprangen zur Seite. Ich sah wie Regale umfielen, der Zuckerwattestand flog bis zu den Kinderschminkern, die Kinder kreischten und schrien, der Roboter lief mit kreisenden Kampfarmen hinter einem Wachmann her, weil Manfred ihm das wohl befohlen hatte. Der Wachmann floh in eine Toilette und der Roboter hämmerte gegen die Tür und würde sie gleich einschlagen.

    Überall rauften die Trolle mit den Wachmännern, Dorlefee versuchte den Weihnachtsmann aus den Sessel zu schubsen, die Wichtel klammerten sich gerade an seine Arme und versuchten mit gemeinsamen Kräften, ihn hochzuziehen. Frederic von Hicksenstein wehrte mit seinem Degen einen Wachmann mit Elektroschocker ab, er schlug sich wirklich tapfer, ich tastete in meiner Jackentasche, als würde dort die Lösung für diese verzwickte Lage zu finden sein und tatsächlich, dort war sie wirklich.

    Melina, die Feenkönigin hatte mir doch eine kleine goldene Schachtel mit einem freien Wunsch darin geschenkt, die nahm ich immer mit, man konnte ja nie wissen, wann einem ein Wunsch überkam.

    Ich nahm die Schachtel, öffnete sie und wünschte mir, dass wir alle wieder in meinem Wohnzimmer waren, bevor ich den Vorschlag mit dem Ausflug machte. Und ZACK, alles Chaos um mich herum verschwand und wir alle saßen und standen wieder in meinem Wohnzimmer, als wäre nichts geschehen.

    Kasimir nippte an seinem Glühwein und irgendwie war die Stimmung leicht gelangweilt. Ich schenkte dem Weihnachtsmann erst mal nach und dann hatte ich, wie ich glaubte, einen tollen Einfall.

    „Hört mal alle her,“ rief ich, „jeder darf ein Spiel vorschlagen und das spielen wir dann auch, bis Kasimir Geburtstag hat.


    Es wurde ein lustiger Tag, außer mir schien sich niemand daran zu erinnern, was geschehen war. Aber gegen Mitternacht hörte ich Melinas Stimme, die zu mir sagte: „Gut gemacht, Marlowe, jetzt sind in der Schachtel zwei freie Wünsche für Dich.“


    Tja, was soll ich sagen, vorsichtshalber schaute ich auf YouTube am nächsten Tag nach, aber da war nichts zu finden. Irgendwie schade, denn ehrlich, das war in aufregender Tag gewesen, leider in der Erinnerung aber nur noch für mich. Und Euch natürlich, denen ich es erzählt habe. Bis zum nächsten Jahr!

  • Der 7. Dezember von Kristin Lange


    Mutti schmückt den Weihnachtsbaum


    Mutti wohnt schon lange allein in dem großen Haus. Längst sind alle ausgezogen, nach Remscheid und hinter den Mond, das ist alles ein bisschen weit. Ein scheußlicher Dezember. Wenn Mutti den Müll hinausbringt, peitscht nadelfeiner, eisiger Regen ihr ins Gesicht. Auf dem Weg zum Supermarkt treiben Nordwind und Graupelschauer sie vor sich her, reißen ihr auf dem Rückweg mit den schweren Taschen die Flüche aus dem Hals. Dazu die täglichen Nachrichten: Andauernd wird alles in die Luft gesprengt oder privatisiert oder gleich abgeschafft, oder irgendetwas frischt in Schauernähe böig auf. Mutti kann bald nicht mehr.


    In der Nacht zum ersten Dezember, einem Freitag, träumt sie, dass sie versucht, im Garten einen Schnee-Engel zu bauen. Der Schnee taugt nicht für das Vorhaben, schmutziger Matsch quillt zwischen Muttis Fingern hervor, und sie ärgert sich, dass sie ihre beste geblümte Kittelschürze umhat. Tatsächlich ist Muttis Engel, als sie vor ihm steht, hässlich und konturlos, ein Matschengel – bis der Abdruck von den Rändern her gefriert: Mutti erwacht mit dem Eindruck von Sonne und Kälte, von zartrosa und blauen Flügeln mit Glitter an den Spitzen, genau wie auf den Bildchen, die Mutti und ihre Freundinnen früher auf dem Pausenhof tauschten, kitschig und wunderschön.


    Etwas Wunderschönes, das braucht Mutti jetzt! Sie beschließt, dieses Jahr wieder einen Weihnachtsbaum zu schmücken, Remscheid hin, Mond her, und ihn jeden Tag mit etwas Besonderem zu verzieren. Hinterm Haus drängt der Lebensbaum des Nachbarn durch eine Zaunlücke in Muttis Garten. Sie nimmt den Traum von dem Engel, trägt ihn hinaus und setzt in vorsichtig auf einen Zweig des vorwitzigen Baums.


    Am Samstag entsinnt sie sich des Tee-Adventskalenders, den sie vor ewigen Zeiten beim Wichteln mit den früheren Kolleginnen einmal bekommen hat. Ganz hinten im Schrank findet sie die Packung und hängt alle vierundzwanzig Teebeutel an die Zweige des Lebensbaums, wo sie ihren schwachen Restduft verströmen, Zimt-Kardamom, Hüttenzauber-Glühpunsch, Marzipan-Anis.


    Am stockdunklen Morgen des ersten Advents wirft Mutti ein Kilo bunten Weihnachtsquatsch über den Baum: Mandarinen, große Erwartungen, Zuckerkränze, Glockenläuten, mit Likör gefüllte Stiefelchen.


    Am Montag der zweiten Adventswoche kommt ein Weihnachtsgedicht an den Baum, das die, die jetzt in Remscheid wohnt, einst in der Schule auswendig lernte. Tausend Strophen und kein Ende, Mutti hat ihre liebe Not, die sich sträubende Wortgirlande aus Zimmetstern und Mandelkern und Lichterglanz und Firlefanz in die Zweige zu winden.


    Am Dienstag und am Mittwoch: Geschenke. All die Geschenke, die Mutti bekam! – ein Roboter aus silbrig besprühten Pappschachteln, eine Armee wattebärtiger Wichtel aus Klopapierrollen, einmal sogar der Neujahrskalender und eine Flasche Pflaumenwein vom Chinesen!


    Am Donnerstag: die Zuckerwatte, die die Kleine auf dem Weihnachtsmarkt vom Holzstab riss und sich als Nikolausbart umhängte. Wie Mutti da geschimpft und wie das Kind geklebt hat!


    Am Freitag: die Schatten der Weihnachtspyramide. Sie wurden vom Licht der Pyramidenkerzen an die Wohnzimmerdecke geworfen und die Kleine bestaunte an ihrem ersten Baby-Weihnachten stundenlang das sich drehende Wunder hoch droben.


    Am Samstag hängt Mutti kein Lametta auf. Keins vom Vorjahr und kein neu gekauftes, kein verknotetes, kein glattes, nicht mehr Lametta oder weniger Lametta, sondern kein Lametta, basta. Mutti hasst Lametta.


    Am zweiten Advent hängt Mutti das Adventskalendertürchen in den Baum, das sie sich ihr Kinderleben lang gewünscht hat. Das Türchen, das etwas anderes offenbaren würde als die immergleichen gemalten Schlitten und Tannenzweige oder die nach Pappe schmeckenden Schokoladensterne.


    In der dritten Adventswoche wirft die Grippe Mutti aufs Krankenlager. Statt weihnachtlich ist ihr weinerlich zumute. In ihren nächtlichen Fieberträumen fantasiert sie, was sie alles in den Baum hängen wird, wenn sie wieder bei Kräften ist.

    In den Nachrichten explodiert weiterhin alles, oder so gut wie alles: militärische und zivile Ziele, die Lebenshaltungskosten, die Wut der Bürger. Mutti kann keine Abhilfe schaffen, krank wie sie ist zum einen und zum anderen ohnehin nicht, und beschimpft matt den Fernseher.


    Pünktlich zum zweiten Advent bekommt Mutti wieder Appetit, und zwar auf Sülze. Sie kramt in der Speisekammer, findet außer dem Glas mit Sülze ihre Lebensgeister wieder, schnappt sich eine Handvoll von ihnen und wirft sie draußen über die Zweige des Baums, wo sie hängenbleiben wie bleiche, aufgespießte Häutchen.

    Hungrig verspeist sie die Sülze. Womit sie ihren Baum schmücken wollte, weiß sie nicht mehr. Und so landen im Baum bloß einige schräge Töne aus Muttis Kinderblockflöte damals, die vielleicht Vom Himmel hoch ergeben, oder auch In dulci jubilo, sowie der Husten, der Mutti leider immer noch quält. Da hängt er nun im Baum, der Husten, ziemlich weit oben, ein raues und eher unweihnachtliches Bellen. Als Entschädigung für die verlorene Woche hängt Mutti noch ein prächtiges, kugelrundes, in allen Farben schillerndes Nichts an den Baum.


    In der Nacht zum dritten Advent hat sich Raureif über alles gelegt. Der Garten ist ganz verzaubert. Mutti auch. „Der Rau-Ralf!“ pflegte der, der jetzt hinter dem Mond wohnt, zu kalauern. Der Rau-Ralf muss unbedingt mit auf den Baum, entscheidet Mutti, aber sie braucht sich nicht zu bemühen, denn er überzieht ja schon jeden Zweig und jede Nadel.


    Auch in der vierten Adventswoche muss Mutti den Fernseher häufig anschnauzen. Ist überhaupt noch etwas da, was explodieren oder untergehen kann?

    In den Baum hängt sie:

    Am Montag den Duft der besten heißen Schokolade, die sie je gekostet hat. Der, der jetzt hinter dem Mond wohnt, machte ein Riesengeheimnis um das Rezept. Irgendwann fand Mutti das Einwickelpapier der ganzen Tafel Nuss-Nugat-Schokolade, die er mit einem bisschen Milch auf zwei Tässchen verteilt hatte.



    Am Dienstag einen Rausch, den er einmal von einer Weihnachtsfeier in der Firma mitbrachte – aber was für einen! Mutti wundert sich. Was soll an der Erinnerung an einen Rausch samt grässlichem Kater schön oder lustig sein?


    Am Mittwoch eine Krippe in einer leeren Tunfischdose. Die heilige Familie mit Ochs und Esel, fingernagelwinzig. Dass sie sich an die erinnert! „Das Jesulein in feinem Pflanzenöl“, sagte der, der jetzt hinter dem Mond wohnt, als sie die Krippe auf Mallorca auf dem Kunst- und Bauernmarkt entdeckten. Er weigerte sich aber, die Bastelei zu kaufen. Mutti hängt die Erinnerung an die Krippe auf und lacht ein bisschen. Dann weint sie ein bisschen. Sie hätte auf dem niedlichen Jesulein bestehen sollen.


    Am Donnerstag etwas, was gar nichts mit Weihnachten, dafür aber sehr viel mit dem zu tun hat, der jetzt hinter dem Mond wohnt. Außer Mutti geht das niemanden etwas an, auch nicht den Mond.


    Am Freitag ist Mutti entsprechend müde, aber auf gute Weise. Sie hängt ein großes Gähnen in den Baum. Als von Nordwesten neue Tiefausläufer nahen, schaltet Mutti zur Strafe den Fernseher aus. Nun ist Ruhe!


    Am Samstag vor dem Vierten Advent möchte Mutti es auch endlich einmal festlich haben. Geschenke hat sie keine einzupacken, also zündet sie nur eine Kerze an, stippt Nussprinten in Sprühsahne und lauscht im Radio dem Weihnachtsoratorium. Kleine Stückchen Haselnuss mogeln sich unter die Dritten. Mutti klappert ein bisschen mit den Zähnen, gemütlich ist das. Sie nimmt die Hirtensinfonie aus dem Oratorium und flicht sie im dunklen Garten in die Zweige.


    Dann ist der Vierte Advent da und mit ihm der Heilige Abend. Gegen Mittag kommt der alljährliche Anruf aus Remscheid. Als es dämmert, trägt Mutti ihn hinaus und legt ihn als allerletzten Schmuck um die Zweige. Das geht eigentlich fix, der Anruf ist kurz, aber Mutti rückt ihn zurecht, schiebt hier und zupft da.

    Tritt einen Schritt zurück und betrachtet ihr Werk.

    Muttis Weihnachtsbaum ist der schönste der Welt und beinahe der schönste ihres Lebens. Das Nichts dreht sich sacht und schillert in allen Farben, die Lebensgeister kichern, der Rau-Ralf und der Anruf aus Remscheid knistern um die Wette, der Husten bellt Ho-ho-ho, der Schnee-Engel glitzert geheimnisvoll, kein Lametta glitzert gar nicht, das Jesulein aalt sich in feinem Pflanzenöl, die Gedichtgirlande raunt und leiert und verheddert sich, die schrägen Blockflötenklänge vermischen sich aufs Wunderlichste mit der Hirtensinfonie und dem Läuten der Glocken, und das Adventskalendertürchen hält sich verheißungsvoll verschlossen. Über allem liegt der Duft nach heißer Schokolade mit einer schwachen Note von grünem Tee mit Lebkuchengewürz.

    Mutti hebt ihr Glas. „Fröhliche Weihnachten“, flüstert sie und fügt, etwas boshaft, hinzu: „Eckes Edelkirsch.“

    „Hör auf“, stöhnt der, der hinter dem Mond wohnt. „Ich trink nie wieder was.“

    Dann lacht er, wie eigentlich fast immer.

    Alles tönt und träumt, und Mutti summt In dulci jubilo und probiert einen Schluck Likör.

  • Der 8. Dezember von SiCollier


    Der letzte Zug


    Schon seit etlichen Jahren ist es (eher schlechter denn guter) Brauch geworden, daß die Weihnachtsausgabe einer Modellbahnzeitschrift (und nicht nur dieser) schon im Januar erscheint. Also nicht im Januar des entsprechenden Weihnachtsjahres, sondern die Januarausgabe für beispielsweise 2024 erscheint im Dezember 2023 und enthält die Weihnachtsthemen. Was natürlich besonders sinnvoll ist, wenn eine Weihnachtsanlage vorstellt wird - andererseits hat man dann ein Jahr Zeit zum Nachbauen, denn zu diesem Weihnachten wird es nicht mehr reichen. Aber darum geht es eigentlich gar nicht.


    Es war also die Januarausgabe 2023 des N-Bahn Magazins, die rechtzeitig zu Weihnachten 2022 erschien, in der ich einen Bauvorschlag für eine kleine Weihnachtsanlage, die auch als Adventskranz fungieren kann, fand. Nichts Besonderes eigentlich. Doch in meinen Gedanken begannen es zu rumoren, in den Tiefen des Gedächtsnisses zu suchen, immer weiter Jahr um Jahr zurück - neunundfünfzig Jahre, um genau zu sein. Es war Weihnachten anno domini 1963. Unter dem Weihnachtsbaum fand sich eine TRIX EXPRESS Startpackung für eine H0 Modelleisenbahn. Eine kleine Dampflok der Baureihe 80, drei Güterwagen, ein Gleisoval, ein Trafo, von denen nur die Lok und der Trafo die Zeiten bis heute überdauert haben.


    Der erste Zug.


    Ich sehe es vor meinem geistigen Auge, als ob es erst gestern gewesen wäre, wie der kleine Güterzug unermüdlich seine Runden drehte, das Oval bald um eine Weiche mit Nebengleis erweitert wurde und damit eine Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die bis heute anhält.


    Der erste Zug.


    Unwillkürlich kommt mir eine Parallele in den Sinn. So, wie das Leben klein beginnt und dann mehr oder weniger langsam oder auch schnell wächst, so war es mit der Eisenbahn. So, wie es im Leben verschiedene Phasen gibt, so durchläuft das Wachstum einer Modellbahn (bzw. eines Modellbahners) verschiedene Phasen. Entwickelt sich, geht Irrwege, geht Umwege, versucht auf krummen Wegen gerade zu fahren (was natürlich nicht funktionieren kann). Wird größer, länger, schwerer, mit immer mehr Ballast beladen, der an Stationen dann teilweise „abgeworfen“ werden kann.


    Irgendwann reicht ein Zug nicht mehr, es kommt ein zweiter hinzu, mit vereinter Kraft geht es voran. Im Leben nennt man so etwas dann wohl Familiengründung.


    Der zweite Zug.


    Mit vereinten Kräften geht es nun voran. Höhen und Tiefen, helle Täler und dunkle Tunnel werden durchfahren. Manches Schöne, manches Schmerzliche zieht an einem vorbei. Unaufhörlich schreitet die Zeit voran, und so wie eine Lok im Laufe ihres Lebens altert, so altert man selbst auch. Die „volle Fahrt“ ist nicht mehr so „voll“, es machen sich erste Verschleißerscheinungen bemerkbar. Was man vor ein paar Jahren noch „mit links“ erledigt hat, entpuppt sich, ehe man sichs versieht, als anstrengend. Man sieht aus dem Fenster und stellt mehr oder weniger überrascht fest, wie viele Erinnerungen man im Laufe der Jahre angehäuft hat. „Weißt du noch…“, „Ja früher…“. Seltsam. Es schleichen sich Redewendungen ein, die man früher von den Eltern gehört hatte und nie so recht nachvollziehen konnte. Und nun benutzt man die selbst? Ist man schon so alt?


    Der zweite Zug.


    Mit enormem Tempo raste er dahin - durch die Landschaft, durch das Leben. Irgendwann kommt von ferne ein Bahnhof in Sicht und man weiß, dieser Zug erreicht sein Ziel, für die Weiterfahrt ist umsteigen angesagt.


    Der dritte Zug.


    „Der dritte Zug.“ Genau das war unwillkürlich mein Gedanke, als ich jetzt wieder den zu Beginn erwähnten Bildbericht über eine kleine Weihnachtsanlage mit einem Adventsmarkt im Schnee sah. Schon länger war ich am Überlegen, aus Platzgründen von H0 auf N umzusteigen - und das war die Idee. Eine kleine Anlage zum Ausprobieren, ob ich mit dem kleinen Maßstab zurecht komme und im Nebeneffekt eine „Weihnachtsdeko“ erschaffen. Je mehr ich mich damit beschäftigte, je mehr fielen mir die Parallelen zum Weihnachten vor nunmehr sechzig Jahren auf. Es ging zurück zu den Anfängen. Was klein begonnen hatte, wuchs, größer wurde, kehrte zurück zum Anfang, wurde wieder klein. Der Kreis schließt sich.


    Der dritte Zug.


    Das just zu dem Zeitpunkt, da mein berufliches Leben dem Ende entgegen geht und ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Einer, den man gemeinhin mit dem letzten bezeichnet.


    Der letzte Zug.


    Irgendwann findet jede Reise ihr Ende. Sei es die eines Zuges, sei es die des Lebens. Klein begonnen, sich im Leben mehr oder weniger erfolgreich ausgebreitet, nähert sich schließlich der Zeitpunkt, da es wieder Richtung „kleiner“ geht. Mehr und mehr schweifen die Gedanken - nun eher Richtung Vergangenheit denn Richtung Zukunft. Es kommen Fixpunkte ins Gedächtmis, die sehr oft mit Weihnachtsfesten verbunden sind. Wie war das damals noch, als auf dem Baum richtige, echte Kerzen brannten - einen Wassereimer stets in greifbarer Nähe? War es nicht gestern (oder höchstens erst Vorgestern), da man des Abends gespannt aus dem Fenster sah, ob man denn das Christkind auf dem Schlitten durch die Lüfte fliegen erblicken würde? Und dann klopfte es unheimlich im verschlossenen Wohnzimmer, obwohl alle Familienmitglieder in der Küche versammelt waren. Wenn man sich diese Erinnerungen ins Gedächtnis zurück ruft, ist es vermutlich an der Zeit zuzugeben: man ist alt geworden. (Ob auch weise, sei hier dahingestellt.)


