Schreibwettbewerb 01.12.2023 - 31.01.2024 Thema: "Chaos"

  • Thema 01.12.2023 - 31.01.2024:


    "Chaos"


    Vom 01.12.2023 bis 31.01.2024 23:59 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den aktuellen Schreibwettbewerb zum Thema „Chaos“ per PN (Sprechblasensymbol, „Konversationen“) zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 01.02.2024 eingestellt.


    Wer mitschreiben möchte, sendet bitte eine PN an den Account SchreibwettbewerbOrg. Wir schicken euch dann die Zugangsdaten für den Account Schreibwettbewerb. Das Passwort bitte vertraulich behandeln! Ihr meldet euch als Schreibwettbewerb an und sendet euren Beitrag an SchreibwettbewerbOrg. Dadurch sind alle Beiträge anonym. Nach der Veröffentlichung (nach dem 31.01.2024) sendet bitte eine zweite PN mit dem Titel eures Beitrags und eurem Namen an SchreibwettbewerbOrg, damit wir die Beiträge zuordnen können. Das Orga-Team wird erst nach der eigenen Punktevergabe in diese Beiträge schauen.


    Regeln:

    - Die Grenze für die Beiträge ist bei 600 Wörtern.

    - Abgabeschluss ist um Mitternacht.

    - Mitschreiben darf, wer mindestens 50 buchrelevante Beiträge hat oder seit mehr als 6 Monaten Mitglied ist.

    - Abstimmen darf, wer mindestens 25 buchrelevante Beiträge hat oder seit mehr als 3 Monaten Mitglied ist.

    - Als Thema vorgegeben werden kann ein Wort, ein Satz oder ein (selbstgeknipstes/gezeichnetes) Bild (ihr müsst das Urheberrecht haben).


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 600 Wörter zu verwenden. Wir behalten uns vor, Beiträge mit mehr als 600 Wörtern nicht zum Wettbewerb zuzulassen!

  • Die Reklamation

    von Inkslinger


    »Guten Tag. Ich will mein Leben zurück.«

    Herr Frau zog süffisant lächelnd eine Augenbraue hoch. »Wie meinen?«

    Sandy setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber und strich sich übers erhitzte Gesicht. »Seit ich das letzte Mal hier war, ist alles völlig aus den Fugen geraten. Meine drei Mitarbeiterinnen haben gekündigt und ich finde keinen Ersatz. Ich schmeiß den Laden ganz alleine. Jeden Tag kommen dutzende Kunden mit abgefahrenen Wünschen, die ich nicht zu ihrer Zufriedenheit erfüllen kann. Und zu Hause läuft es auch nicht besser.«

    Sie seufzte und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab. »Meine Hündin denkt plötzlich, sie wäre ein Mensch! Sie setzt sich an den Esstisch und frisst nichts außer Menschenfutter. Sie weigert sich, in den Garten zu strullen, und besteht auf Toilettennutzung. Aber sie trifft nie die Schüssel! Mein Mann kommt nur noch selten nach Hause. Er hat beschlossen, eine WG mit seinen Bowlingkumpels zu gründen. Zum Wäschewaschen bin ich gut genug!«

    Herr Frau nickte mitfühlend und faltete seine Hände, als wollte er für ihr Wohlergehen beten. »Das hört sich nach anstrengenden drei Tagen an.«

    »Wochen!«

    »Okay, wenn Sie meinen. Ich verstehe allerdings nicht, was Sie diesbezüglich von mir erwarten.«

    »Ich will unseren Vertrag rückgängig machen.«

    Herr Frau nahm ein Blatt aus dem wackligen Aktenstapel auf seinem Schreibtisch und wedelte ihr damit zu. »Diesen hier?«

    Sandy nickte wild. »Ja, bitte! Ich weiß, vor einem Monat bin ich zu Ihnen gekommen, damit Sie sich in mein Leben einmischen, aber das war falsch!«

