Der 1. Dezember von Breumel
Weihnachten auf der A1
„Sind wir bald da?“
„Nein!“ Entnervt verzog Britta das Gesicht. „Es sind noch mindestens zwei Stunden. Das wisst ihr doch!“
„Aber es ist so langweilig …“
„Wir können ja noch eine Folge drei Fragezeichen hören.“
„Keine Lust. Ich hör Musik.“
Jan steckte sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und tippte auf seinem Handy herum. Seine Schwester befand sich im gleichen Nicht-ansprechen-Teenager-hört-Musik Modus.
Holger würde jetzt den Schlaf der gerechten Beifahrer schlafen, wenn er noch bei ihnen wäre. Wehmütig dachte Britta an Weihnachten vor zwei Jahren zurück, ihrem letzten gemeinsamen Weihnachtsfest. Der Krebs hatte schnell und unbarmherzig zugeschlagen.
„Mama!“ Britta zuckte zusammen.
„Mama, es schneit!“ Aufgeregt deutete Ella nach draußen. Und ja, im Licht der Scheinwerfer glitzerten ein paar zarte Schneeflocken.
„Vielleicht kriegen wir ja weiße Weihnachten!“
Das wäre schon schön. Zumindest, wenn die Autofahrer nicht in Panik verfielen und die Geschwindigkeit auf Schneckentempo reduzierten. Auch auf Schnee konnte man schließlich schneller als Tempo 30 fahren, wenn man Winterreifen aufgezogen hatte.
Gebannt beobachtete Ella das dichter werdende Schneegestöber. Auch Jan bemerkte ihre Aufregung. Die Flocken flogen immer dichter, und bald hatte sich eine dünne weiße Decke auf die linke Spur der Autobahn gelegt.
Besorgt betrachtete Britta die Temperaturanzeige. 2°C – das bedeutete, dass der Schnee antauen konnte und dann zu Eis gefror. Und glatte Straßen hatten ihr gerade noch gefehlt.
Mit steigender Flockenzahl wurde der Verkehr langsamer. Ganz links fuhr kaum noch jemand vorbei, und die Schneedecke schloss sich allmählich. Der feuchte Schneematsch unter den LKW Reifen ganz rechts begann leicht zu glänzen, und die Fahrgeräusche wurden leiser, je tiefer die Temperatur sank. Als die Verkehrsnachrichten kamen, lauschte sie gespannt. Und da war die Meldung auch schon: „Verkehrschaos auf der A1: Wegen Schneeglätte kommt es zu querstehenden LKW. Die Strecke zwischen Kreuz Unna und dem Kamener Kreuz Richtung Münster ist gesperrt. Wer kann, sollte den Bereich großräumig umfahren.“
Was war noch mal die letzte Ausfahrt gewesen? Aber da sah sie es auch schon: Warnblinkleuchten und stehender Verkehr.
„So ein Mist! Jan, schick Oma schon mal eine WhatApp, dass es später wird. Das kann dauern…“
„Haben sie im Radio gesagt, wie lange?“
„Nein. Wenn da LKW querstehen, muss der THW ran. Wir können nur hoffen, dass die Leute die Rettungsgasse freihalten …“ Ihren eigenen Wagen hatte Britta schon nach rechts gelenkt, aber so langsam füllte sich auch die linke Spur. Nachdem es nicht mehr weiter ging, schaltete sie den Motor aus.
„Ella, Jan? Legt euch die Decken über, ich will den Motor nicht die ganze Zeit laufen lassen. Und gebt mir auch eine.“ Zum Glück hatte sie im Winter immer eine Decke im Auto, und auf längeren Strecken packte sie für jeden eine ein.
Zwei Stunden saßen sie schon fest, und es war keine Besserung in Sicht.
„Ich habe Hunger.“ Jan schaute unzufrieden aus seiner Decke.
„Ich schau mal, was noch in der Tasche ist. Da müssten noch Plätzchen drin sein. Und ich hatte Äpfel eingepackt.“ Britta begann auf dem Beifahrersitz zu kramen.
„Und ich muss aufs Klo.“ Ella sah unglücklich auf die geschlossene Schneedecke.
Britta seufzte. Sie hatte auch keine Lust, das halbwegs warme Auto zu verlassen, aber „wat mutt, dat mutt“, wie ihre Mutter immer sagte. „Ich gehe mit dir hinter die Leitplanke und halte meine Decke als Sichtschutz hoch. Hier sind Taschentücher.“ Auffordernd hielt sie ihr die Packung hin. „Zieh die Jacke an. Und tritt nicht auf gelben Schnee!“
„Auf … äh ja.“ Angewidert rümpfte Ella die Nase.