    Der letzte Zug ist also bestiegen.


    Wenn dieser einst zum Stehen kommt, ist auch die Lebensreise zu Ende. Aber bis dahin dauert es hoffentlich noch eine Weile. Zeit also, die melancholischen Gedanken ins Hinterstübchen zu verbannen und sich erfreulicheren Dingen zuzuwenden. Beispielsweise der Weihnachtsanlage aus der Januar-Ausgabe der Zeitschrift, die sich jetzt, Anfang Dezember, noch beginnen und durchaus bis Weihnachten fertigstellen läßt. Auf daß auch an diesem Weihnachten ein Zug fahren kann (wenn das schon bei der DB nicht so recht klappen will).


    Denn auch der letzte Zug hat, bevor er seinen Zielbahnhof erreicht, seine schönen Stationen.


    PS. Am 2. Dezember war, seinerzeit initiiert vom „Mr. Eisenbahn Romantik“ Hagen von Ortloff der „Tag der Modellbahn“. Was einst groß begonnen, scheint - sieht man sich die Webseite zum Tag an - schon wieder ins Stocken geraten. Wie bei der Bahn halt üblich...

  • Der 9. Dezember von Tilia Salix


    Ein entspanntes Weihnachtsfest

    (nach einer fast wahren Begebenheit)


    Mit quietschenden Reifen rauscht Molly in die Tiefgarage. Schon viertel nach elf, das wird sie niemals

    rechtzeitig schaffen! Schon der Einkauf war eine einzige Katastrophe, der Supermarkt voller

    Menschen, die offenbar alle die gleichen Dinge wie sie auf ihrem Einkaufszettel stehen hatten. Nur

    mit Mühe hatte sie sich eine der letzten Tüten mit gemahlenen Mandeln sichern können und den

    Puderzucker hatte sie – sie konnte es selbst kaum glauben – wirklich aus einem abgestellten

    Einkaufswagen gemopst. Sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen deswegen, aber Torsten hatte

    sie schon vor Tagen daran erinnert, dass sie unbedingt noch Zimtsterne backen müssten, denn

    Weihnachten ohne Zimtsterne, das ginge nun gar nicht. Ja, sie hatte zugestimmt, obwohl sie

    insgeheim Vanillekipferl viel leckerer fand, aber über Plätzchen diskutierte Torsten nicht. Und dann

    hatte sie bei jedem Einkauf die blöden Mandeln vergessen und heute Morgen war ihr dann auch

    noch beim Suchen, ob nicht vielleicht irgendwo ganz hinten im Schrank noch ein Rest Mandeln zu

    finden wäre, das angefangene Päckchen Puderzucker herunter gefallen. Natürlich auf dem Kopf,

    natürlich war alles ausgekippt – und natürlich war Helwina, die Boxerhündin, durchgelaufen und

    hatte den Zucker in der ganzen Wohnung verteilt. Also hatte Molly schnell noch gesaugt, obwohl sie

    in der Zeit eigentlich eine Yoga-Einheit hatte einlegen wollen, um ihre Stressresilienz zu puschen und

    die anstehenden Feiertage in ihrer emotionalen Mitte ruhend überstehen zu können.

    Glücklicherweise stand der Einkauf eh auf dem Tagesplan, denn Torsten fand, den Aufschnitt sollte

    man möglichst frisch besorgen und dann könnte man auch gleich noch beim Bäcker das leckere

    Vollkornbrot besorgen, das er so gerne aß. Den Einkauf hatte Molly in Rekordzeit hinter sich gebracht

    und dabei nicht einmal den Autoschlüssel verloren, nicht wie letztes Jahr, als sie den Schlüssel bei

    Aldi in der Tiefkühltruhe verloren hatte, was ihr erst aufgefallen war, als sie mit vollem

    Einkaufswagen vor dem abgeschlossenen Auto stand. Nun musste sie nur noch schnell hoch ins Büro,

    den Abschlussbericht ausdrucken und vorher natürlich noch die letzten Zahlen der Woche ergänzen.

    Das hatte sie gestern einfach nicht mehr geschafft, länger bleiben ging nicht, sie hatte ja die Wäsche

    noch machen müssen, denn die weihnachtlichen Tischläufer durften natürlich auch in diesem Jahr

    nicht fehlen. Hätten sie auch nicht, hätte sich Olga, die Perserkatze, nicht gestern Morgen

    ausgerechnet den Esstisch zum Erbrechen der Tannennadeln ausgesucht. Zum Glück war der

    Adventskranz nicht allzu sehr verunstaltet, die angekauten Schleifen fielen nur auf, wenn man sehr

    genau hinschaute. Und glücklicherweise hatte Olga die Nadeln ausgebrochen, denn die waren für

    Katzen giftig, was Torsten aber nicht davon abhielt, jedes Jahr auf einen Adventskranz aus

    Tannengrün zu bestehen, denn ohne war weihnachtliche Vorfreude undenkbar. Ein Besuch beim

    Tierarzt war jedenfalls das letzte, was Molly heute gebrauchen konnte! Molly schnappte sich ihre

    Handtasche und den Büroschlüssel, schloss das Auto ab und hastete durch die Tiefgarage. Hatte sie

    den Autoschlüssel mitgenommen? Ja, hier in der Manteltasche war er ja! Schnell die Tür

    aufgeschlossen und durch das dunkle Treppenhaus, das Licht der Notausgangsschilder erhellte die

    Gänge leidlich. Zwei Treppen nach oben und die Tür zum Büroflur aufgeschlossen, dann schnell Licht

    an und ab zum Schreibtisch. Den Rechner hochgefahren, ein Blick auf die Armbanduhr. 20 nach 11,

    das wird knapp! Torsten durfte auf gar keinen Fall Verdacht schöpfen, dass sie heute, am 24.

    Dezember noch mal ins Büro gefahren war, um eine Arbeit, die sie eigentlich schon vor Tagen hätte

    abgeben sollen, heute noch fertig zu stellen. Den Vortrag über Zeitmanagement und richtige

    Priorisierung konnte sie heute wirklich nicht gebrauchen! Während das Programm im Hintergrund

    startete, warf sie einen Blick in ihr E-Mail-Fach und fluchte. Die Anfrage der Kollegin aus der

    Buchhaltung, die hatte sie komplett vergessen, das musste sie jetzt auch noch schnell erledigen. Zum

    Glück hatte sie die gewünschte Tabelle schon vorliegen, nur die Formatierung war noch nicht ganz

    richtig …


    Eine dreiviertel Stunde später hatte Molly die E-Mail der Kollegin beantwortet, die Zahlen für den

    anstehenden Bericht aus den Reports gezogen, den Papierstau am Drucker beseitigt und die leere

    Farbpatrone für Magenta gewechselt, ohne die der Drucker sich leider nicht in der Lage sah, den

    schwarz-weißen Bericht zu drucken. Molly spürte, wie ihr Deo langsam die Contenance verlor, knallte

    den Bericht in den Hefter und legte ihn auf dem Schreibtisch ihres Chefs ab. Beim Herunterfahren

    des Rechners teilte ihr der PC mit, dass 3 Updates installiert würden und sie den Rechner bitte nicht

    ausschalten solle. Molly zeigte dem Monitor den Mittelfinger und drückte auf den Kippschalter der

    Steckerleiste. Es reichte, sie wollte jetzt endlich nach Hause, der Kartoffelsalat und die blöden

    Zimtsterne warteten auf sie. Hastig warf sie sich Mantel, Schal und Mütze über und war schon auf

    dem Weg ins Treppenhaus, als ihr plötzlich klar wurde, dass sie nicht wusste, wo sie den

    Autoschlüssel gelassen ha … Ach, hier, in der Manteltasche, da war er ja! Jetzt aber schnell! Die Tür

    zum Bürotrakt schlug hinter ihr zu, und während Molly die Treppen herunter hastete, überlegte sie,

    ob sie eigentlich noch genügend Kartoffeln für den Salat da hatten. Sie stieß die Tür in die Tiefgarage

    auf und warf einen Blick auf die Uhr: kurz nach 12, da könnte sie notfalls noch welche besorgen. Der

    Knall der schweren Tür hallte durch die leere Tiefgarage. Nur Mollys kleiner Seat stand auf seinem

    üblichen Platz hinter Säule 3. Sie hastete auf ihr Auto zu und griff nach ihrer Handtasche, um den

    Autoschlüssel zu holen. „Verdammter Mist!“ Sie hatte die Handtasche im Büro liegen lassen! „Wenn

    dein Kopf nicht angewachsen wäre …“ murmelte sie vor sich hin und ging zurück zur Treppenhaustür.

    Die geschlossen war.

    Und von ihrer Seite gab es keine Klinke, nur einen Knauf. Aber dafür hatte sie ja einen Schlüssel. Der,

    wie ihr jetzt klar wurde, in ihrer Handtasche lag. Neben dem Handy. Und ihrer Geldbörse. Molly

    stöhnte und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Warum nur passierten solche Dinge immer

    ihr?! Wenn sie wenigstens ins Auto könnte, aber der Schlüssel war ja … „In deiner Manteltasche, du

    dumme Nuss“, schalt sie sich selbst und zog triumphierend den Schlüssel aus der Tasche. Von wegen,

    sie würde ständig was verlieren! Ha! Kurz darauf saß sie hinter dem Lenkrad und hielt auf die

    Ausfahrt zu. Vor dem geschlossenen Tor hielt sie an und drückte auf den Knopf, der das Garagentor

    öffnen würde. Das Tor rührte sich nicht vom Fleck. Molly starrte es entgeistert an. Das durfte doch

    einfach nicht wahr sein!

    Eine Viertelstunde später war es endgültig klar: egal, wie oft Molly auf den Kopf drückte, egal, wie

    sehr sie am Tor rüttelte, es rührte sich nicht von der Stelle. Molly saß fest. Am 24. Dezember. In der

    Tiefgarage. Ohne Handy, ohne Geld. Und keiner wusste, dass sie hier war.


    Immerhin würde sie nicht verhungern, die Einkäufe waren ja im Auto. Und das Buch „Der

    Mitternachtsmörder“ für Tante Hilde, ein hochgelobter Krimi, den Molly eigentlich selbst gern lesen

    würde, wenn sie denn die Zeit dazu hätte …


    Der Hausmeister, der am späten Nachmittag noch mal vorbei schaute, fand Molly auf der Rückbank

    ihres Autos, inmitten von Schokoladenpapier, wo sie im Schneidersitz saß, dann und wann einen

    Schluck aus einer Saftflasche nahm und kurz davor stand, zu erfahren, wer hinter den

    Mitternachtmorden steckte. Nur noch 42 Seiten …

  • Der 10. Dezember von Claudia Kociucki


    Heilands heiligs Milchvieh


    Seit mehr als einer Stunde schon saß Alt-Bäuerin Luise Huber in dem winzigen Bad Reichenhaller Reisebüro und fragte sich, ob der „Buab“ dort hinter der Theke überhaupt eine Ahnung von dem hatte, was er da tat. Wie konnte er auch? Der Eder-Flori musste doch höchstens … War der Dreikäsehoch nicht gerade erst mit der Mittelschule fertig geworden? Hach, wie die Zeit verging.


    Vor zehn Jahren war sie das letzte Mal hier im Geschäft gewesen und hatte – noch beim alten Joseph Eder – eine Busreise für sich und ihren Alfred gebucht. Gott hab ihn selig! (Also ihren Alfred, nicht den Eder-Joseph, der lebte ja noch!) Ihre Kinder, Enkelkinder und Geschwister hatten ihnen die Fahrt nach Rom zur Goldenen Hochzeit geschenkt. Gottes Segen wollten sie sich im Vatikan abholen. Und nun war es vorbei mit ihm. (Also nicht mit dem Vatikan, Grundgütiger, nein, mit dem Alfred!)


    Oma Luise wischte sich eine Träne aus dem Auge, strich ihre Dirndlschürze glatt und richtete eine Haarnadel in ihrem sorgsam geflochtenen silbergrauen Haarkranz. Das Leben ging weiter, und sie wollte nicht mit Gott und ihrem Schicksal hadern. Womit die rüstige Rentnerin aus der lokalen Agrar-Branche allerdings haderte, war der junge Mann, der ihr gegenübersaß und ständig auf diese … diese Computer-Maschine starrte. Neumodischer Kram, der!


    Früher, ja früher, da hatte es noch stapelweise bunte Prospekte gegeben! Die nahm man in Ruhe mit nach Hause auf den Hof, blätterte sie vor und zurück und kreuzte nach reiflicher Überlegung und hitzigen Diskussionen am Kaffeetisch das Gewünschte an. Die betreffenden Seiten riss man aus dem Katalog heraus, brachte sie zurück ins Reisebüro, der alte Ederer telefonierte dann stundenlang mit irgendwem in irgendwo und am Ende trug man feierlich die hochheiligen Fahrscheine und Hotelreservierungen nach Hause. So lief das in der guten alten Zeit! Doch seit der Alte schweren Herzens das Reisebüro an seinen Enkel Florian übergeben hatte, schien alles anders zu sein.


    Die Huberin wartete geduldig. Irgendwann lugte Gesicht des jungen Reisebüro-Inhabers wieder hinter dem Bildschirm hervor, und er schob ihr eine Mappe mit allerlei Kleingedrucktem hin. Aus ihrem neuen braunen Lederbeutel kramte die alte Dame einen großen Umschlag hervor. Die versammelten Hubers hatten zu Luises 80. Geburtstag wieder einmal Geld für eine Reise gesammelt.


    Florian Eder hatte noch nie so viele zu Schmetterlingen gefaltete Banknoten und glänzende Eurostücke auf einen Haufen gesehen, geschweige denn so viel Bargeld in seiner Kasse gestapelt. Die Zeiten waren vorbei!


    Als der fällige Gesamtbetrag schließlich beglichen war, nahm die Seniorin ihre Reiseunterlagen an sich und bedankte sich pflichtschuldig. Dieser junge Mann war zwar sehr bemüht gewesen, das musste sie zugeben, aber er hatte dermaßen leise gesprochen … Dem Herrn sei Dank hatte sie diese Tortur nun hinter sich! So Gott wollte, würde sie am kommenden Freitag früh morgens in den Zug steigen und am Sonntag mit anderen wanderfreudigen Katholiken an der Wallfahrt zu den weltberühmten Bamberger Krippenfiguren teilnehmen. Das Besondere an dieser sakralen Holzschnitzgruppe war, dass es neben Ochs und Esel eine Handvoll bayerischer Milchkühe in den hochheiligen Stall geschafft hatte, um dem neugeborenen Heiland zu huldigen. Die Huberin freute sich darauf, Berta, Elsa und Vroni, die Schutzpatroninnen-Dreifaltigkeit der bajuwarischen Milchbauern, endlich in Natura zu sehen. Ein Reisetraum!


    Ihrer traumhaften Reise ein gutes Stück näher gekommen, erhob sich die Jubilarin, rückte die Schürze über ihrem Dirndlrock zurecht und verließ mit einem resoluten Gottesgruß das Reisebüro. Sie trat hinaus auf die von betagten Touristen bevölkerte Einkaufsstraße und holte tief Luft. Schnell setzte sie ihr Kopftuch auf, verknotete es unter dem Kinn und drückte ihre Ledertasche fest an sich. Man hörte und las jeden Tag von diesen Ganoven, die … die, jawohl! … auf Motorrädern daherkamen und wehrlosen alten Damen die Handtasche von der Schulter rissen. Luise Huber schimpfte sinngemäß irgendetwas von „gottesfernem Gesindel“ (wie immer, wenn sie an den weltumspannenden Sittenverfall dachte). Sie dachte an die Worte ihres Enkels Kevin – dem Herrn Pfarrer war sie bis heute gram, dass er sich gegen eine stattliche Spende in der sonntäglichen Kollekte bereit erklärt hatte, den Buben auf diesen unchristlichen Namen zu taufen. Wie versuchte er sie noch allwöchentlich zu beschwichtigen?


    „Ah geh, Oma, jetzt hörst aber auf! Des hat’s hier noch nie ge‘m …“ Außerdem gebe es hier in der Fußgängerzone gar keine Motorräder.


    „Man weiß ja nie!“, dachte die alte Dame. Die Wege des Herrn (und möglicher Fluchtfahrzeuge) waren schließlich unergründlich.

    Zur Sicherheit beschwichtigte die Alt-Bäuerin den Herrgott mit einem verstohlenen Kreuzzeichen, sog die saubere oberbayerische Landluft ein und ging los. Sie freute sich auf die Städtereise, die sie soeben gebucht hatte. Zwar hatte der freundliche Mann im Reisebüro mehrfach angemerkt, dass es ein beschwerliches Unterfangen und eine lange Fahrt werden würde. Aber sie hatte, ehrlich gesagt, nicht alles verstanden.


    Auf dem Weg zur Bushaltestelle dachte Luise Huber über einen der vielen ungebetenen Ratschläge ihres ältesten Sohnes nach. Sollte sie wirklich nachgeben und sich eines dieser modernen, winzigkleinen Hörgeräte-Modelle zulegen? Wie sollte sie das bloß mit ihren arthritischen Fingern bedienen? Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie den Gedanken und die Empfehlung loswerden. Nun hieß es strammen Schrittes weiter, denn in drei Minuten würde der Bus am Kurgarten abfahren.


    Drei Monate später flog die Tür des kleinen Reisebüros Eder auf und knallte gegen die große Milchkanne, die als Schirmständer direkt dahinterstand. Derart ging es hier sonst nie zu, und der Eder Florian ließ vor Schreck die Regalklappe herunterkrachen, hinter der er einen Stapel Fernreisen-Prospekte verstauen wollte. Er drehte sich um und blieb mit offenem Mund an der Regalwand stehen. Ein vertrauter Geruch – eine Mischung aus Kuhmist und Traktordiesel – erreichte seine Nase. Er traute seinen Augen nicht: War das etwa …?


    Im Türrahmen stand eine ältere Dame in einem exotischen seidenen Trachtenkleid mit kurzen enganliegenden Ärmeln. Mit der linken Hand drückte sie einen abgewetzten Lederbeutel an ihren Körper, mit der rechten strich sie ihre zerzausten – teilweise verfilzten – silbergrauen Haare zurück. Der Eder-Flori fragte sich, was dieser auffällige rote Fleck in ihrem ungewaschenen Gesicht zu bedeuten hatte.


    „Frau Huaber?“

    „Duuuuuuuuuuuuu!“, presste die alte Dame hervor.

    „Ja, was hom‘s denn, Huaberin? Hocken’s Iana doch erst amol hi! Mengs a Glaserl Wasser?"