    Herr Frau legte das Papier vor sich auf den Tisch. »Ich kann Sie verstehen, Frau Werkel. Vielen unserer Kunden geht es wie Ihnen. Sie raffen all ihren Mut und ihr Erspartes zusammen, um ihr Leben zu ändern, und wenn es dann passiert, bekommen sie kalte Füße. Veränderungen sind immer beängstigend.«

    »Das ist nicht das Problem! Es hat sich alles verschlechtert, aber ich wollte es besser machen! Dafür sind Wunderwirker doch da, oder?«

    »Da stimme ich Ihnen zu. Das ist ihr Daseinszweck.«

    »Also lösen Sie meinen Vertrag auf und es wird alles wieder normal?«

    »Natürlich nicht. Der Vertrag wurde erfüllt.«

    Sandy zog schockiert Luft ein. »Das kann nicht Ihr Ernst sein! Ich habe weder für den Ruin meines Beauty-Tempels, noch einen verrückten Hund oder ein Strohwitwendasein unterschrieben!«

    Herr Frau nahm das Dokument wieder zur Hand und räusperte sich. »Ich zitiere: ›Geschäftliche Umwälzung und mehr Kunden, als ich bedienen kann‹. Erfüllt. ›Viel aktive Zeit mit meinem Kuvasz Klärchen‹. Erfüllt. ›Mein Mann Boris soll weniger Zeit zu Hause am PC und Handy verbringen‹. Erfüllt.«

    Sandy wurde bleich. »Ja … aber … aber doch nicht so!«

    »Geliefert wie vereinbart. Keine Rückerstattung.«

    Die Farbe kehrte in Sandys Gesicht zurück und sie sprang auf. »Das werden Sie bereuen! Das melde ich der Wunderwirkeraufsicht!«

    Stapfend verließ sie das Büro und prügelte auf den Rufknopf des Aufzugs. Herr Frau beobachtete sie dabei und legte lächelnd den Vertrag zurück in den Stapel.

    Auch seine Geschäftspartnerin Frau Herr, die gerade aus der Kaffeeküche trat, beäugte das Rumpelstilzchen amüsiert.

    Als dieses hinter den Aufzugtüren verschwand, kam sie in sein Büro. »Wieder eine unzufriedene Kundin?«

    Er nickte, was sie zum Strahlen brachte. »Herrlich! Es war eine brillante Idee von dir, in dasselbe Bürogebäude wie die Wunderwirker zu ziehen. Seitdem haben sich unsere Abschlüsse verdreifacht!«

    Er deutete eine Verbeugung an. »Dankeschön. Aber stell dein Licht nicht unter den Scheffel, meine Liebe. Der geniale Einfall, alle Wegweiser, Etagennummern und Plaketten zu tauschen, kam von dir.«

    Sie lachte, schlenderte versonnen zur Tür der Abstellkammer und öffnete sie. Auf der Innenseite prangte ein Schild:


    Herr & Frau

    Chaosstifter

    Seit 2020 nicht mehr da, sondern hier

  • Montag

    von Breumel


    So ein schöner heller Morgen. Und so ein kuschelig warmes Bett. Genüsslich räkele ich mich unter der Bettdecke.

    Moment! Hell? Im Winter?!? Mein Blick fällt auf den Wecker.

    Schei… ! Verpennt. Der Wecker hat nicht geklingelt. Panik.


    Ich springe aus dem Bett. Kurz unter den Achseln schnuppern – okay, Katzenwäsche muss sein.

    Im Bad schwinge ich den Waschlappen, trage frisches Deo auf und hellroten Lippenstift. Damit sehe ich gleich geschminkt aus, und für mehr ist keine Zeit. Die Haare will ich zusammenbinden, aber das Zopfgummi reißt und flitscht mir schmerzhaft gegen die Finger.


    Auf der Suche nach einem neuen Gummiband fege ich mit dem Ellenbogen das Haarspray herunter. Und als ich mich danach bücke, kippt die Schachtel mit den Haarspangen um.

    Lachen, heulen oder fluchen? Egal, das muss bis heute Abend warten, ich muss los.