Es wurde kälter und dunkler. Noch immer ging es nicht weiter. Dann näherte sich ein Wagen durch die Rettungsgasse. Dick eingepackte Menschen liefen nebenher und klopften an die Wagenfenster.
„Hallo, wir sind vom THW. Es wird noch eine Weile dauern. Haben sie Decken?“
„Ja danke.“
„Benötigen sie Verpflegung?“
„Gerne, wir hatten uns nicht auf eine längere Fahrt eingestellt.“ Durch das Fenster wurde ihnen eine Tüte gereicht.
„Und haben sie noch genug Benzin, um den Motor ab und an laufen zu lassen?“
„Ja, wir hatten vor der Fahrt vollgetankt. Der Tank ist noch mehr als Dreiviertel voll.“
„Sehr gut.“
Ein weiterer Helfer gesellte sich zu ihnen.
„Ihrem Nachbar sitzt allein im Auto, und mit mehreren Leuten ist es wärmer. Können sie noch eine Person in ihrem Auto unterbringen, bis es weiter geht?“
Britta und die Kinder sahen sich an.
„Wenn es nötig ist, klar.“
„Vielen Dank.“ Der Mann winkte, und die Tür des Nachbarautos öffnete sich. Eine Gestalt, die ihre Jacke bis zur Nasenspitze zugezogen hatte und eine Decke eng um sich zog, hastete durch das Schneetreiben. Britta deutete auf die Beifahrertür.
Als er die Kapuze abnahm, entpuppte sich die Gestalt als Mann mittleren Alters.
„Vielen, vielen Dank! Bei mir wurde es immer kälter.“ Er zitterte immer noch. “Ich heiße Tim.“ Er streckte Britta die eiskalte Hand hin, dann winkte er nach hinten.
Sie stellten sich vor.
„Und wo sollte es hingehen?“ Britta hatte nichts gegen Gesellschaft. Ihre Teenager waren nicht sonderlich redselig, und ihr Hörbuch leider auch nicht arg fesselnd.
„Nach Bremen, meine Eltern über Weihnachten besuchen. Und bei ihnen?“
„Oldenburg, auch zu den Eltern. Normalerweise drei Stunden Fahrt, länger als fünf haben wir noch nie gebraucht.“
„Von wo ging’s denn los?“
„Köln. Und bei ihnen?“
„Leverkusen. Wir sind also quasi Nachbarn.“ Er grinste.
Britta grinste auch. Wenn man schon im Schneesturm im Auto festsaß, war ein gar nicht so unattraktiver, offenbar alleinstehender Mann mit Humor nicht die schlechteste Option für den Beifahrersitz.
Eine Stunde später waren sie beim Du. Sie hatten das Kartenspiel aus dem Gepäck gekramt, welches eigentlich als Weihnachtsgeschenk gedacht war, und spielten auf der Mittelkonsole. Sogar Jan und Ella hatten sich von ihren Handys losreißen können.
Zwei Stunden später tranken sie den heißen Tee, welchen der THW vorbeigebracht hatte, aßen Weihnachtsplätzchen und sangen alle zusammen „In der Weihnachtsbäckerei“.
Drei Stunden später hatten sich Britta und Tim ihre halbe Lebensgeschichte erzählt. Sie wusste jetzt, dass er Ingenieur war, vorwiegend im Außendienst arbeitete und deshalb kaum Gelegenheit hatte, jemanden kennenzulernen. Er hatte von ihr erfahren, dass sie seit knapp zwei Jahren Witwe war, als Programmiererin in Vollzeit im Homeoffice arbeitete und gerne wieder ins Kino gehen würde, nur nicht wusste, mit wem. Sie hatten Handynummern ausgetauscht, WhatsApp Kontakte angelegt und sich fest vorgenommen, sich wiederzusehen, wenn sie alle wieder zuhause waren. Die Sonne war untergegangen, und Jan und Ella waren vor Langeweile eingeschlafen.
Dann kam endlich die erlösende Nachricht: Der Streu- und Räumdienst hatte die Fahrbahn gesichert und die querstehenden LKW waren wieder auf der Spur. Vor ihnen begannen die Autofahrer, ihre Scheiben vom Schnee zu befreien, und Tim musste sich um sein Auto kümmern. Schließlich konnten sie ihre Fahrt fortsetzen.
*****
Elf Monate später: Britta deckte gerade den Tisch, als es an der Haustür klingelte. Mit einem Kuss begrüßte sie Tim, der sich sichtlich über die Begrüßung freute. Da begann im Radio „Driving Home for Christmas“. Beide grinsten sich an: „Sie spielen unser Lied.“