    Der junge Reiseverkehrskaufmann versuchte sämtliche Deeskalations-strategien aus seinen Gehirnwindungen zu schälen, die er auf dem Kommunikationsseminar ‚Der Kunde als Chance zur Umsatzsteigerung‘ verschlafen hatte. Um von besagter Kundin nicht als bewaffnet und gewaltbereit eingestuft zu werden, legte er zunächst im Zeitlupentempo den Katalogstapel auf seinem Schreibtisch ab. Hierbei ließ er die von ihm gefühlte Bedrohung keine Sekunde aus den Augen. (Die vielen Folgen „CSI Bad Tölz“ hatten sich letzten Endes gelohnt.) Mit einer rasenden Bauersfrau war nicht zu spaßen, das wusste er aus Erfahrung.


    Oma Huber stakste mit erhobenem Zeigefinger auf ihn zu:

    „Duuuuuu!“


    Der Eder-Flori konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen: Vielleicht hatte die lange Zugfahrt die alte Dame überfordert. Dafür war der Ticketpreis aber aufgrund der wenig attraktiven Strecke ersatzlos günstig gewesen. Daran gab es nichts zu meckern, fand er.


    Die reiselustige Gläubige fuchtelte weiter mit dem Zeigefinger herum und kam noch näher auf ihn zu – dabei hinterließen ihre offenen Sandalen rotbraune Lehmklümpchen auf dem Fußboden. Florian Eder schaute stumm und hilflos an Frau Huber hinab, die nun direkt vor seinem Schreibtisch stand. Der Geruch einer fremdländischen Gewürzmischung kitzelte ihn in der Nase; das Kleid erinnerte ihn an eine farbenfrohe Tracht aus diesen mehrstündigen Bollywood-Filmen, die seine Verlobte so gerne sah, und auch der rote Punkt auf der Stirn kam ihm bekannt vor ...


    Luise Huber stützte sich auf dem Schreibtisch ab, und ihr staubiges Gesicht kam seinem gefährlich nahe.

    „Duuuu!“, donnerte sie weiter. „Ja, wos glaaabst denn du, wo du mi hi‘g'schickt host? I wuilt zu die katholisch‘n Kia nach Bamberch – ned zu die heilig’n Kia nach Bombay!“


  • Der 11. Dezember von Ingrid Haag


    Schnee. Weihnachten. Wunderbar


    Helene nimmt einen Schluck Glühwein und nagt an einer Kokosmakrone. Kleine Bissen. Auf die Speisen achten, hat sie gelesen. Sie kaut mit Bedacht, ein Auge auf das Fernsehprogramm. Der Tatort aus Münster ist fast zu Ende, Professor Börne ist knapp mit dem Leben davongekommen. Helene summt die Melodie im Abspann und schaltet auf das heute-journal um. Todschick sieht Gundula Gause wieder aus. Der blaue Blazer auf Figur, die Haare perfekt. Alterslos. Wie schafft sie das nur? Helene nimmt einen weiteren Schluck, lehnt sich in die Kissen. Sie nickt anerkennend. Und ein bisschen neidisch.


    Im Treppenhaus ist ein Rumpeln zu hören. Helene horcht auf. Ob etwas passiert ist? Sie mutet den Fernseher und lauscht. Aus dem Gang dringen Stimmen, mehrere Personen lachen laut. Eine Tür fällt mit einem Knall ins Schloss. Helene stellt ihre Tasse mit Nachdruck auf den Tisch, geht zur Wohnungstür und lugt durch den Spion. Das Licht im Treppenhaus brennt, kein Mensch ist zu sehen. Sie schüttelt den Kopf, kehrt zur Couch zurück und lässt sich in die Kissen sinken. Der Sonntagabend ist heilig, da sollte Ruhe herrschen. Am nächsten Tag müssen alle Berufstätigen früh aus den Federn. „Manche Leute haben kein Gefühl“, nörgelt sie vor sich hin. „Oder keine Arbeit. Das sind bestimmt die Neuen. Diese Ausländer. Einfach kein Anstand! So wird’s nichts mit der Integration.“ Sie ist zufrieden mit sich, greift nach einem schokolierten Lebkuchen und stellt den Fernseher wieder laut.


    Marietta Slomka – viel zu dünn! – leitet im heute-journal gerade mit einem schlauen Kommentar zum Wetterbericht über. Helene beugt sich vor. In weiten Gebieten Deutschlands sei am Morgen mit Schneemassen zu rechnen, verkündet die Wetterfee, wie immer auf High Heels. Vorsicht, es könne glatt werden! Lautes Poltern im Haus klingt wie eine Bestätigung. Helene stöhnt auf. Ihr Chef hat für acht Uhr eine Abteilungsbesprechung angesetzt. Mit Tee und Weihnachtsgebäck. Zuspätkommen ist für ihn ein Kardinaldelikt, den er Ewigkeiten nachträgt. Hoffentlich wird der Schneefall weniger schlimm als angekündigt. Den Hausmeister kann sie vergessen. Wenn sich die Vorhersage bewahrheitet, muss sie in aller Herrgottsfrühe Schnee schippen, bevor sie ihr Auto aus der Garage fahren kann. Gut für die Figur. Helene lacht höhnisch auf. Geschieht ihr nach Glühwein und Plätzchen irgendwie recht. Der Spätabendkrimi im Zweiten ist gestrichen, sie wird zeitig zu Bett gehen. Die Nachbarn werden hoffentlich bald ruhig werden.


    Die Nachbarn geben keine Ruhe. Helene muss sich zwingen, das Johlen, Lachen, Gläserklingen auszublenden. Sie konzentriert sich energisch auf ihr abendliches Pflegeprogramm. Als sie die elektrische Zahnbürste ausschaltet, genau um 22:23 Uhr, hat Musik eingesetzt. Afrikanische, irgendwas mit Trommeln. Helene ballt eine Hand zur Faust, bis es wehtut. Es sind diese Fremden, die im Oktober eingezogen sind. Familie Asamoah aus Afrika. Das wird ein Nachspiel haben. Gleich morgen früh.


    Helene versucht sich zu beruhigen. Sie muss schlafen. Im Badezimmerschrank kramt sie nach den Ohrenstöpseln, die sie vor ewigen Zeiten für den Flug nach Thailand gekauft hat. Sie presst die Wachspfropfen in die Ohren und ärgert sich. Bevor sie sich in ihr Bett fallen lässt, wirft sie einen Blick aus dem Fenster. Der Hof ist trocken, kein Schnee in Sicht.


    Der Schlaf bleibt aus. Es ist zu früh. Die Ohrenstöpsel drücken. Die Decke über dem Kopf ist zu warm, die Empörung zu groß. Helene wälzt sich zwei Stunden in ihren Kissen, bis sie endlich einnickt. Um 1:15 Uhr liegt sie wieder wach. Die Feier im Haus ist noch in Gang. Helene steht auf. Das ist die Höhe! Sie wird die Polizei rufen. Jetzt gleich. Beim Blick auf dichtes Schneetreiben verwirft sie den Gedanken. Vergebliche Liebesmüh. Aber morgen. Sie stopft die Ohropax fester in die Ohren, presst die Augen zu. Zählt Schläfchen, betet, sagt ein Gedicht auf, zählt abermals Schäfchen. Ungefähr einhundertzwanzig. Beim übernächsten Aufwachen um 3:47 Uhr liegt eine geschlossene Schneedecke. Im Haus herrscht Ruhe.


    Der Wecker klingelt um 5:30 Uhr. Helene schlägt um sich. Ihr Kopf dröhnt, als habe sie keine Stunde geschlafen. Nach maximalem Ausreizen der Schlummerfunktion wälzt sie sich aus dem Bett und zieht ihren Bademantel an. Schneemassen. Sie erinnert sich. Die Wetterfee auf High Heels. Die Besprechung. Ihr Chef. Der Kardinaldelikt. Eine große Tasse starken Kaffees mit drei bis vier Plätzchen macht sie wach.


    Helene schließt den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis zum Kinn und schlüpft in ihre Schneestiefel. Sie drückt die Strickmütze auf ihre Morgenfrisur, ballt die behandschuhten Hände zu Fäusten. Ran an den Feind! Sie stürmt zur Eingangstür und reißt sie auf. Zwei Männer in dicken Kapuzenanoraks stehen vor dem Haus, eingehüllt in Atemwolken. Schneemassen türmen sich. Die Wege sind frei. Helene bleibt der Mund offen stehen. Die beiden Männer stützen sich auf ihre Schneeschaufeln und winken ihr zu.


    „Guten Morgen, Frau Nachbarin.“ Herr Asamoah strahlt. „Darf ich Ihnen meinen Bruder Samuel vorstellen? Er ist gestern aus Accra angereist, um Weihnachten mit uns zu feiern. Das ist in Ghana, in Afrika. Stellen Sie sich vor, er hat noch nie Schnee gesehen!“

    Der jüngere Mann, eine Wollmütze über die dunklen Locken gestülpt, steht vor Bergen der weißen Pracht. Dampfwolken umgeben ihn, sein Gesicht leuchtet. „Schnee. Weihnachten. Wunderbar.“ Er breitet die Arme aus und lacht ausgelassen.

    „Wir hatten uns gestern Abend viel zu erzählen, haben kaum geschlafen“, sagt der ältere Herr Asamoah. Seine Augen glänzen. „Jetzt hatten wir schon Frühsport. Wir sind wach, damit wir die kostbare Zeit miteinander nutzen können.“ Er hebt die Hand zum Gruß. „Einen wunderschönen Tag, Frau Nachbarin! Und frohe Weihnachten!“

  • Der 12. Dezember von magico


    Grünes Ding


    Nichts auf der Welt war für die Geschwister Mask und Fe aufregender, als draußen zu spielen und nichts auf der Welt war verbotener.

    Die kurze Dauer, in der es hell war, gaukelte eine trügerische Sicherheit vor. Es gab nur wenige Wetterlagen, die das unbedenkliche Atmen außerhalb ihrer schützenden Behausung zuließen. Über die Zeit hatten die beiden gelernt sehr genau zu erkennen wann sie, theoretisch, nach draußen gehen konnten. Schon dreimal war es ihnen gelungen ihren Unterschlupf zu verlassen, ohne dass die anderen etwas mitbekommen hatten.

    Was hatten sie dabei für einen Spaß gehabt! Völlig außer Atem waren sie auf den Gipfeln der Schrottberge angekommen und vor Schwindelgefühl kaum stehen könnend hatten sie sich nach dem Hinunterrollen kaputtgelacht.

    Das Größte waren jedoch die Funde, die sie gemacht hatten. In den meisten Fällen wussten sie gar nicht, was sie da ausgegraben hatten und in ihren kleinen Händen hielten.

    Einige Gegenstände waren rund, flach und glitzerten in allen Regenbogenfarben. Andere waren graue Kästen mit allerlei Knöpfen und Hebeln daran. Beim letzten Mal hatten sie sogar ein kleines Ebenbild von sich gefunden. Na gut, es hatte seltsame Stricke, die auf dem Kopf angebracht waren und die Augen dieser Figur waren blau und nicht schwarz, aber das kleine Ebenbild konnte sogar seine Lider schließen, wenn man es auf den Rücken legte.

    Natürlich hatten Mask und Fe aufpassen müssen, dass niemand von ihren Schätzen erfuhr. Sie hatten sich eigens dafür ein kleines Loch in die Wand hinter ihrem Schlaflager gegraben. Im Graben waren sie geübt. Immerhin war das ihre Hauptaufgabe, um ihre Behausung immer weiter auszubauen. Wo sollten sonst die weiteren Nachkommen und die Vorräte hin?

    Heute war wieder so ein Tag. Fe stand schon eine Weile hinter der einzigen durchsichtigen Wand, die es hier gab und sah gebannt nach draußen. Es war kaum neblig. Kein gelber, kein grüner und auch kein bräunlicher Schleier. Sie konnte nur ein paar hauchfeine, sehr helle, Schwaden erkennen. Doch es schien sehr kalt zu sein. Ein dünner weißer Film hatte sich über die Schrottberge gelegt.

    Ein schelmenhaftes Grinsen legte sich über ihre weichen Gesichtszüge. Ohne Zeit zu verlieren sprintete sie zu ihrer Schlafstelle. "Mask!", rief sie, noch bevor sie angekommen war.

    Auf einem Bein hüpfend, kam er ihr entgegen, während er mit einem störrischen Hosenbein kämpfte.

    "Mask!", rief sie noch einmal, da er ihr keine Beachtung schenkte.

    "Was?" Er sah nicht auf. Sein verbissener Ausdruck zeigte, dass er weiter mit seinem Problem zu kämpfen hatte.

    "Es ist wieder so weit", verkündete seine Schwester aufgeregt.

    "Gibt's schon Essen?" Endlich hatte er seinen Fuß durch das Loch bekommen, zog sich die Hose richtig an und begann nun ebenfalls zu lächeln. Vor Stolz.

    "Quatsch! Denk doch nicht immer ans Essen. Wir können nach draußen!"

    "Echt? Hat Dada es endlich erlaubt?" Mask hüpfte auf und ab, wobei er immer wieder in die Hände klatschte.

    "Sei doch nicht immer so dumm! Wir müssen uns natürlich wieder rausschleichen."

    Zunächst verflog Masks freudige Miene wieder, doch sie kehrte sehr schnell zurück. "Gut, von mir aus können wir los."

    Fe rollte mit den Augen. "Da sieht man wieder, dass ich die Ältere bin. Wie wäre es mit Schuhen? Es sieht ziemlich kalt aus. Da ist so komisches weißes Zeug überall drauf."

    "Schuhe? Ach ja!" Mask schlug sich vor die Stirn, rannte dann aber sofort los um seine Stiefel zu suchen.


    Es war viel leichter gewesen, als sie es sich vorgestellt hatten, sich aus dem Unterschlupf zu stehlen. Dada und die anderen hatten gestern einen ziemlich großen Brocken entdeckt, den sie wegräumen mussten, um mit dem neuen Tunnel weiterzukommen. Weil sie die Jüngsten waren und schon so fleißig mitgeholfen hatten, mussten sie erst wieder unterstützen, wenn es erneut dunkel werden würde. Bis dahin sollten sie die Mahlzeit vorbereiten. Dafür blieb ihnen später immer noch genügend Zeit. Da waren sie sich einig.

    Jetzt hieß es erst einmal: Spaß haben!

    Insgeheim mussten sie sich eingestehen, dass es viel kälter war, als sie vermutet hatten. Genau genommen war es so kalt, wie sie es noch nie erlebt hatten. Doch das hielt sie nicht auf.

    Gerade als Fe zu ihrem Bruder aufschloss, der schon auf einen der Gipfel geklettert war, gab etwas unter ihren Füßen nach.

    "Vorsicht!", schrie Mask noch und griff nach der Hand seiner Schwester, um sie zu sich zu ziehen.

    Doch es nützte nichts. Begleitet von einer Lawine aus Unrat rasten sie dem Tal entgegen. Sie riefen sich Wortfetzen zu, versuchten sich irgendwo festzuhalten, nur um dann von einem anderen Teil mitgerissen zu werden.

    Mit lautem Geschepper ergoss sich Müll auf den einzigen Pfad zwischen den Bergen. Eine gewaltige Staubwolke stieg empor. Als sie im blassen Himmel verschwunden war, legte sich Stille auf die Umgebung.

    Aus einem kleinen Hügel ragten zwei dunkle Stiefel, die sich zappelnd durch die Luft bewegten. Ganz in der Nähe stieß mit einem Ruck ein kahler Kopf aus den Massen und begann zu husten.

    Schließlich konnte sich Fe befreien und ihrem Bruder zur Hilfe eilen. Sie musste all ihre Kraft aufwänden, um ihn aus dem Haufen zu ziehen.

    Als auch Mask wieder einigermaßen normal atmen konnte, ließ er ein kurzes "Ups" verlauten.

    "So ein Mist! Wenn Dada und die anderen das nicht gehört haben, dann weiß ich auch nicht." Fe sprach die unbequeme Wahrheit aus.

    Wenn sie erwischt werden würden, und alles sah danach aus, war das mit Sicherheit für eine sehr lange Zeit das letzte Mal, dass sie draußen gewesen waren.

    "Dann ...", begann Mask und sah sich um, "... sollten wir die Zeit nochmal nutzen, oder?"

    Sofort huschte ein Lächeln über Fes Gesicht und sie nickte. Manchmal hatte selbst ihr kleiner Bruder gute Ideen.

    Wie auf ein unhörbares Signal hin liefen die beiden los und begannen in den verstreuten Sachen zu wühlen. Immer wieder hörte man "Wow!" oder "Was ist denn das?", gefolgt von einem "guck mal, hier".

    Schließlich trugen sie ihre Funde zusammen. Stolz hielt Mask einen großen goldenen Rahmen hoch, in dem ein Bild eingefasst war.

    "Was ... ist das?", fragten sie wie aus einem Mund.

    Ohne zu erkennen, was da genau abgebildet war, gingen ihnen dennoch die Augen über. Alles wirkte irgendwie ... feierlich.

    In der Mitte war eine Art pyramidenförmiges grünes Ding zu sehen, das über und über mit Glitzerkram behangen war. Drumherum standen vier Menschen. Zwei Kinder, wie sie, und zwei ältere, so wie Dada. Allerdings hatten auch sie diese seltsamen Stricke, die ihnen allem Anschein nach aus dem Kopf wuchsen und noch viel seltsamere Anziehsachen.

    "So was will ich auch", fand Mask seine Sprache wieder.

    "Was? Solche Stricke aus'm Kopf oder so alberne Ärmel?" Fe verzog ihren Mund.

    "Nee, so Glitzerzeugs und dieses Ding, wo das aufgehangen ist."

    Sie schüttelte ihren Kopf. "Ich glaub, dieses Ding gibt's schon lange nicht mehr. Dadas Dada erzählt doch immer, dass damals alles kaputtgegangen ist. Vor allem diese wachsenden grünen Dinger."

    Mask blickte traurig zu Boden. "Schade."

    "Ach was! Dann bauen wir uns was Ähnliches", versuchte Fe ihren Bruder wieder aufzuheitern.

    "Au ja!"

    Schon waren sie wieder unterwegs. Diesmal suchten sie nach bestimmten Gegenständen. Festlich glänzend oder glitzernd mussten sie sein.

    Es dauerte nicht lange und Fe hatte etwas gefunden, das ihr perfekt erschien.

    Als sie zurück zu ihrem Haufen kam, zerrte Mats eine große Metallsichel heran. "Und? Wie findest du's?"

    Sie nickte. "Was hältst du hiervon?" Stolz präsentierte sie ein golden glänzendes Etwas, das man hinstellen konnte und von dem sieben Röhren nach oben führten, in die man scheinbar irgendetwas Schmales hineinstecken konnte.

    Masks Sichel war an einer Kette befestigt. "Sieht aus wie die Sichel, die manchmal am dunklen Himmel steht. Wo hängen wir die jetzt hin?"

    Fe hob ihren Finger und rannte noch einmal zu der Stelle, an der sie ihr siebenarmiges Teil gefunden hatte.

    Mit einem langen Stiel kam sie zurück und rammte diesen in den Boden.

    Aufgeregt machten sich die Geschwister daran, ihr improvisiertes grünes Ding zu schmücken. Neben der Metallsichel und dem siebenarmigen Teil, hängten sie ein paar der flachen Scheiben und silbern glänzende Streifen auf.

    Trotz der Kälte völlig verschwitzt, betrachteten sie ihr Werk. Ihr Atem ging schwer und bildete kleine Wölkchen. Erst jetzt spürten sie wieder die Kälte. Instinktiv stellten sie sich näher zusammen und legten ihre Arme umeinander.

    "Schön, oder?" Mask klang so zufrieden wie noch nie.

    "Ja", war die ebenso erschöpfte wie zufriedene Antwort von Fe.

    Vor ihren Augen begannen kleine weiße Punkte durch die Luft zu schwirren. Sie wussten zwar nicht was das war, doch hatten sie keine Angst davor. Irgendwie spürten sie, dass es so sein sollte.

    Als die Punkte immer dichter wurden, versuchten sie einige davon zu fangen. Doch sie verschwanden schnell in ihren Händen. Außerdem waren sie kalt.

    Allmählich schwand das Licht. Statt der dünnen hellen Schwaden zog ein gelblicher Nebel auf.

    Sie wussten, dass sie nun von ihrem grünen geschmückten Ding Abschied nehmen mussten.

    "Vielleicht steht es noch 'ne Weile", überlegte Mask.

    "Ja, es ist wirklich schön", fügte Fe hinzu.

    "Allerdings!", ertönte eine tiefe strenge Stimme.

    Erschrocken drehten sich die Geschwister um.

    "Dada!"

    "Es ... ist wirklich schön. Aber nun kommt rein. Ihr wisst wie gefährlich der gelbe Nebel ist."

    Sie nickten und folgten Dada, der seltsamerweise nicht schimpfte. Selbst, als sie zurück im Unterschlupf waren, wies er sie nicht zurecht. Und als ihnen mit Schrecken einfiel, dass sie gar kein Essen zubereitet hatten, erblickten sie in der Halle einen reich gedeckten Tisch, um den sich schon alle anderen versammelt hatten.

    Wie das alles möglich gewesen war, konnten sie sich zwar nicht erklären, aber vielleicht war das auch gar nicht so wichtig. Diesen ganz besonderen Tag, würden sie niemals vergessen.

  • Der 13. Dezember von Gummibärchen


    Die Lichtbringerin


    "Gleich ist es soweit, gleich kommen sie hier bei uns vorbei!" Die 8-jährigen Zwillinge ihrer schwedischen "Gastfamilie" Ida und Emma sprangen wild rum, während deren Eltern milde zu Sandra rüberlächelten. Sandra trank noch etwas aus ihrem Becher und genoss die Stimmung in dem schwedischen Dorf voller Erwartung auf ihre erste "richtige" Lucia-Prozession. Es war der 13. Dezember, der Tag der Heiligen Lucia, und dieser wurde in vielen schwedischen Städten und Gemeinden entsprechen gefeiert - mit einer Prozession, während der ein Mädchen die Heilige Lucia darstellte. Die Familie um die Zwillinge war sehr aufgeregt, denn die älteste Tochter der Familie, die dreizehnjährige Lykke, durfte dieses Jahr als "Lucia" die Prozession anführen.


    Auch Sandra selbst war ein wenig aufgeregt. Vor allem aber war sie sehr glücklich, dass sie in Schweden war - umgeben von liebenswürdigen Menschen, in einem Dorf voller schöner Weihnachtstimmung und mit wunderbarem Schnee, der diesen Namen auch verdiente. Erst vor zwei Wochen hatte Sandra sich von ihrem langjährigen Partner Dominik getrennt. Sie war zwar schon eine längere Zeit nicht mehr ganz glücklich in dieser Beziehung, aber sie hatten den Urlaub in Schweden gemeinsam geplant und Sandra hatte gehofft, es könnte eine positive Wirkung auf ihr Miteinander haben. Stattdessen hatte er ihr vor zwei Wochen eine Affäre mit seiner Kollegin gestanden. Für Sandra war das wohl der Wink, den sie brauchte, um die Beziehung zu beenden. Als er sie auch noch fragte, ob es okay wäre, wenn er mit seiner Kollegin diesen Urlaub machte, war ihr klar, wie richtig ihre Entscheidung war. Der Urlaub in Schweden war ihre Idee gewesen, ihr langjähriger Traum. Sie hatte Dominik länger dazu überreden müssen, im Dezember nicht wieder in die Karibik oder eine andere warme Gegend zu fliegen, sondern in die Kälte nach Skandinavien. Sandra hatte als Kind im Kindergarten eine schwedische Erzieherin gehabt und war immer fasziniert gewesen, wenn diese über die Lucia-Prozession erzählt hatte. Einmal durften sie am 13. Dezember im Kindergarten die Prozession nachspielen und seitdem ließ diese Tradition Sandra einfach nicht los. Dominik hatte widerwillig zugestimmt, schien aber eher sehr unzufrieden mit dieser Entwicklung. Nach der Trennung beschloss Sandra, die Reise eben allein anzutreten und statt in dem teuren Hotel, welches sie Dominik zuliebe bezogen hätten, im Gästezimmer einer schwedischen Familie zu übernachten. Ihre Anzeige auf einer Internetplattform klang einfach sehr einladend.


    "Da, da, sie kommen!" rief Emma und riss Sandra aus ihren Gedanken. Sandra wischte sich von ihrer Nase die Schneeflocke, die dort eben gelandet war und sah in die Richtung, in die Ida zeigte. Als sie Lykke sah, spürte sie ihre eigene Begeisterung. Das Mädchen trug ein weißes Gewand, hatte ein rotes Band um die Taille und einen Kranz mit Kerzen auf ihrem Kopf. Andere Mädchen mit Kerzen in den Händen folgten ihr und auch einige Jungs mit spitzen Hüten und Sternenstäben waren dabei. Die Musik, die dabei erklang, zog Sandra in ihren Bann. Ganz angetan sah sie den Kindern auf ihrem Weg zu und spürte einen leichten Kloß in ihrem Hals. Wie gerne hätte sie dies alles mit dem richtigen Mann an ihrer Seite geteilt... Und wie froh war sie - dachte sie im nächsten Moment - dass sie nicht den falschen Mann in Schweden dabei hatte. Stattdessen war sie hier mit einer liebevollen Familie, deren älteste Tochter gerade einen wunderbaren Moment erlebte, den sie alle gemeinsam teilen konnten. Sandra lächelte Harald und Gerda, die Eltern der drei entzückenden Mädchen, an und als Gerda ihrem Arm um Sandra legte, freute sich diese sowohl über die Geste als auch über das bisschen zusätzlicher Wärme, welche ihr dadurch zuteil wurde.


    Im Anschluss an die Prozession war eine kleiner "Umtrunk" im Gasthaus in der Nähe geplant. Auf dem Weg erzählte Harald ihr, dass ein gewisser Lukas auch dabei wäre - "ein stattlicher, vernünftiger junger Mann aus Bonn", so bezeichnete ihn Harald. Sandra verdrehte innerlich ein wenig ihre Augen, denn auf Verkupplungsversuche ihrer Gastfamilie hatte sie nicht die geringste Lust. Aber sie wollte auch nicht die Stimmung vermiesen und dachte sich, dass sie sich mit Lukas ja wohl zumindest normal unterhalten könne, wenn er denn in ihrer Nähe sitzen sollte. Und natürlich hatte man ihr ganz unauffällig einen Platz neben diesem Lukas "gesichert". Lykke, Emma und Ida kannten ihn offensichtlich auch, denn er übernachtete im Haus der Familie, deren Kinder mit Lykke und den Zwillingen befreundet waren. Und wie Sandra erfuhr, übernachtete er dort nicht zum ersten Mal. Lukas kam die letzten Jahre immer mit seiner Frau Astrid zu Lucia-Prozession nach Schweden. Astrid stammte aus Schweden, hing an der schwedischen Tradition und Martin hatte Schweden als Land und auch die Menschen in diesem kleinen Dorf mit der Zeit sehr liebgewonnen. Als Astrid vor zweieinhalb Jahren recht plötzlich im relativ jungen Alter starb, blieb er dieser Tradition treu.


    "Sandra, Lukas, hier ist ein Keks für euch", riefen die Kinder, während Lykke einen Teller mit einem Weihnachtsplätzchen in Form eines Herzens brachte. Gerda erklärte ihr, dass die Lucia-Darstellerin als Lichtbringerin zwei Menschen ihrer Wahl einen sog. "Liebeskeks" bringen darf, den sie sich teilen sollen. Dies soll nach der schwedischen Tradition dazu führen, dass ein Liebeszauber über die beiden Menschen fällt, wenn sie das Plätzchen teilen und essen. Sandra freute sich zwar, dass man sie nach all dem, was sie der Gastfamilie erzählt hat, glücklich machen möchte, aber gleichzeitig war es ihr auch etwas unangenehm. Auch für Lukas fand sie es etwas unangenehm und fragte sich, ob er schon letztes Jahr, als er allein hier war, so etwas über sich ergehen ließ - falls ja, hat es wohl nicht geklappt. Als dann auch noch "Last Christmas" im Hintergrund lief, was nun kein typisches schwedisches Weihnachtslied war, dachte Sandra, dass dies schon allein deswegen nicht funktionieren kann. Und weil sie an sowas ohnehin nicht glaubt. Und überhaupt...von dieser Tradition im Zusammenhang mit der Lucia-Prozession hatte sie bisher nirgends was gehört. Aber vielleicht war das was "Dorfeigenes", wer weiß das schon.


    Die Aufregung der Kinder und auch der anderen schwedischen Erwachsenen war ansteckend, das Plätzchen sah sehr lecker aus und im Endeffekt hatte sie ja nichts zu verlieren. Sie lächelte Lukas ein wenig entschuldigend an, aber er grinste nur gelassen, ließ Lykke auf seinen Schoß und flüsterte zu Sandra rüber: "Tun wir ihnen den Gefallen, sie lassen doch eh nicht locker." Sie nahmen jeder jeweils ein halbes Plätzchen, ließen es sich schmecken und zumindest Sandra versucht, die etwas jubelnde Menge zu ignorieren. Harald dagegen sah Lykke irgendwie verschwörerisch an. Hoffentlich war das Mädchen nicht in Lukas verliebt und nun auf Sandra eifersüchtig...


    Zwei Tage später stand der Abschied an und Sandra wurde von der ganzen Familie nach Stockholm zum Flughafen gefahren. Während Harald und Gerda sie noch drückten und ihr gefühlt Unmengen an Essen und Geschenken in die Hände steckten, sprangen Ida und Emma erneut um sie rum. Sandra musste ihnen versprechen, spätestens in einem Jahr wiederzukommen. Lykke dagegen hatte etwas feuchte Augen bekommen und Sandra wurde erst jetzt klar, dass das Mädchen sie offenbar sehr in ihr Herz geschlossen hatte. Von wegen, verliebt in Lukas und eifersüchtig - so sah sie jetzt nicht gerade aus. Aber wer weiß schon, was in Köpfen von dreizehnjährigen Schwedinnen so vorgeht. Lykke reichte Sandra noch schnell ein Buch über die schwedischen Weihnachtstraditionen und murmelte etwas von "Pass gut drauf und guck bald rein" und dann war es auch schon Zeit, in den Flieger Richtung Flughafen Köln/Bonn zu steigen.


    Im Flugzeug ließ Sandra die Tage in Schweden Revue passieren. Keine einzige Sekunde bereute sie ihre Entscheidung, alleine zu fliegen. Die Reise hatte sie von der Trennung und Gedanken an Dominik abgelenkt, ihr neuen Mut und Zuversicht gegeben und sie hatte nicht nur eine Menge an Geschenken mitbekommen, sondern flog mit ganz vielen wunderbaren Erinnerungen zurück. Sie lehnte sich kurz zurück, sah dann nochmal aus dem Fenster und griff sich das Buch, was Lykke ihr noch zugesteckt hatte. Es war auf Schwedisch, sie würde kaum was verstehen, aber die Geste fand Sandra dennoch schön. Als sie das Buch aufklappte, sah sie etwas wie eine Widmung gefolgt von einer Handynummer.


    "Für Sandra - die Frau, die an jede Tradition glaubt und diese mitmacht, ob wahr oder erfunden. Ich würde mich freuen, Dich näher kennenzulernen. Lukas.

    P.S.: Die Lucia-Prozession hat eine wahre Tradition. Die Sache mit dem Keks haben Lykke und ich erfunden. Aber vielleicht klappt es ja trotzdem."

  • Der 14. Dezember von imandra777


    Der Weg


    Langsam kommt er immer näher. Schon tagelang war er immer im Blickfeld, mal mehr, mal weniger von Wolken umgeben. Die Vorfreude stieg. Bald schon ist es so weit. Von Faial aus zog einen der Blick des Pico magisch an. Der höchste Berg Portugals mit seinen 2351m. Nicht nur ein Berg. Die Felsen sind nicht grau, wie in den Alpen. Sie sind schwarz, manchmal etwas bräunlich. Erst noch bewachsen, dann aber irgendwann nur noch ganz kahl. Das Gestein ist rau und hat einen guten Grip zum Gehen. Wenn es trocken ist, rutscht man also nicht. Eine gute Voraussetzung um hoch zu kommen.

    Die Fahrt scheint ewig zu dauern. Die Sonne schält sich hervor und der Berg scheint zu wachsen, je näher ich ihm komme. Die Vorfreude neigt einem gesunden Respekt, aber auch einer Nervosität. Bin ich dem Berg gewachsen? Dem Berg, der einmal die Insel Pico geboren hatte, als er Feuer spie. Das letzte Mal 1781. Es ist der erste Vulkan, den ich aktiv besteigen werde.

    Schließlich kommen wir auf dem Parkplatz des Bergsteigercenters an. Es liegt bereits auf etwa 1300m und jeder Besucher und Wanderer des Pico muss sich dort registrieren. So kann gesteuert werden, dass der Berg nicht überlaufen wird. Meine Gruppe wird mit GPS-Sendern ausgestattet, bekommt eine kleine Einweisung und kann dann den Ausgang Richtung Berg nehmen. Ein letztes Mal werden die stillen Örtchen aufgesucht und dann geht es viele Stufen hoch, bevor ein Weg mit noch recht seichter Steigung über Steine und zwischen krautigem Bewuchs stetig bergan führt. Die ersten Pflöcke erscheinen, die den Wanderern den Weg weisen. Unser Guide geht vorneweg, während ich mit dem Reiseleiter eher weiter hinten unterwegs bin. Noch ist es frisch so früh am Morgen und die Sonne kommt langsam raus. Aber der Pico liegt einmal nicht in den Wolken. Das verspricht eine klare Sicht. Ein Teil der Gruppe macht schon eine erste Rast an einem Lavaloch, das bereits zugewachsen ist, als ich endlich ankomme und den Blick auf die Insel, die restlichen Azoren und den Atlantik genieße. Dennoch wandert mein Blick auf das bevorstehende Stück. Einfacher wird es nicht und schon eben gab es einige Passagen, bei denen ich mich fragte, wie ich wieder herunterkommen soll. Mit dem Bergaufgehen habe ich weniger Probleme, aber bergab, da sperrt manchmal mein Kopf. Meine Gruppe muntert mich auf und ermutigt mich, zumindest bis zum nächsten kleinen Rastpunkt weiterzugehen. Ich wäge ab. Will ich sie weiter aufhalten oder kehre ich nicht lieber um, nach dem Motto, du hast es immerhin versucht. Aber die aufmunternden Worte wirken und ich gehe der Gruppe hinterher. Die Steintreppen werden zu Steinrücken, die stellenweise ziemlich steil werden. Und irgendwann, etwa 50m vor dem angepeilten Punkt stoppe ich. Wenn ich mit dem Tempo weiterlaufe und mein Kopf immer wieder anspringt, sollte ich wohl doch lieber umkehren. Ich war immerhin auf ca. 1500m angekommen.

    Erik, der Reiseleiter, der immer in meiner Nähe war, respektiert meine Entscheidung und führt mich schließlich gut den Weg nach unten. Damit mein Kopf nicht zumacht und ich einige steile Strecken bergab nicht als unüberwindbar sehe, wendet er einen super Trick an. Er verwickelt mich in Gespräche und so komme ich recht gut runter. Wir unterhalten uns über Unterricht, Kinder, Reiseerfahrungen. Ich war froh, ihn an meiner Seite zu haben und bin dennoch stolz darauf, den Abstieg so gut geschafft zu haben. Eine kleine Enttäuschung war auch dabei, immerhin hatte ich es schaffen wollen den Vulkan zu besteigen, aber das sollte wohl doch noch nicht sein.

    Aber den halben Tag auf meine Gruppe beim Reisecenter zu warten oder ein Auto zurück nach Madalena zu fahren wäre nichts. So entschied ich den Weg zur Unterkunft zurückzuwandern. Da Madalena am Meer liegt, hieß das etwa 1000m oder etwas mehr an Abstieg und die Sonne stieg immer höher. Zu Beginn musste ich die Straße nehmen, die sich in Serpentinen den Berg hinaufgeschlängelt hatte. Immer wieder ist sie gesäumt von Lavamauern, die Felder abtrennte. Einige Male halten Autos an, die vom Besucherzentrum kommen und Wanderer dort abgesetzt haben und fragen mich, ob sie mich zurück in die Stadt nehmen können. Alle sind sehr freundlich, aber ich verneine dankend. Meine Challenge des Tages hatte sich geändert. Es war nicht mehr die Vulkanbesteigung, sondern der Weg zurück, ganz alleine, ohne Gruppe.

    Ein alter Weg, der durch die Felder führen sollte, endete an einem Gatter, ohne, dass ich noch einen weiteren Pfad entdecken konnte. Also kehrte ich um und trat weiter Asphalt. Die Mittagshitze kam und die Sonne prallte auf den Asphalt. Bäume am Rand sind Mangelware, so dass es keinen Schatten zum Ausruhen gab. Sie setzte ich einen Fuß vor den anderen. In der Ferne sah ich schon einige Dächer in der Sonne blitzen. Aber sie lagen noch weit weg. Bei der Planung der Tour begleitete mich meine Karte auf dem Handy. Ausgerechnet würde ich locker 20km oder etwas mehr brauchen, um anzukommen. Und der Weg ging stetig bergab. Nach einer kurzen Pause in der prallen Sonne, kann ich schließlich auf Feldwege abbiegen. Der Asphalt brennt nicht mehr, aber der Schweiß rinnt dennoch weiter. Ich bin froh meine Mütze und das langarmige Shirt zu tragen, ansonsten wäre ein Sonnenbrand vorprogrammiert gewesen. Außer mir ist keiner auf dem Weg unterwegs und ich wandere zwischen Weidewiesen, abgetrennt durch die Lavamauern, die mich an die Mauern in England erinnern und genieße die Ruhe. Selbst Vögel sind kaum unterwegs, so dass ich ganz zu mir selbst kommen kann. Nur ganz vereinzelt gibt es ein paar Bäume, meistens in der nähe von Häusern, so dass ich kurz verschnaufen kann. Aber nie zu lange. Alleine die Julisonne treibt mich an weiterzugehen. Ab und an wandert mein Blick zurück zum Pico. Von dort bin ich gekommen und ein wenig kleiner wird er. Und ich komme weiter runter. Aber mein Ziel vor Augen schreite ich weiter voran, über Schotter und unebene Erdböden, bis mich die Straßen von Madalena wiederhaben. Am Rand der Stadt ruft meine Reisegruppe irgendwann an, und fragt, ob sie mich einsammeln sollen. Doch da war ich schon fast da. So treffen wir uns vor unserem Hotel und wir tauschen unsere Erlebnisse aus. Alle honorieren die Strecke, die ich alleine zurückgelegt habe, erzählen aber auch von den Steilen Stellen und der sengenden Sonne auf dem Vulkan.

    Eines war mir am Ende klar. Man muss nicht die höchsten Berge besteigen, um zu sich selbst zu finden. Manchmal ist ein Weg alleine genau das Richtige, ebenso wie eine Reisezweckgemeinschaft mit gemeinsamen Vorlieben. Die Wertschätzung, Respekt und Achtung, den man sich gegenseitig zollt ist herzerwärmend. Trotz meiner Probleme am Berg, sah man mich nicht abwertend.

    An diesen Tag denke ich gerne zurück, gerade in der jetzigen Weihnachtszeit, wenn mein Blick wieder in die Ferne schweift. Die neue Reise geplant wird und die Spannung auf die großen und kleinen Abenteuer und die Begegnungen, die so eine Reise mit sich bringen steigt.

    Dieses Jahr Azoren und nächstes Jahr? Island und...

  • Der 15. Dezember von Booklooker


    Alles, was ich mir zu Weihnachten wünsche, bist du


    Die Trauer nahm mich gefangen. Es war jetzt sechs Wochen her, als mich mein Verlobter Ben für immer verlassen hatte. Ich wusste schon von Beginn unserer Beziehung an, dass er krank war, aber die letzten sechs Jahre waren so unbeschwert gewesen, dass ich es schlicht verdrängt hatte. Vor acht Wochen ging es ganz plötzlich. Sein angeschlagenes Herz wurde zusätzlich durch eine noch nicht ganz auskurierte Erkältung geschwächt und schneller als wir gucken konnten, lag er im örtlichen Krankenhaus im Koma und wurde immer schwächer. Kein Medikament und keine noch so erfolgsversprechende Therapie half. Ich saß jedem Tag an seinem Bett auf der Intensivstation und erzählte ihm von unseren gemeinsamen Jahren, spielte seine Lieblingsmusik oder hielt einfach seine Hand. Trotz der Trauer wusste ich, dass es das Beste für ihn war. Er hätte nicht mehr so ein unbeschwertes Leben führen können, wie es all die Jahre der Fall war. Engmaschige Untersuchungen, viel Verzicht und vor allem körperliche Schwäche hatte man mir vorausgesagt, sollte er dies überleben. Ich wusste einfach, dass so ein Leben auch seine Psyche extrem angreifen würde und ob es noch andere körperliche Probleme geben würde, konnten mir die Ärzte zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen.


    Hier saß ich also nun, ganz alleine in meiner stillen Wohnung, die ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheit nicht weihnachtlich geschmückt hatte. Normalerweise starteten bei mir die Vorbereitungen bereits Mitte November, denn bis dahin hatte ich alle Geschenke beisammen und konnte mich voll und ganz der Vorweihnachtszeit widmen. Nicht nur die Dekoration war mir wichtig ich buk Unmengen an Weihnachtsplätzchen, die ich in kleinen Geschenktüten allen Menschen schenkte, die in meinem Umfeld waren. Mitte November war auch der Zeitpunkt, zu dem ich anfing, Weihnachtsmusik zu hören. Ich hatte mir vor vielen Jahren eine Playlist erstellt, die ich jedes Jahr weiter auffüllte und so kam ich mittlerweile auf zehn Stunden Weihnachtsmusik am Stück. Das Ganze auf Zufallswiedergabe gespielt, hatte ich jeden Tag eine neue Zusammenstellung. Dazu kamen noch der ein oder andere Weihnachtsfilm, die ich selbstverständlich alle mitsprechen konnte. Ich muss zugeben, dass mein Umfeld und vor allem auch Ben, der gar nichts mit Weihnachten anfangen konnte, manchmal schon sehr genervt war. Aber was sollte ich tun? Weihnachten war einfach meine Passion und meine Leidenschaft. Mein rund um das Jahr geöffnetes Weihnachtsgeschäft, das erstaunlicherweise sehr viele Menschen anzog, war nun seit Wochen geschlossen und bei meinen wenigen Einkäufen im Ort traf ich einige, die mich fragten, wann ich wieder öffnen würde. Mittlerweile wurde das Geld knapp und ich hätte mich eigentlich bemühen müssen, nun endlich wieder in den Tritt zu kommen. Ich konnte mich einfach nicht aufraffen. Ohne Ben war mein Leben nicht mehr lebenswert.


    An Heiligabend, ich hatte alle Verabredungen ausgeschlagen, döste ich in meinem Lesesessel und hoffte, dass diese drei Tage, die mir mein Leben lang so viel bedeutet hatten, endlich vorbei gingen. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an Schneespaziergänge mit Ben, an seine urkomischen Versuche, mit mir Weihnachtslieder vor der Bescherung zu singen und an seine strahlenden Augen, wenn er sah, wie sehr ich in meinen weihnachtlichen Vorbereitungen aufging. Mein Leben würde ohne dieses Fest ein völlig anderes werden. Trostlos, einsam und so langsam musste ich mir ja auch noch einen neuen Job suchen. Ausgeschlossen, dass ich je meinen Weihnachtsladen wieder eröffnen könnte.


    Annie, du musst aufstehen und zur Kokosnussgasse 7 gehen. Dort erwartet dich eine Überraschung. Du darfst nicht zögern, mach schon. Es ist wichtig!


    Hatte ich da Ben gehört? Ausgeschlossen! Woher sollte er kommen? Ich schloss meine Augen wieder die ich freudig überrascht geöffnet hatte und ließ mich wieder in den Sessel zurücksinken. Die Düsternis übermannte mich erneut.


    Annie, Mensch, jetzt mach endlich. Ich habe nicht ewig Zeit! Schlafen kannst du später noch. Ich bitte dich, raff dich auf!


    Schon wieder diese Stimme! Etwas darin klang drängend. Es war völlig verrückt, aber ich musste es versuchen. Meine Sehnsucht nach Ben war zu groß, um nicht nach jedem Strohhalm zu greifen. Also hievte ich mich hoch und zog erst langsam, dann immer schneller werdend meine Kluft an, die ich sonst bei unseren Schneespaziergängen trug. Für Nostalgie hatte ich jetzt allerdings keine Zeit. Den Weg zur Tür flog ich fast und spürte das erste Mal seit langem ein Kribbeln in meinem Bauch. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich betrat die menschenleere Straße. Ein wenig Wehmut mischte sich nun doch unter meine Trauer. Das Knirschen des Schnees unter meinen Stiefeln erinnerte mich an all die schönen Stunden, die ich in den verschiedenen Stadien des Lebens mit meinen Freunden draußen verbracht hatte. Wir hatten nicht nur Schneebälle geworfen und gebalgt, sondern auch Schneemänner gebaut und waren Schlitten gefahren. Jeder Schritt in Richtung Kokosnussgasse brachte mir schöne Erinnerungen zurück. Den wunderschön geschmückten Baum meiner Eltern, die liebevoll eingepackten Geschenke meiner Schwester, die Adventskalenderbücher, die ich schon mein ganzes lesendes Leben lang als Vorbereitung auf das Fest las und die weihnachtlich geschmückten Gassen unseres Ortes. Unerklärlicherweise wurde mein Herz bei jedem Schritt leichter und ich dachte nicht nur noch mit Dunkelheit in mir an Ben.


    Kaum war ich an der Kokosnussgasse 7 angekommen, erstarrte ich. Es gab gar keine Nummer 7. Es gab eine Nummer 5 und dann nur noch freies Feld.


    Du musst vertrauen! Den Blick schärfen für das Unwahrscheinliche und Übernatürliche, dann kommst du ans Ziel. Du schaffst das, ich weiß es!


    Von außen konnte man immer anfeuern und kluge Sprüche raushauen, aber wie setzte man das um? Ich schloss meine Augen und murmelte „Vertrauen, Unwahrscheinliches, Übernatürliches, Ziel, ich schaffe das!“ vor mich hin und versuchte mir zu glauben. Ich versuchte mir unser Traumhaus vorzustellen, dass wir einmal bauen wollten, und malte es mir in den buntesten Farben aus. Dann öffnete ich die Augen und erstarrte erneut.


    Unser Haus stand vor mir und davor stand Ben. Mein Ben, wie ich ihn kannte. Ich rannte fast schneller als mich meine Füße trugen, denn ich hatte Angst, dass er sich in Luft auflöste. Dann, Sekunden später, flog ich in seine Arme und weinte hemmungslos. Ich hatte ihn so sehr vermisst. Seine Arme um meinen Körper zu spüren und seinen warmen Atem in meinem Gesicht zu spüren, war das einzige gewesen, was ich je wieder spüren wollte.


    Nach einiger Zeit und als ich mich ein wenig beruhigt hatte, schob er mich ein Stück von sich weg. „Annie, mein Herz, du weißt, dass ich nicht real bin. Ich wollte dir nur zeigen, dass ich immer bei dir bin und dass ich möchte, dass du für unsere Träume kämpfst. Du darfst nicht aufgeben. Das verbiete ich dir. Du wirst wieder glücklich werden und mich für immer im Herzen tragen. Jetzt geh und lebe dein Leben! Du bist noch so jung und solltest nicht in Dunkelheit und Trauer leben.“


    Kaum hatte er zu Ende gesprochen, drehte er mich schon von sich weg und schob mich die Treppen herunter. Ich drehte mich um, um zu protestieren, aber ich sah voller Entsetzen, dass das Abbild von ihm immer blasser wurde und schließlich ganz verschwand.


    Ein seltsames Gefühl legte sich um mich. Ich nahm Geräusche wahr, die hier eigentlich nicht sein durften. Mit einem Ruck setzte ich mich auf. War das ein Traum gewesen? Ich spürte meine Tränen noch immer die Wangen hinunterlaufen und obwohl mein Herz immer noch schwer in meiner Brust schlug und ich mich am liebsten ins Bett gelegt hätte und nie wieder aufgestanden wäre, wusste ich was zu tun war. Ben hatte Recht. Ich musste es einfach schaffen, wieder ins Leben zu finden. Also machte ich mich auf die Suche nach meinem Handy. Mal sehen, ob meine Eltern mich auch ohne Geschenke und Weihnachtsvorbereitungen heute noch zum weihnachtlichen Festmahl einladen würden.

  • Der 16. Dezember von Joan Weng


    Ein Bild von einem Haus


    1957 kauften sich meine Großeltern einen Fotoappart, rechtzeitig zur Einschulung meines Vaters – für die Zeit davor gibt es von meinem Großvater nur drei Bilder.


    Das erste zeigt ihn an seinem Hochzeitstag. Er ist 19 Jahre alt und wirkt sehr schmal in seiner Landseruniform. Ernst blickt er in die Kamera und meine Großmutter, die hält er ganz fest, nicht nur an der Hand, auch an der winzigen Taille, der Stoff knittert, so fest hält er seine frischgebackene Ehefrau. Meine Großmutter aber lacht, undamenhaft breit und triumphierend. Sie hat ihren Willen und ihren Harry bekommen, gegen alle Widerstände ihrer Familie und eigentlich nur wegen des Ordens auf der Brust meines Opas.


    Ein Stück Blech, dem man da noch nicht ansieht, dass es 60 Jahre später zusammen mit ausländischem Münzgeld, einem Aufziehfrosch und einigen Zinnsoldaten in einer Bahlsenkekskiste vegetieren wird. Ein Stück Blech, dass 1942 mächtig genug war, einem eltern- und mittellosen Wohlfahrtsabiturienten die Ehe mit einer höheren Tochter zu ermöglichen. Nur die Mitgift, die wird ihr gestrichen – wer sowieso nichts hat und nie was hatte, der ist das gewöhnt und braucht deshalb auch nichts bekommen. Die Logik ist gleichermaßen simpel wie bestechend.


    Meiner Großmutter aber ist es egal, sie ist noch nicht ganz achtzehn Jahre, sie ist rasend verliebt und sie freut sich auf die Zukunft. Dass diese schön wird, das weiß sie genau. Und wenn sie es vielleicht doch nicht weiß, dann will sie es zumindest glauben.


    Und sie behält recht, natürlich behält sie recht – wer so glücklich triumphierend lacht, muss einfach recht behalten. Man kann es auf dem zweiten Bild von meinem Großvater gut erkennen.

    Zwölf Jahre liegen zwischen den Aufnahmen, diesmal ist es ein Schnappschuss, die beste Freundin meiner Oma hat ihn gemacht. Die ganze Familie beim Kastaniensammeln, Bäume und See im Hintergrund.


    Mein Onkel Ulrich als einziger Penäler der Familie steht etwas abseits, für derartige Kindereien hat er nichts übrig, noch einmal zwölf Jahre und er wird in Paris Philosophie studieren, aber vorläufig sieht er einfach nur gelangweilt drein. Meine Oma präsentiert Sonntagstaat, Petticoat und Dauerwellen, sie lächelt ein bisschen angestrengt, mein Onkel Rudi zerrt an ihrer Hand, seine Locken stoben, er winkt und fuchtelt und will ganz offensichtlich nicht länger Model stehen.


    Ganz anders mein Vater, er ist sich der Bedeutung dieser Fotoaufnahme bewusst, gleichermaßen würdevoll wie zahnlückig hält er sein volles Körbchen in die Kamera, Erfolg und Eifer demonstrierend. Mein Großvater hat ihm die Hand auf die Schulter gelegt und blickt noch immer ernst.


    Seinen Hut aber hat er sich unternehmungslustig in den Nacken geschoben, anders als einst die Uniform füllte er Pullunder und Sakko aus und sieht man genau hin, dann erkennt man ein heimliches Lächeln in seinen Augen.


    Er war im Krieg, er war in russischer Gefangenschaft und wenn er dort etwas gelernt hat, dann dass der Mensch im Grunde seines Herzens gut ist. Vielleicht hätte er Pfarrer werden können, aber er ist nicht fromm – niemand der in Stalingrad war, kann noch an einen mitfühlenden Gott glauben. Aber an die menschliche Güte, an die muss mein Opa zum Glück nicht glauben, von der ist er überzeugt, ebenso wie von Aral Benzin.


    Und dann gibt es jenes dritte Foto und dessen Geschichte möchte ich erzählen.


    Es begann damit, dass ein Brief kam –es war ein paar Wochen vor Weihnachten und von daher keine wirkliche Überraschung.


    Zwar hatte der Krieg meine Oma fast alle männlichen Verwandten gekostet, aber sie besaß dennoch eine Unzahl an Tantchen, an Cousinen und Freundinnen. Aus der gesamten Bundesrepublik erhielt sie Post, dazu Karten aus Österreich, Frankreich, Italien und manchmal kam sogar ein Pakt von einer inzwischen nach Wisconsin verheirateten Nachbarin.


    Mein Großvater bekam manchmal einen Brief von einem Freund oder einem Kameraden, sonst nur geschäftliche Schreiben.


    Seine Mutter hatte in einer Hamburger Bierhalle gearbeitet und dort auch seinen Vater kennengelernt, einen irischen Matrosen. Sie wird ihn schon irgendwie geheiratet haben, zumindest zahlte er drei, vier Jahre Unterhalt für seinen Sohn, ohne ihn oder die Mutter je wieder zu besuchen.


    Mein Opa aber wurde zu einem Stuttgarter Kioskbesitzerpaar gegeben und dort ging es ihm sehr gut, auch noch nachdem seine ferne Mutter an einer Krankheit gestorben war, über die man so gründlich nicht sprach, dass bis heute keiner weiß, was es nun Unschickliches gewesen sein mag.


    Schlimm wurde es 33, mein Opa war zehn und der Kioskbesitzer Jude. Zwei Jahre haben sie ihr Lädchen noch betrieben, dann wurde es zu gefährlich, dann sind sie ausgereist und mein Opa kam ins Waisenheim – mitnehmen konnten sie ihn nicht, er war ihnen ja nie offiziell anvertraut worden. Ich glaube, mein Opa war ihnen sehr lange, sehr böse deswegen, auch noch nachdem jeder wusste, was in Deutschland mit ihnen geschehen wäre.


    Wie mein Vater den Kioskbesitzer dann in Frankreich kennenlernen durfte, ist auch eine schöne Geschichte, aber heute soll es ja um das dritte Foto gehen.


    Und um jenen an meinen Großvater persönlich adressierten Brief – er kam aus Irland und war offensichtlich etwas Offizielles, nur leider in englischer Sprache geschrieben. Meine Großeltern konnten beide Französisch, mein Großvater auch noch Latein,

    Altgriechisch und Russisch, aber ihr Englisch reichte gerade für ein paar Floskeln mit den Besatzern.


    Der Hauswart wurde um Hilfe gebeten, der besaß einen Duden und mit diesem übersetzte er dann Wort für Wort, dass der Brief von einem Notar stamme und mein Großvater von seinem verblichenen Vater ein Manor House geerbt habe, also zumindest ein halbes. Es gab da nämlich noch einen Bruder, dem gehörte die andere Hälfte und eigentlich war das Ganze schon fast drei Jahre her, die Auffindung des Erben hatte sich gezogen.


    Meine Großmutter, die gern Romane las, glaubte sofort an ein Geschenk des Schicksals, rosenbewachsenes Schloss inclusive. Mein Großvater, war von weniger prosaischer Natur, er misstraute den Sprachkenntnissen ihres Hauswarts und brachte den Brief zu einem staatlichen Übersetzter, der den Inhalt aber gerade so bestätigte: Mein Großvater hatte tatsächlich ein Haus geerbt. Und nicht irgendeines, nein! Ein Manor House fast direkt an der irischen Nordwestküste. Und einen Halbbruder hatte er gleich obendrein – der hieß übrigens auch Harry, was je nach Blickwinkel von Einfallslosigkeit oder echter Begeisterung für den Namen zeugt.


    Der staatliche Übersetzter regelte dann ziemlich viel über den Fernsprecher und via Telegramm, alle möglichen Papiere mussten beschafft werden und dann waren es wieder die falschen oder es gab sie schlicht nicht mehr. Eine Geburtsurkundenersatz meines Großvaters konnte erst nach viel Schriftverkehr aufgespürt werden und überhaupt zog sich die ganze Sache furchtbar in die Länge, fast das komplette Jahr 55 ging darüber hin.


    Meine Großeltern schrieben sich derweil bei Berlitz ein und lernten, nach dem Bahnhof zu fragen und sich auf Englisch über die Farbe einer Hose zu unterhalten.


    Und dann kam plötzlich ein Brief von jenem anderen Harry – entgegen der Voraussage des Vaters meiner Oma wollte er keineswegs irgendetwas anfechten oder gar verweigern, er

    schrieb sehr nett und obendrein in leidlich verständlichem Deutsch. Berlitz gab es nämlich auch in Irland.


    Es ging ein paar Briefe hin und her, dann lud er seinen Bruder nebst Frau und Kinder einfach zu Weihnachten ein. So macht man das eben, wenn man Familie ist und mein Großvater, schrieb zurück, sie kämen gerne.


    Das war ein bisschen gelogen, denn meine Oma graute es vor der Zugfahrt nach Hamburg und dann von Hamburg mit dem Schiff nach Dublin und dann von Dublin mit dem Zug bis Sligo und dann noch mal zwei Stunden mit dem Auto. Genau wie dereinst Maria war sie nämlich wieder schwanger, aber außerdem hatte sie schon drei Buben, die auf der endlosen Reise irgendwie beschäftig werden sollten. Wenn sie nur an das Gepäck dachte, das da gewaschen, gebügelt, gepackt, transportiert und nachher wieder ausgepackt, gewaschen und gebügelt werden musste.


    Und ihr Vater erst, der drohte abwechselnd mit Enterbung oder mit Selbstentleibung, auf keinen Fall würde er Weihnachten allein verbringen. Mitkommen kam für ihn gleichfalls nicht in Frage - das musste er dann zum Glück auch nicht, ein Tantchen lud ihn zu sich nach Norddeutschland. Dort gefiel es ihm so gut, dass er die komplette Rückreise von Hamburg nach Stuttgart genussvoll darüber jammerte, dass er nun wieder in das schlampige, von Kindern überflutete Heim seiner Tochter zurücksollte.


    Und meine Großeltern, die sind tatsächlich 1955 zu Weihnachten nach Irland gereist – vor Ort waren sie am Ende allerdings nur vier Tage, die Reise dauerte hin und zurück damals fast sechs. Aber so ist jenes dritte Bild meines Großvaters entstanden, es zeigt ihn Seite an Seite mit einem Mann, der sein Zwilling sein könnte. Sie haben sich den Arm um die Schulter gelegt und sie lachen, breit und bestimmt auch laut.


    Sie lachen ein bisschen ungläubig und auch ein bisschen hilflos, sie kennen sich eigentlich gar nicht, sie sehen sich das erste Mal, aber sie wissen, dass sie noch oft so zusammen lachen werden, schließlich sind sie Brüder und deshalb können sie auch ihre Münder weit aufreißen und ihre Freude in die Welt lachen.


    Harry, der zweite zeigt zur Seite, auf das Manor House, das gar keins ist. Es ist klein und Stroh gedeckt und in den Fenstern hängen Sterne. Der im Fenster unten links, der ist von meinem Papa und immer wenn ich das Bild anschaue, dann sage ich ihm, dass das der schönste von allen ist.


    Dann freut er sich und erzählt mir noch eine Geschichte, vielleicht die wie mein Onkel Rudi wegen seiner ungebändigten Locken von einem Hütehund für ein Schaf gehalten und zur Herde getrieben wurde? Oder vielleicht die, wie mein Großvater auf der Rückfahrt nach Dublin mit dem Auto liegenblieb – was aber niemand wunderte, in Irland gab es damals noch kein Aral-Benzin.

  • Der 17. Dezember von R. Bote


    Das Weihnachtrennen


    40 Kilometer durch drei Städte, über Stadt- und Landstraßen, zwischendrin auch mit einigen Höhenmetern – der Tisch war gedeckt für ein durchaus anspruchsvolles Radrennen. Das Rennen am zweiten Weihnachtstag hatte Tradition und sollte noch einmal ein Höhepunkt des Radsportjahres für alle Altersklassen werden. Je nach Alter variierte die Strecke, die Erwachsenen fuhren die Runde zweimal, die Kleinen durften Abkürzungen nehmen und sparten sich die Steigung.

    In der Altersklasse der vierzehn- und fünfzehnjährigen Mädchen war der Favoritenkreis eng eingegrenzt: Charlotte Hagen, Lotta genannt, vom RV 28 und die Halbitalienerin Gina Villa aus der Radsportabteilung des örtlichen Triathlonvereins Tri-Club waren in diesem Jahrgang das Beste, was Westdeutschland an Radrennfahrerinnen zu bieten hatte. Alle, die sich in der Szene auskannten, gingen davon aus, dass sie Gold- und Silbermedaille in die Stadt holen würden. Spekuliert wurde nur, welche den ersten Platz machen würde, die Chancen schienen etwas besser für Gina, die bei den letzten beiden Vergleichen die Nase vorn gehabt hatte. Ohne dass das ihre Leistung schmälern sollte, musste man allerdings festhalten, dass Lotta sich nach den Sommerferien im Schulsport den Fuß verstaucht und durch die Verletzung Trainingsrückstand angesammelt hatte.

    „Wie fühlst du dich?“, fragte Lottas Vater, der auch ihr Trainer war. „Gut“, antwortete Lotta. „Ich schätze, ich bin wieder bei 100 Prozent.“ „Bring es auf die Strecke!“, forderte ihr Vater. „Du bist besser als Gina, zeig ihr, wo sie steht, wenn du fit bist!“ Lotta nickte. „Ich gebe mein Bestes“, versprach sie.

    Ihr Vater ging mit ihr noch mal die Strecke durch und fragte sie ab, wie sie die einzelnen Abschnitte angehen sollte. Die Kräfte einteilen, sich nicht auf wahnsinnige Duelle einlassen, aber gleichzeitig Ausbruchsversuche verhindern, um keinem Rückstand hinterherzuhecheln – Lotta kannte das alles, aber sie wusste auch, dass der Plan ganz schnell Makulatur sein konnte. Sie war ja nicht allein auf der Strecke, und sie konnte nicht sicher sein, was die anderen Fahrerinnen machen würden. Sie würde ihre Situation einschätzen und ihre eigenen Entscheidungen treffen müssen, das konnte ihr Vater ihr nicht abnehmen.

    Sie kannte den Kurs, war das Weihnachtsrennen im Vorjahr schon gefahren und hatte gewonnen, mit zwei Radlängen Vorsprung auf Gina. Auch da hatten sie ihre Altersklasse schon dominiert, obwohl sie zu den jüngeren Fahrerinnen gehört hatten. Trotzdem war sie in den letzten Wochen mehrfach die komplette Strecke gefahren, um sicher zu sein, dass sie alles frisch im Gedächtnis hatte. Im Duell mit Gina zählten Nuancen, ein kurzes Abweichen von der Ideallinie, weil ihr zu spät klar wurde, ob es an einer Gabelung rechts oder links ging, konnte sie den Sieg kosten.

    Eine Lautsprecherstimme forderte die Fahrerinnen auf, sich am Start zu versammeln, und die Jungen, die im nächsten Rennen starten würden und sich noch warm machten, die Strecke zu räumen. Ein Stück weiter vorne stand der Führungswagen, der vor den ersten Fahrerinnen bleiben würde, das Schlussfahrzeug stand in einer Einfahrt und würde sich einreihen, wenn die letzten Mädchen gestartet waren. Das alles war eine Nummer kleiner als bei einem Profirennen, aber der Ausrichter tat doch das Mögliche, um allen Fahrerinnen und Fahrern optimale Bedingungen zu bieten.

    Gerüchteweise waren die Veranstalter früher am Morgen noch unsicher gewesen, ob sie das Rennen überhaupt durchführen konnten. Es war kalt, die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt, und niemand wollte dafür verantwortlich sein, wenn es wegen Glätte einen Massensturz gab. Aber nachdem die Strecke begutachtet und in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung ein Streufahrzeug durchgeschickt worden war, sprach nach Ansicht der Ausrichter nichts mehr dagegen, den Startschuss zu geben.

    Lotta wäre traurig gewesen, wenn das Rennen ausgefallen wäre. Gerade weil sie bei den letzten Rennen gehandicapt gewesen war, hatte sie sich darauf gefreut, noch mal ein Rennen fahren zu können, ehe es bis Ende März in die Pause ging. So lange würde es kein Rennen geben, der Schwerpunkt der Saison lag zwischen Mai und Ende September. Natürlich würde sie trainieren, aber das war nicht das Gleiche.

    „Toi, toi, toi!“, sagte ihr Vater. „Du packst das!“ Lotta nickte und schlug gegen die Hand, die er ihr hinhielt. Dann schob sie ihr Rad zum Start und sicherte sich einen Platz weit vorne im Feld. Wenn es nach ihrem Vater gegangen wäre, hätte sie sich schon lange bereitgemacht, um wirklich direkt an der Startlinie zu stehen. Zwar wurde die Zeit mit Hilfe eines Chips im Schild mit der Startnummer gemessen und startete bei jeder Fahrerin erst, wenn sie tatsächlich über die Startlinie rollte, aber je weiter vorne sie startete, desto geringer war die Gefahr, ein paar Sekunden zu verlieren, weil andere ihr im Weg waren. Doch die Veranstalter hielten den Startbereich frei, bis es ernst wurde, so war Lotta und ihrem Vater nichts anderes geblieben, als sich einen Platz zum Warten zu suchen, der eine möglichst günstige Ausgangsposition bot.

    Weil Gina es genauso hielt, begegneten sie sich auf dem Weg zur Startzone und standen schließlich nebeneinander in der ersten Reihe. „Viel Glück!“, sagte Gina. „Auf ein gutes Rennen!“ Sie lächelte dabei, und Lotta wusste, dass sie es ehrlich meinte. Natürlich wollte Gina gewinnen, aber sie war eine faire Sportlerin. „Ja, auf ein gutes Rennen“, antwortete Lotta. „Dir auch viel Glück.“ Auch sie meinte es so, wie sie es sagte, und wenn Gina sie schlug, würde sie das akzeptieren, auch wenn sie bis zur Ziellinie alles geben würde, um es zu verhindern.

    Sie sah, dass ihr Vater das kurze Gespräch bemerkt hatte und es argwöhnisch beobachtete. Sie wusste, dass es ihm nicht gefiel, sie sollte sich auf sich konzentrieren und sich nicht in die Karten schauen lassen. Als ob sie das nicht trennen konnte! Sie war doch keine Anfängerin mehr! Außerdem kannte sie Gina inzwischen so lange, sie wusste, dass die nicht versuchen würde, derart hinterlistig ihre Schwächen auszuforschen.


    ***


    Lotta kam gut weg und hielt sich vom Start weg in der Spitzengruppe. Insgesamt gingen rund 60 Fahrerinnen auf die Strecke, ein knappes Dutzend setzte sich etwas vom Feld ab. Die meisten aus dieser Gruppe kannte Lotta flüchtig, sie waren alle schon lange dabei und fuhren die meisten Rennen in der Region mit. Aber sie waren doch eine Liga unter ihr und Gina, deshalb war die Konkurrenzsituation nicht zu vergleichen.

    Während der Vorsprung auf das Hauptfeld kontinuierlich wuchs, blieb die Spitzengruppe als solche recht eng zusammen. Lotta teilte sich ihre Kräfte ein, und sie sah, dass auch Gina bewusst noch nicht versuchte, sich abzusetzen. Hinter ihr war eine Fahrerin aus Ostwestfalen, sie versuchte, sich abwechselnd bei Lotta und Gina im Windschatten zu halten. Ein Mädchen, von dem Lotta wusste, dass es aus Leverkusen kam, obwohl es für einen Verein aus Ratingen fuhr, wagte einen halbherzigen Ausbruchsversuch, brach aber nach wenigen hundert Metern ab.

    Zur Hälfte der Strecke zog Lotta das Tempo etwas an. Es war kein regelrechter Ausbruchsversuch, nur das kleine bisschen mehr, das die anderen – außer Gina natürlich – nicht auf Dauer würden mitgehen können. Die meisten blieben deshalb auch bei ihrem Tempo, nur Stacy Günzel, die irgendwo am Niederrhein zu Hause war, versuchte, sich dranzuhängen. Und Gina natürlich, sie nahm Lottas Temposteigerung als Signal, ebenfalls etwas fester in die Pedale zu treten. Lotta nahm aber an, dass sie von vornherein so geplant hatte, sie kannte Gina lange genug, um deren Taktik einzuschätzen. Auch deshalb war es zwecklos, vor dem Start einen auf emotionale Eiszeit zu machen, sie fuhren zu lange gegeneinander, um sich noch gegenseitig überraschen zu können.

    Über eine Strecke von vier oder fünf Kilometern arbeiteten sie sich zu dritt einen Vorsprung gegenüber den Verfolgerinnen aus der Spitzengruppe heraus. Es waren wohl schon einige Minuten, die sie der Spitzengruppe voraus waren, schätzte Lotta, und sie nahm an, dass die wiederum mindestens genauso viel Vorsprung auf das Hauptfeld hatte. Nachprüfen konnte sie es nicht, sie hatte keine Verbindung zu ihrem Vater, über die er ihr ihre Zeit und die der anderen hätte mitteilen können. Auch die Veranstalter hatten keine Displays aufgestellt, um den Fahrerinnen die Zwischenzeiten anzuzeigen. Nur Schilder mit der verbleibenden Entfernung zum Ziel gab es hin und wieder.

    Noch dreizehn waren es, als Stacy zurückfiel. Sie hatte viel investiert, aber Lotta und Gina hatten keine Schwäche gezeigt. Jetzt musste Stacy eine Entscheidung treffen, ob sie alles auf eine Karte setzten wollte, und entschied sich für das, was realistisch war. Sie konzentrierte sich darauf, den bis jetzt gegenüber den nächsten Verfolgerinnen herausgefahrenen Vorsprung zu halten, um so am Ende den dritten und letzten Podestplatz zu sichern. Dass sie weiter darauf hoffte, dass Lotta und Gina schwächelten, war klar, aber das würde ihr nur etwas nützen, wenn sie selbst dann noch etwas zuzusetzen hatte.

    Lotta war entschlossen, es nicht dazu kommen zu lassen. Sie fühlte sich gut, sie hatte gut trainiert in den letzten Wochen und war nach der Verletzung im Sommer wieder bei hundert Prozent angekommen. Natürlich spürte sie die gefahrenen Kilometer, aber das war normal. Es gab keinen Grund, zu befürchten, dass ihr auf den letzten Metern die Kraft ausgehen würde. Sie würde das Tempo halten und im richtigen Moment noch einmal zulegen.


    ***


    Zehn Kilometer vor dem Ziel schienen Lotta und Gina ungefährdet den ersten beiden Plätzen auf dem Siegertreppchen entgegenzufahren. Der Vorsprung war beträchtlich, soweit sie das einschätzen konnten, selbst Stacy war zu weit hinter ihnen, um sie noch im Endspurt abzufangen.

    Auf einer kurvigen Landstraße passierten sie das Ortsschild ihrer Heimatstadt. Zu beiden Seiten erstreckten sich Felder, bis zu den ersten Siedlungen am Stadtrand war es bestimmt noch ein Kilometer. Leichter Nebel waberte über den Äckern, und nichts war zu hören außer dem Sirren der Reifen, dem keuchenden Atem und ein Stück vor ihnen das Summen des elektrisch betriebenen Führungsfahrzeugs.

    Im Moment hatte Gina einige Meter Vorsprung, aber das hieß nichts. Lotta kannte das schon, auch bei anderen Rennen, die sie gegeneinander gefahren waren, war es so gewesen. Mal war sie einen Hauch vorne, mal Gina, es wechselte auch während eines Rennens, und es war nur die Frage, wer am Ende zur richtigen Zeit in den Schlussspurt ging.

    Vorne am Führungsfahrzeug wurde das Fenster auf der Beifahrerseite heruntergelassen. Lotta dachte sich nichts dabei, vielleicht brauchten die beiden Männer da drin einfach frische Luft. Doch dann kam eine Hand aus dem Fenster und warf irgendwas nach draußen. „Ferkel!“, ging es Lotta durch den Kopf. Was genau der Beifahrer auf die Straße entsorgt hatte, hatte sie nicht erkennen können, sie tippte auf eine Zigarettenkippe. Bescheuert war es auf jeden Fall.

    Gina war wohl nicht gefährdet, getroffen zu werden, das Führungsfahrzeug war weit genug vor ihr. Trotzdem wich Gina aus, im Grunde war das richtig. Auch ein kleiner Gegenstand konnte die dünnen Rennradreifen aus der Spur bringen, und wenn es keine Kippe war, sondern etwas Scharfes, konnte der Reifen auch kaputtgehen. Das würde richtig Ärger geben für den Beifahrer, der damit ja auch auf eine nicht hinnehmbare Weise ins Rennen eingriff. Gina musste von der Ideallinie weggehen, durch das instinktive Ausweichmanöver geriet sie in der gezogenen Linkskurve, die die Straße an dieser Stelle machte, weit nach rechts. Davon hätte Lotta profitieren können, sie war weit genug weg, um den weggeworfenen Gegenstand rechtzeitig einzukalkulieren; so hätte sie mit allenfalls minimalem Ausweichen an der Kurveninnenseite bleiben und einige Meter gutmachen können.

    Dass sie das so oder so nicht ausgenutzt hätte, weil es unfair gewesen wäre, würde nie jemand erfahren, denn im nächsten Augenblick war die Überlegung Makulatur. Gina rutschte das Rad unter dem Körper weg, beide Räder brachen ohne Vorwarnung nach rechts, zum Fahrbahnrand hin, aus. So schnell konnte Gina gar nicht darauf reagieren, sie stürzte, kam zuerst mit dem Knie auf und krachte dann schwer auf die Hand, mit der sie den Sturz reflexhaft abfangen wollte.

    Dass sie das Knacken der Knochen hörte, bildete Lotta sich vielleicht nur ein, aber dass Gina diesen Sturz mit einem gebrochenen Handgelenk bezahlt hatte, stand für sie außer Zweifel. Dafür brauchte es nicht erst den Schmerzensschrei von Gina, die liegen blieb, wie sie aufgekommen war, und mit der rechten Hand das Gelenk der linken umklammerte.

    Das begreifen und handeln waren eins. Lotta zog die Bremsgriffe durch und löste mit einer Fußdrehung die Rasten, die die Schuhe mit den Pedalen verbanden. Sie schob das Rad zum Straßenrand, legte es ins Gras und lief weiter zu Gina. Dabei erkannte sie, was ihrer stärksten Konkurrentin zum Verhängnis geworden war: Ein schmaler Streifen am Straßenrand war mit Raureif überzogen und höllisch glatt. Offenbar hatte das Streufahrzeug in der Kurve den Straßenrand nicht erwischt, und entweder hatte der Fahrer es nicht bemerkt, oder er hatte gedacht, dass es egal war, weil die Ideallinie ohnehin auf der anderen Straßenseite lag.

    Für den Moment war zweitranging, warum nicht gestreut worden war. Lotta arbeitete sich zu Gina vor und ging dabei im Gras neben der Straße, um nicht selbst auszurutschen. Die Radschuhe waren nicht fürs Laufen gemacht, die Sohle aus Hartplastik und Metall bot keinen verlässlichen Halt.

    Vorsichtig hob Lotta Ginas Rad an, zog es zwischen Ginas Beinen weg und legte es zur Seite. Zum Glück war das Rad wie die meisten Rennräder auf ein geringes Gewicht optimiert, sonst hätte Lotta es kaum geschafft, ohne Gina noch zusätzlich wehzutun. Mühsam setzte Gina sich auf, gestützt von Lotta, die aufpasste, dass ihre Konkurrentin sich nicht versehentlich auf die verletzte Hand stützte.

    Schließlich saß Gina einigermaßen bequem, und Lotta überlegte, was sie nun tun sollte. Natürlich hatte sie kein Handy bei sich, konnte also auch nicht um Hilfe telefonieren. Hatten die Leute aus dem Führungsfahrzeug wenigstens gemerkt, was sie angerichtet hatten, und angehalten? Sonst hatte sie nur noch die Wahl, Gina zurückzulassen, um zum nächsten Haus zu fahren, oder eine der anderen Fahrerinnen anzuhalten.

    Sie schaute die Strecke entlang und sah, dass das Führungsfahrzeug angehalten hatte. Die beiden Männer hatten also zumindest gesehen, dass sie die Fahrerinnen abgehängt hatten, und warteten, dass sie wieder aufschlossen. Wahrscheinlich hatten sie auch den Sturz gesehen, ein Auge mussten sie ja zwangsläufig auf den Rückspiegel haben, aber vielleicht schätzten sie die Lage nicht so dramatisch ein und dachten, Gina könnte nach einer kurzen Pause weiterfahren.

    Mit einer Hand winkte sie in Richtung des Fahrzeugs, dass jemand kommen sollte, während sie gleichzeitig schaute, welche Mittel sie hatte, um Gina zu helfen. Aus einem Erste-Hilfe-Kurs in der 4. Klasse wusste sie, dass das verletzte Gelenk stabilisiert werden musste, aber womit? Sie hatte nichts dabei, was sich dafür geeignet hätte.

    Während sie noch überlegte, näherte sich aus der Richtung, aus der sie und Gina gekommen waren, eine einsame Radfahrerin. Stacy! Sie hatte in der Zwischenzeit vielleicht eine Minute Rückstand angesammelt auf das bisherige Spitzenduo, mehr Zeit konnte nicht vergangen sein seit Ginas Sturz, auch wenn es sich anders anfühlte. Von den übrigen Verfolgerinnen war noch nichts zu sehen, offensichtlich hatte Stacy den Vorsprung auf die Plätze vier und weiter halten können.

    Stacy sah die beiden Konkurrentinnen am Straßenrand sitzen und verlangsamte ihre Fahrt. „Vorsicht!“, rief Lotta ihr zu. „Am Rand ist’s glatt!“ „Hat’s dich deswegen runtergehauen?“, fragte Stacy, als sie Lotta und Gina erreicht hatte. Gina nickte mit zusammengebissenen Zähnen. „Sie hat sich die Hand gebrochen“, erklärte Lotta. „Kannst du denen da im Auto sagen, sie sollen kommen? Scheint so, als hätten sie nicht gemerkt, dass Gina verletzt ist.“ „Das müssten sie doch gesehen haben!“, wunderte Stacy sich. „Okay, ich schicke sie her.“ „Danke“, sagte Lotta. „Du brauchst dann auch nicht zurückzukommen, es reicht, wenn das Rennen für uns gelaufen ist.“ „Sicher?“, fragte Stacy, sichtlich hin- und hergerissen. Es war ihre Chance, ein Rennen ganz vorne zu beenden, aber sie wollte fair gewinnen. „Du kannst nichts dafür“, betonte Lotta, der es an Stacys Stelle sicherlich ähnlich gegangen wäre. „Du musst nicht verzichten, und wir kommen zurecht.“

    Stacy nickte und machte sich auf den Weg. Als sie sich dem Führungsfahrzeug näherte, fuhr es wieder an, Fahrer und Beifahrer hatten offenbar tatsächlich nichts begriffen. Aber Stacy rief und winkte, dass sie anhalten sollten, und schließlich trat der Fahrer auf die Bremse. Zum Glück war Stacy schräg hinter dem Auto, sonst wäre sie womöglich noch ins Heck geknallt. Schlitternd hielt sie an der Beifahrerseite, und Lotta sah, wie sie mit dem Mann dort sprach. Es zog sich, Lotta wusste nicht, ob die beiden Männer nicht begriffen, oder ob sie nicht wussten, wie sie ihrer Verantwortung gerecht werden sollten.

    Dann endlich stieg der Beifahrer aus, wobei er fast noch Stacy die Tür vor die Brust knallte. Er war echt ein Anfänger, und kurz fragte Lotta sich, ob es nicht doch besser wäre, Gina ohne seine Hilfe zu versorgen. Sie sah, dass Stacy noch einmal in ihre Richtung schaute, wie, um sich zu vergewissern, dass es wirklich in Ordnung war, wenn sie weiterfuhr und das Rennen gewann. Sie nickte und lächelte leicht, ja, es war okay.

    Noch etwas zögernd nahm Stacy wieder Tempo auf. Auch der Führungswagen fuhr wieder an, nachdem der Beifahrer noch einen Rucksack mit Erste-Hilfe-Material von der Rückbank geklaubt hatte. Er setzte sich vor Stacy und entfernte sich zügig.

    Das bedeutete, dass Gina einige Zeit würde warten müssen, bis sie abgeholt wurde, denn das nächste Begleitfahrzeug war hinter der allerletzten Fahrerin, und erfahrungsgemäß gab es immer die eine oder andere, die dem Feld weit hinterherhing. Oder wollte der Beifahrer einen Rettungswagen rufen? Ins Krankenhaus musste Gina auf jeden Fall, damit die Hand geröntgt und fachgerecht behandelt wurde.

    Eine große Hilfe war der Mann Lotta nicht. Vielleicht kam es ihr auch nur so vor, weil sie immer noch stinkig war wegen seines Umweltfrevels, der das Unglück überhaupt erst ausgelöst hatte. Immerhin hatte er genug Mullbinden im Rucksack, um die verletzte Hand zu schienen. Allerdings fehlte es an einem langen, festen Gegenstand, den man als Schiene benutzen konnte, da war nichts Passendes im Rucksack, und auf dem Acker brauchte man wohl auch nicht nach einem Stock zu suchen. Doch Lotta hatte eine Idee, sie nahm ihre Wasserflasche aus der Halterung am Rahmen ihres Fahrrads. Die hatte nicht die optimale Form, aber Lotta schaffte es, sie so an Ginas Arm zu fixieren, dass das Gelenk nicht mehr bewegt werden konnte.

    Der Mann aus dem Begleitfahrzeug kam immerhin auf die Idee, eine dieser Foliendecken herauszukramen, die dazu dienten, Verletzte vor Unterkühlungen zu bewahren. Die konnten Lotta und Gina brauchen, sie waren mit Radlerhose und Trikot nur leicht bekleidet, und nach 30 Kilometern Radrennen waren sie natürlich auch durchgeschwitzt. Noch wirkte die Anstrengung nach und hielt die Mädchen warm, aber das würde sich schnell ändern.

    Lotta breitete die Decke auf dem Boden aus, sodass sie und Gina einen Rand als Unterlage unter dem Po nutzen konnten. Sie rückte dicht an Gina heran, dicht wie an eine gute Freundin, so hatten beide Platz unter der Folie und konnten sich sogar gegenseitig etwas wärmen.

    Während sie sich so gut wie möglich einkuschelten, rauschte die Spitzengruppe an ihnen vorbei. Lotta schaute kaum auf, bekam aber mit, wie zwei Mädchen einen Sprint anzogen, sowie sie die Situation erfassten. Der Gedankengang war klar: Für Lotta und Gina war das Rennen gelaufen, das hieß, dass nun Stacy die Führende war, und sie abzufangen, lag eher im Bereich des Möglichen. Sollten sie, für Lotta ging es in diesem Moment nur um Gina.

    Für den Beifahrer des Begleitfahrzeugs gab es nicht mehr viel zu tun. Immerhin rief er die Rennleitung an, um sie über den Unfall zu verständigen. Die Rennleitung würde wiederum Ginas Trainer informieren, und Lotta rief dem Mann zu, dass sie am Start und Ziel nicht vergessen sollten, auch ihrem Vater Bescheid zu sagen, dass sie bei Gina blieb. Danach hieß es warten.


    ***


    Die Veranstalter dachten mit. Statt Lotta und Gina auf das Begleitfahrzeug hinter den letzten Fahrerinnen warten zu lassen, schickten sie einen Wagen auf dem kürzesten Weg zum Unfallort. Es dauerte etwas über zehn Minuten, bis ein Kompaktwagen über einen Feldweg gerumpelt kam, der eigentlich nur für landwirtschaftliche Fahrzeuge freigegeben war, und auf die Landstraße einbog. Gleich darauf hielt er bei den beiden Mädchen.

    Am Steuer saß eine Frau um die dreißig, wahrscheinlich eine Helferin, die man woanders abgezogen hatte. Das Auto war vermutlich ihr privates und auf jeden Fall zu klein, um die Räder mitzunehmen. Das machte aber nichts, wichtig war, dass Gina schnell zu einem Arzt kam. Selbst Lotta hätte nicht unbedingt mitfahren müssen, sie hätte auch weiterradeln können, entweder auf der Rennstrecke oder auf dem direkten Weg. Aber sie fand es besser, Gina nicht allein zu lassen, und die Frau, die sie abholte, Mareike hieß sie, war einverstanden. Die Fahrräder würde das letzte Begleitfahrzeug einsammeln, der Beifahrer des Führungsfahrzeugs „durfte“ sie so lange bewachen.

    Mareike bemühte sich um eine erschütterungsfreie Fahrt, damit Gina keine zusätzlichen Schmerzen leiden musste. Ganz vermeiden ließ es sich leider nicht, einige Straßenstücke waren so krumm und buckelig, dass Mareike unmöglich allen Unebenheiten ausweichen konnte. Aber Gina biss die Zähne zusammen, mehr als ein schmerzliches Zischen kam ihr nicht über die Lippen, und das auch nur, als Mareike aufgrund der Lichtverhältnisse eine Kante im Asphalt übersah. Lotta fand, dass Gina sich tapfer hielt, die Schmerzen im Handgelenk mussten doch beträchtlich sein.

    Am Start und Ziel des Rennens wurde Gina bereits erwartet. Man hatte einen Parkplatz freigehalten für Mareike, sodass Gina nicht elend weit laufen musste, und als Mareike den Wagen in die Parklücke rangierte, eilten Ginas Eltern und auch ihr Trainer heran. Ginas Mutter schien sich auf Gina stürzen und sie in die Arme schließen zu wollen, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig daran, dass das Ginas Handgelenk nicht guttun würde. Also legte sie Gina nur ganz vorsichtig einen Arm um die Schultern. „Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. „Weggerutscht“, antwortete Gina knapp. „Da ist was aus dem Auto vor uns geflogen, ich wollte ausweichen.“ „Aus dem Begleitauto?“, hakte ihr Trainer nach. „Unmöglich!“ „Ich hab’s gesehen“, sprang Lotta Gina bei. „Der Beifahrer hat was aus dem Fenster geworfen. Gina ist nach ganz rechts rüber, und da am Rand war die Straße glatt.“

    Ginas Trainer warf ihr einen Blick zu, der einen leichten Unwillen nicht verbergen konnte. Dass sich ausgerechnet die schärfste Konkurrentin nach dem Sturz um Gina gekümmert hatte, passte ihm nicht, aber er konnte schwerlich etwas dagegen sagen. „Wenn das stimmt“ – was sollte der Zweifel, Lotta wusste, was sie gesehen hatte? – „dann muss ich mit der Rennleitung reden, damit sie den Mann abziehen“, sagte er. „Das ist unverantwortlich. Und sie müssen Gina als Siegerin werten, sie war klar vorne.“ „Charlotte war nur ganz knapp hinter mir“, korrigierte Gina ihn sofort. „Du kannst nicht wissen, ob ich gewonnen hätte oder sie.“ „Ist doch jetzt egal!“, ging Ginas Vater dazwischen. Der Trainer hatte ihn offenbar für einen Moment überrumpelt, jetzt rückte er die Prioritäten zurecht. „Wir bringen Gina ins Krankenhaus, alles andere kann man später klären.“ „Wohin bringen Sie sie?“, fragte Lotta spontan. Ginas Vater überlegte kurz. „Elisabeth-Klinikum“, sagte er dann. „Ist von hier aus am nächsten.“ Warum Lotta das wissen wollte, fragte er nicht, und genau wusste sie es selbst nicht. „Mach’s gut!“, sagte sie noch zu Gina. „Ich hoffe, du bist schnell wieder gesund.“


    ***


    Das Rennen lief noch. Den Sieg hatte Stacy eingefahren, und auch die Platzierungen dahinter standen fest, aber einige Nachzüglerinnen waren noch auf der Strecke.

    Lotta schlängelte sich zum Start- und Zielbereich durch, suchte und fand Stacy, die ausgepumpt auf dem Bordstein hockte, und gratulierte ihr zum Sieg. „Danke“, sagte Stacy und lächelte schwach. „Weiß selbst noch nicht, ob ich mich freue, irgendwie schon, aber ich hätte nicht gewonnen, wenn Gina nicht diesen Unfall gehabt hätte. Wie geht’s ihr?“ „Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus“, antwortete Lotta. „Aber ich glaube, es ist nicht allzu schlimm.“

    Sie verabschiedete sich von Stacy und suchte ihren Vater. Sie hatte so eine Ahnung, dass sie ihn in der Nähe der Rennleitung finden würde, weil dort eventuelle Nachrichten einlaufen würden. Außerdem hatte er so keinen langen Weg, wenn er die Wertung des Rennens beanstanden wollte. Lotta vermutete, dass er da ganz ähnliche Gedanken hatte wie Ginas Trainer, aber das würde sie ihm austreiben. Klar, sie und Gina waren weit vor den anderen gewesen, es sprach viel dafür, dass sie den Sieg unter sich ausgemacht hätten, aber eine Garantie gab es nicht dafür. Sie hätte auch selbst noch einen Unfall haben oder schlicht und ergreifend abbauen können, sodass sie doch noch abgefangen wurde. Sie hatte das Rennen abgebrochen, um Gina zu helfen, also fiel sie aus der Wertung, Punkt.

    Tatsächlich fand sie ihren Vater wenige Schritte von dem zu einer Seite offenen Zelt entfernt, in dem die Rennleitung untergebracht war. Er entdeckte sie ihm gleichen Moment und schaute ihr verärgert entgegen. „Schöner Mist!“, empfing er sie. „Warum bist du nicht weitergefahren?“ „Weil Gina Hilfe gebraucht hat“, antwortete Lotta. „Ich kann sie doch nicht einfach liegen lassen!“ „Hätte sie das für dich auch gemacht?“, sagte ihr Vater. „Bestimmt nicht! Auf der Strecke ist jeder für sich selbst verantwortlich. Du hättest weiterfahren müssen! Einen Rennsieg wirft man nicht einfach weg! Außerdem war doch das Begleitfahrzeug da!“ „Der Blödmann im Auto war doch schuld, dass Gina gestürzt ist“, gab Lotta zurück. „Trotzdem“, beharrte ihr Vater. „Du kümmerst dich um dich, um nichts anderes! Wenn du keinen Ehrgeiz hast, kannst du auch gleich aufhören.“ „Natürlich hab ich Ehrgeiz!“, verwahrte Lotta sich. Der Vorwurf traf sie, aber gleichzeitig hatte sie dieses übertriebene Konkurrenzdenken so satt. „Aber ich will nicht um jeden Preis gewinnen. Nicht, indem ich einfach vorbeifahre, wenn jemand Hilfe braucht.“

    Damit wandte sie sich ab, ihr Vater sollte nicht sehen, dass die Wut ihr Tränen in die Augen steigen ließ. „Ich fahre allein nach Hause!“, sagte sie noch, dann ließ sie ihren Vater stehen.


    ***


    Am späten Vormittag war Lotta wieder zu Hause. Sie hatte noch die Siegerehrung abgewartet, dann hatte sie sich aufs Rad geschwungen. Obwohl ihr das zu drei Vierteln gefahrene Rennen in den Beinen steckte, hatte es sie nicht auf kürzestem Weg nach Hause gezogen. Lieber war sie noch ein bisschen durch die Gegend geradelt, in lockerem Tempo, und als sie am Bahnhof vorbeigekommen war, hatte sie sich spontan einen Kakao geholt.

    Natürlich versuchte ihr Vater, noch einmal mit ihr über das Rennen zu sprechen, aber sie würgte ihn kurzerhand ab. Sie wusste, dass sie bis zu Ginas Sturz ein gutes Rennen gefahren war, mit guten Aussichten, sich am Ende gegen Gina durchzusetzen und den Pokal zu holen. Aber es war richtig gewesen, nicht weiterzufahren, davon war sie überzeugt; bei allem Ehrgeiz, das Beste aus sich rauszuholen und die bestmöglichen Platzierungen einzufahren, gab es Dinge, die wichtiger waren. Anders als ihr Vater glaubte sie auch nicht, dass Gina umgekehrt anders gehandelt hätte. Sie kannte ihre Konkurrentin nun schon so lange, und auch wenn die Erwachsenen die Konkurrenz in den Vordergrund stellten, gab es die kleinen Momente, die Lotta sagten, dass Gina in Ordnung war. Auch Gina wollte gewinnen, und sie war bereit, sich dafür zu plagen, aber nicht um jeden Preis.

    Nach dem Mittagessen fuhr Lotta wieder los, diesmal allerdings mit ihrem City Bike, das sie privat benutzte. Das Rennrad hatte weder Beleuchtung noch Reflektoren oder eine Klingel, eigentlich hätte sie damit gar nicht nach Hause fahren dürfen. Zügig radelte sie durch die Straßen, auf denen am zweiten Weihnachtsfeiertag nicht viel los war, und bog schließlich in die Zufahrt zum Elisabeth-Klinikum ein. Hier musste sie aufpassen, offenbar besuchten viele Freunde oder Verwandte, die das Pech hatten, die Feiertage im Krankenhaus verbringen zu müssen. Der Parkplatz war rappelsturzvoll, und auf den Fahrbahnen zwischen den Stellplätzen kreisten Autos, die nach einer freien Parklücke suchten.

    Weil es keinen Fahrradständer gab, kettete Lotta ihr Fahrrad neben dem Eingang an eine Laterne. Sie betrat die Eingangshalle und ging geradeaus zum Infotresen, hinter dem ein älterer Mann Dienst tat. „Guten Tag“, grüßte sie, „ich möchte zu Gina Villa. Auf welcher Station finde ich sie?“ Es war ein Schuss ins Blaue, denn es konnte auch sein, dass Gina direkt nach Hause entlassen worden war, nachdem ihre Hand verarztet worden war. Wenn das der Fall war, würde sie ihren Plan, sie zu besuchen, fallen lassen müssen, denn sie hatte weder Adresse noch Telefonnummer von Gina. Sie hätte höchstens versuchen können, über den Tri-Club an die Telefonnummer des Trainers zu kommen, aber den schätzte sie so ein, dass er lieber seine eigene Existenz verleugnen würde, als ihr zu einem Kontakt mit Gina zu verhelfen.

    Doch sie hatte Glück, soweit man in diesem Fall davon sprechen konnte: Gina war noch da, auf Station IV. Auf dem Wegweiser sah Lotta, dass das die Kinderstation war, dabei war Gina mit 15 eigentlich kein Kind mehr. Aber eine spezielle Station für Jugendliche gab es wohl nicht, also musste sie entweder zu den Kindern oder auf eine „normale“ Station.

    Sie nahm die Treppe hoch in den ersten Stock, folgte dort wiederum dem Wegweiser und stand schließlich vor der Tür zur Station. Die Tür war offen, und es stand auch nirgends ein Hinweis, dass Besucher sich zunächst beim Pflegepersonal meldet sollten. Trotzdem spürte Lotta ihr Herz klopfen bis hoch in den Hals, als sie die Station betrat, so, als wäre sie dabei, etwas strickt Verbotenes zu tun. In gewisser Weise war es das auch, ihrem Vater wäre es bestimmt nicht recht gewesen, dass sie Gina im Krankenhaus besuchte, und Ginas Trainer auch nicht. Aber davon wollte sie sich nicht abschrecken lassen.

    Sie schaute, ob sie Gina irgendwo sah, das Zimmer verlassen durfte sie ja wohl hoffentlich, fand sie aber nicht. Notgedrungen wandte sie sich also an eine Krankenschwester, die im Stationszimmer über irgendwelchen Unterlagen saß, und fragte nach. „Bist du eine Freundin von Gina?“, vergewisserte die Krankenschwester sich, und Lotta nickte. „Charlotte Hagen. Wir fahren zusammen Radrennen.“ Das war nicht mal gelogen, dass sie für verschiedene Vereine fuhren, brauchte die Krankenschwester nicht zu wissen. Wahrscheinlich verließ sie sich ohnehin auf ihr Bauchgefühl. „Ganz hinten links, 1.022!“, sagte sie.

    Lotta bedankte sich und ging weiter. Das Zimmer war nicht schwer zu finden, die Tür angelehnt. Lotta hörte ein leises Piepsen, aber das schien eher von einem Handy zu kommen als von medizinischen Geräten. Sie klopfte an und wartete, bis von drinnen eine Stimme „Ja!“, rief. Sie war sich nicht sicher, ob es Gina war, aber Gina hätte wohl protestiert, wenn sie etwas dagegen gehabt hätte, dass jemand reinkam.

    Sie atmete tief durch, öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Drei Betten, zwei davon belegt, Ginas Mitpatientin war jünger, höchstens zwölf, und trug ein großes Pflaster auf dem Bauch, wie das hochgerutschte Schlafanzugoberteil offenbarte. Sie schaute Lotta entgegen, stellte dann fest, dass sie die Besucherin nicht kannte, und zockte weiter auf dem Handy.

    Gina dagegen riss die Augen auf. „Charlotte?“, entfuhr es ihr verdutzt. „Nö“, sagte Lotta trocken. „Lotta reicht. Alles andere kostet zu viel Atem.“ Woher sie die Schlagfertigkeit nahm, wusste sie selbst nicht, aber es war gut, denn es verhinderte, dass Spannung oder Unsicherheit überhaupt erst aufkommen konnte. Die beiden Mädchen lachten, und Lotta erkundigte sich, wie es Gina ging. „Schon okay“, meinte die. „Die Speiche ist durch, ist aber ein glatter Bruch, die Ärzte meinen, dass das schnell heilt. Zwei Wochen Gips und danach noch schonen, wird also wieder.“ „Tut’s noch weh?“, fragte Lotta, aber Gina schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich schon“, antwortete sie, „aber ich merke nichts davon, sie haben mir Tabletten dagegen gegeben.“ „Und wann darfst du nach Hause?“ „Wahrscheinlich morgen schon“, sagte Gina. „Sie gucken sich den Arm noch mal an, und dann schmeißen sie mich raus.“ „Immerhin“, meinte Lotta. „Todlangweilig hier, oder?“ „Geht so“, antwortete Gina. „Ich hab was zu lesen und kann Musik oder Hörbücher hören. Aber ich bin trotzdem froh, wenn ich wieder zu Hause bin.“

    Das konnte Lotta nachvollziehen. Sie hatte noch nie im Krankenhaus gelegen, hatte aber so eine Ahnung, dass sie jede Minute verflucht hätte. „Musst du hier im Zimmer bleiben?“, erkundigte sie sich. Gina schüttelte den Kopf. „Nein, ich darf raus“, antwortete sie. „Wollen wir rausgehen? Alleine hatte ich keinen Bock, aber …“ „Klar“, sagte Lotta sofort.

    Sie half Gina, die Schuhe anzuziehen, weil die natürlich mit dem eingegipsten Unterarm gehandicapt war. Auch die Jacke hielt sie ihr hin, sodass Gina mit den Armen leicht hineinschlüpfen konnte. „Schon blöd, dass ich dafür Hilfe brauche“, meinte Gina. „Das ist eigentlich das Schlimmste daran, das stört mich mehr, als dass ich jetzt ein paar Wochen lang kein Fahrrad fahren kann. Das will was heißen.“ „Hauptsache, du wirst wieder gesund“, sagte Lotta. „Aber ich kann’s verstehen, mir würde das auch stinken. Bist du eigentlich sehr traurig, weil du jetzt das Rennen nicht gewonnen hast?“ „Hätte ich vielleicht sowieso nicht“, räumte Gina genauso ehrlich ein wie am Vormittag ihrem Trainer gegenüber. „Du bist wieder komplett fit, das hab ich schon gemerkt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Passiert ist passiert“, stellte sie sehr richtig fest. „Aber weißt du, was ich toll finde?“ Lotta schüttelte den Kopf. „Dass du bei mir geblieben bist. Du hättest auch weiterfahren und locker den Sieg einfahren können.“ „Dir zu helfen war wichtiger“, betonte Lotta. „Und ich hab’s gern getan. Wenn dein Arm nicht gewesen wäre, dann wäre es fast gemütlich gewesen, so an Weihnachten da draußen, mit dem Nebel über den Feldern. Vielleicht noch Kakao dabei und ein paar Weihnachtsplätzchen …“ „Hört sich nach einem Plan an“, befand Gina. „Nächstes Jahr? Ich meine, am zweiten Weihnachtstag fahren wir bestimmt wieder beim Rennen mit, aber am ersten Weihnachtstag? Bevor ich nachmittags mit meinen Eltern zu Oma und Opa fahre?“ „Meinst du das ernst?“, vergewisserte Lotta sich, und Gina nickte. „Du denkst es doch auch, oder? Dieses ganze Abstand halten und nicht miteinander reden und so, das kommt doch nur von Viktor“, das war ihr Trainer, „und von deinem Vater. So ein Blödsinn! Wir können doch beim Radrennen gegeneinander fahren und trotzdem Freundinnen sein, oder?“ Lotta nickte nur, Gina hatte alles ausgesprochen, was es zu sagen gab. Sie kannten sich ihr halbes Leben lang, vielleicht waren sie schon immer irgendwie Freundinnen gewesen und hatten nur den Anstoß gebraucht, um es zu merken.

  • Der 18. Dezember von Batcat


    Pias Singleweihnacht


    01.12.2022


    Partner weg.

    Job weg (Notiz für die nächste Beziehung: Office fuck – bad luck!).

    Wohnung weg.

    Und das kurz vor Weihnachten.


    Doch Pia hatte Glück im Unglück: Kurzfristig tat sich ein neuer Job vor ihr auf, dummerweise am anderen Ende der Republik. Doch München hatte ihr eh kein Glück gebracht, also auf zu neuen Ufern...


    20.12.2022


    Der Umzug hatte prima geklappt, die neue Wohnung war zwar klein, aber dafür stand ihr Name im Mietvertrag – hier konnte sie keiner mehr einfach so rauswerfen. Jetzt blieb nur noch die Sache mit Weihnachten. Ganz alleine wollte Pia Heiligabend auch nicht verbringen, also checkte sie im Internet die einschlägigen Seiten wie „Neu in Hamburg“ und ähnliches. Schnell wurde sie fündig:


    NEU IN HAMBURG?

    KEIN BOCK AUF HEILIGABEND ALLEIN?

    WIR MACHEN EINE SAUSE UND ALLE,

    DIE KEINE LUST HABEN, AN WEIHNACHTEN

    ALLEIN ZU VERSAUERN, SIND HERZLICH

    EINGELADEN!

    BITTE WICHTELGESCHENK (WERT: 10-20 EUR)

    FÜR DIE VERLOSUNG MITBRINGEN.


    Gutgelaunt meldete Pia sich an. Der Club, in dem das Treffen stattfand, war sogar fußläufig von ihr zu erreichen. Ein klarer Vorteil, da Pia wild entschlossen war, sich den Abend notfalls schön zu trinken.


    24.12.2022


    Schick gestylt und pünktlich traf Pia an der Location ein. Außer ihr waren nur noch 2 andere Frauen da, dafür aber jede Menge Männer, die sie als „Verzweifelt“ abgestempelt hätte, würde das nicht irgendwie auch auf sie zutreffen.


    Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Art „Running Dinner“ handelte: jeder saß 5 Minuten neben einer Person, dann wurde weitergewechselt.


    Pia hatte nicht gewusst, dass 5 Minuten so lange sein können: der erste Mann, der ihr gegenübersaß, redete nur von seiner Mutter. Der zweite von seinem Job und seiner ach so geilen Karriere. Der dritte von seiner Ex und zwar nur Schlechtes. Der vierte auch von seiner Ex, aber keine Frau würde dieser je das Wasser reichen können. Der fünfte redete gar nicht. Der sechste ließ sie nicht zu Wort kommen. Dann saß eine der Frauen ihr gegenüber, allerdings war das so eine furchtbare Tussi, daß sie froh war, als wieder einer der Männer ihr Gegenüber war. Die zweite Frau war Typ „Kampfemanze“. Der Abend war schrecklich und das Essen leider nicht besser. Auch Alkohol war keine Lösung, die Bedienungen schliefen beim Laufen buchstäblich ein.


    Endlich kam es zur Verlosung der Wichtelgeschenke, doch auch das war ein Schlag ins Wasser: Pia zog eine furchtbar hässliche Tasse mit Firmenlogo aus ihrem Karton und Pralinen, die bereits im Juni abgelaufen waren.


    Das war der Moment, an dem Pia endgültig genug hatte. Unter dem Vorwand, zur Toilette zu müssen, verließ sie ihren Platz, schlüpfte unauffällig zur Garderobe und schlich sich dann hinaus.


    In der klaren kalten Winterluft atmete sie erst einmal tief durch, doch dann beschleunigte sie ihre Schritte. Nichts wie heim nach diesem furchtbaren Event. Couch und Netflix waren da allemal die bessere Alternative zu diesem Gruselkabinett an Singles.


    Ein paar Straßen vor ihrem Zuhause hörte sie plötzlich ein leises Jammern. Vorsichtig ging sie in die Richtung, aus der das Geräusch kam. In der Ecke lag ein Müllsack, der sich bewegte. Als Pia hineinlugte, erstarrte sie: drei kleine Kätzchen lagen eng aneinander gekuschelt darin und jammerten. Wer machte denn sowas und setzte einfach drei Katzenbabies aus? Noch dazu an Heiligabend! Pia war entsetzt.


    Schnell steckte sie sich die zitternden kleinen Fellbündel in ihren Mantel und huschte nach Hause, wo sie den kleinen Kätzchen vor der Heizung aus ihrer Fernsehdecke ein gemütliches Bett machte.

    Während die Kleinen sich langsam beruhigten und gegenseitig sauber schleckten, prüfte Pia ihre Vorräte. Fisch war da, Ei und Joghurt... nicht optimal, aber damit kam sie notfalls bis nach den Feiertagen über die Runden.


    Für Pia stand fest, dass die Katzen nun ein Zuhause hatten. Und sie war nicht mehr ganz allein in der neuen Stadt. So hatte dieser vertrackte Heiligabend doch noch ein gutes Ende gefunden.

  • Der 19. Dezember von polli


    Der Engel der Vergesslichkeit


    Im Zimmer ist es dunkel. Die Uhr tickt. Auf dem Nachttisch liegt eine angebrochene Packung mit Weihnachtsgebäck. Anna mag den Zimtduft. Ein schwacher Lichtschein der Straßenlaterne fällt durch das Fenster, sie kann die Engelchenfiguren erkennen, mit denen sie die Fensterbank geschmückt hat. Sie kann sich nicht erinnern, ob sie in diesem Jahr vollzählig sind, und beginnt zu zählen: Eins, zwei, fünf, sechs, sieben, eins, zwei. Auf dem Flur sind Schritte zu hören. Anna fröstelt und zieht ihre Bettdecke höher. Gemütlichkeit will sich nicht einstellen. Ach ja, sie hat noch nicht ihr Abendgebet gesprochen. „Lieber Gott, beschütze mich und alle, die — ich — alle, die —“

    Sie schüttelt den Kopf. Seit einiger Zeit spricht sie nur noch das ganz kurze Gebet und jetzt fällt ihr auch hier nicht ein, wie es weitergeht! Noch einmal von vorn. „Lieber Gott und alle, die — ich, wir —“

    Es ist zwecklos. Sie bringt die richtigen Worte nicht mehr zusammen. Lieber Gott, gilt ein Gebet, wenn man es nur halb aufsagen kann? Und warum ist das so, dass sie sich mittendrin nicht mehr erinnern kann? Vielleicht helfen ihr die Engel. Sie haben ihr schon so oft Trost gespendet, vor allem die beiden Weihnachtsengel auf dem Bild. Wo ist eigentlich das Bild? Es muss doch dort drüben an der Wand hängen, mit dem pausbäckigen Kind in der Stube und den beiden weiß gekleideten Schutzengeln rechts und links, die darüber wachen, dass ihm nichts Böses geschieht. Wahrscheinlich ist es zu dunkel und deshalb kann Anna das Bild nicht finden.

    Sie faltet die Hände und beschließt, ein Gebet an die beiden Weihnachtsengel zu richten. Ihre Anspannung lässt nach, wenigstens für einen Augenblick. „Da fällt mir ein, ich habe ja noch gar nicht mein Abendgebet gesprochen!“

    Sie murmelt: „Lieber Gott, beschütze mich und alle Engel und — äh, und ich —“

    Nichts. Sie hat vergessen, wie es mit den richtigen Worten weitergeht. Lieber Gott, gilt ein Gebet, wenn man es nur halb aufsagen kann? Ein dumpfes Gefühl beschleicht sie, dass sie diesen Satz heute schon gehört hat. Aber von wem? Und wann? Anna muss weinen. Ihr Kopf ist leer und gehorcht ihr nicht mehr und sie weiß nicht genau, wo sie ist.

    „Schsch, nicht weinen, meine Liebe, es wird alles gut“, flüstert eine Stimme. Am Fußende ihres Bettes sitzt eine etwas undeutliche Gestalt.

    „Wer bist du? Kenne ich dich von früher? Ich kann mich nicht so gut erinnern.“

    „Liebe Anna, ich bin dein Schutzengel. Normalerweise wache ich unsichtbar über dich, aber das weißt du ja.“

    „Welcher bist du? Der rechte oder der linke Engel?“

    „Du erinnerst dich an das Bild von früher? Keiner von den beiden. Ich bin der dritte Engel, der, den die Maler immer vergessen zu malen. Ich bin der Engel der Vergesslichkeit.“

    Anna lacht leise. „Dafür gibt es einen Engel? Ich bin schon vergesslich genug. Stell dir vor, vorhin ist mir nicht einmal mehr eingefallen, dass ich — ja, was war es denn, woran ich unbedingt denken wollte? Herrje, mein Gedächtnis ist ein schwarzes Loch, ich finde darin nichts mehr wieder.“

    „Ich weiß, meine Liebe. Deshalb besuche ich dich heute. Ich werde dir helfen, auch wenn du morgen nicht mehr wissen wirst, dass ich bei dir war.“

    „Helfen? Oh ja, mach bitte, dass meine Erinnerungen wiederkommen. Ich möchte so sein wie früher.“

    Der Engel schüttelt den Kopf. „Leider geht das nicht. Ich habe nicht die Macht, etwas rückgängig zu machen. Ich habe allein die Macht, das Vergessen zu bringen.“

    Anna runzelt die Stirn. „So ein Unsinn! Ich bin längst vergesslich, da brauche ich keinen Engel wie dich. Du bist ein Betrüger, ein Dämon, und ich schreie jetzt um Hilfe. HILFE!!“

    Die Tür geht auf und eine Frauenstimme fragt: „Wieder so unruhig? Was ist denn los?“

    Tja, was ist los? Anna fällt ein, dass sie ihr Taschentuch gesucht hat. „Es ist weg!“, ruft sie.

    „Genau“, sagt die Stimme, „es ist weg und es gibt auch kein Gespenst hier drin. Die Figuren auf der Fensterbank sind liebe kleine Weihnachtsengelchen, die wachen über den Schlaf und sorgen dafür, dass alles hier friedlich ist. Und jetzt schön wieder einschlafen.“

    Die Tür geht zu. Anna atmet tief ein und aus.


    In der Teamsitzung sprechen sie über Anna. „Ist euch aufgefallen, dass sie seit einigen Tagen viel ruhiger geworden ist? Kein Geschrei mehr, kaum noch Verwirrtheit. Sie wirkt, als ob sie sich endlich damit abgefunden hat, dass sie hier auf der Station ist.“

    „Tja, das sehe ich etwas anders. Sie hat wohl eher das Stadium erreicht, in dem man vergisst, dass man so viel vergessen hat.“

    „Ein segensreicher Zustand für sie. Möge er lange anhalten.“


    Der unbekannte Besucher auf dem Stationsflur hat die letzten Worte durch die Tür mitgehört, er nickt ernst. „Segensreich, das stimmt.“ Er verlässt das Pflegeheim durch den Haupteingang und nickt den beiden hölzernen Weihnachtsengeln zu, die rechts und links die Tür schmücken. Sie nicken unmerklich zurück.

  • Der 20. Dezember von H. Dieter Neumann


    Halleluja


    Du glaubst an gar nichts mehr, sagst du. Zu alt geworden, zu viel gesehen.

    Zu viele Verluste: Menschen, Dinge, Überzeugungen.

    Von Wahrheiten ganz zu schweigen.

    Sinnlosigkeit rundum. Immer in der Weihnachtszeit fällt sie dir besonders hart auf die Füße.

    Du kannst es nicht ändern, sagst du, den Glauben nicht zurückholen. Den an einen Gott ebenso wenig wie den an die Menschen.

    Willst es dennoch, immer wieder. Vor allem um Weihnachten herum. Weil es doch schön war, als es einen Himmel und eine Erde gab. Als alles seinen Platz hatte. Gott oben und die Menschen unten. Die Englein in den Wolken, die Hirten auf dem Feld. Halleluja in der Kirche, Ochs und Esel im Stall.

    Jetzt sitzt du da und erzählst die Märchen deinen Enkelkindern. Die jedes Wort aufsaugen, dich mit großen Augen ansehen, strahlend.

    Sie spielen mit den Krippenfiguren.

    „Das Jesuskind reitet aber nicht auf dem Ochsen!“, mahnst du in weihnachtlicher Milde. „Das gehört wieder in seine Krippe!“

    Alles gehört doch irgendwo hin, hat seinen festen Platz, oder?

    Unsinn, du weißt es längst.

    Und dennoch: Menschen brauchen das. Brauchen Geschichten, in denen alles stimmt. Oder ein Gott am Ende alles stimmig macht. Wenigstes das.

    Es muss gut ausgehen.

    Kindergeschichten.

    Du schämst dich nicht, sie ihnen zu erzählen. Weil sie doch so an deinen Lippen hängen.

    Noch haben sie ein Recht darauf, zu glauben, dass alles gut ist.

    Du bist zu alt, sagst du. Siehst jeden Tag, dass nichts gut ist.

    Und auch nicht mehr wird.

    Wann werden sie es merken?