    Die Fußgängerampel schaltet direkt vor mir auf Rot. Der Bus steht schon auf der anderen Seite, aber der Verkehr ist viel zu dicht für eine Ordnungswidrigkeit. Und außerdem stehen hier auch Kinder. Als ich endlich an die Haltestelle komme, sehe ich nur noch die Rücklichter des Busses um die Kurve verschwinden. Ich werde definitiv zu spät zur Arbeit kommen …


    Endlich im Büro angekommen, sehe ich meine Lieblingskollegin und drehe mich zu ihr um. Während ich ihr zuwinke, gehe ich weiter, und da ist es auch schon passiert. Ich laufe geradewegs in meine Chefin hinein. Sie hatte sich gerade Kaffee geholt hatte. Heißen Kaffee, wie wir beide feststellen. „Passen Sie doch auf wo Sie hinlaufen! Und auch noch zu spät!“ Zerknirscht flitze ich an meinen Arbeitsplatz.


    Als ich den Rechner einschalte, geschieht – nichts. Gar nichts. Nicht auch das noch! Ich kontrolliere die Stecker und tatsächlich, einer hatte sich gelöst. Da muss jemand dran hängengeblieben sein. Leider erinnert mich Windows nach dem Einloggen, dass es nicht ordnungsgemäß heruntergefahren wurde, also nochmal Neustart. Jetzt würde ich mir gerne einen Kaffee holen, während ich auf den Startbildschirm warte, aber ich will meiner Chefin nicht so schnell wieder über den Weg laufen. Muss es ein Schluck Wasser tun. Also greife ich in meine Handtasche – und fluche. Anscheinend habe ich meine Flasche nicht richtig zugedreht, und jetzt ist alles nass.


    Ich laufe zur Toilette, um Papierhandtücher zu holen. Und wo ich schon mal da bin … Leider bemerke ich erst nach getanem Werk, dass die Rolle leer ist. Und Ersatzrolle ist auch keine mehr da. Also muss das zerknüllte Tempo aus der Hostentasche reichen. Ist heute Montag der 13.?


    Bis zum Feierabend nerven mich noch ein Ordner, der mir auf den Fuß fällt, weil ich zu hoch gestapelt habe, ein kurzer Netzwerkausfall und ein leckerer Geburtstagskuchen einer Kollegin, den ich auf meine Bluse kleckere. Der Fettfleck leistet dem Kaffeefleck Gesellschaft.


    Als ich endlich aus dem Gebäude trete, höre ich den WhatsApp Benachrichtigungston meines Handys. Ich ziehe es aus der Hosentasche, um die Nachricht zu lesen. Dann geht alles ganz schnell: Jemand ruft laut „Achtung!“, Bremsen quietschen, und schon werde ich zum unfreiwilligen Rammbock für ein Fahrrad. Ich rappele mich vom Boden auf, während mich der Fahrer verärgert - und leider völlig zurecht - anschnauzt. Ich bin in typischer Handyzombie-Manier auf den Fahrradweg gelatscht.


    Er beruhigt sich, als er sieht, dass ich ziemlich durch den Wind bin. „Haben Sie sich verletzt?“

    „Ich glaube nicht. Aber heute läuft einfach alles schief!“

    Und dann bricht es aus mir heraus. Das ganze Pech, welches mich durch den Tag begleitet hat.

    Er lacht. „Würden Sie einen Kaffee mit mir trinken?“

    Ungläubig sehe ich ihn an. „Ich bin Ihnen nicht zu chaotisch?“

    „Ich bin Drehbuchautor. Und ich denke, Sie sind genau die richtige Muse für mich!“

  • Shopping Queen

    von Annabas


    „Vielen Dank, dass Sie das Paket für mich angenommen haben!“

    „Kein Problem.“

    Herr Claussen lächelte freundlich.

    „Es ist ziemlich schwer. Soll ich es Ihnen wirklich nicht in den Hausflur tragen?“

    Da war es wieder, das nett gemeinte Angebot, vor dem sich Sonja so fürchtete. Das Blut stieg ihr in die Wangen, während sie hastig die Wohnungstür aufschloss und darauf achtete, dass ihr Nachbar keinen zufälligen Blick in den Flur werfen konnte. Innen war alles dunkel, das war gut so.

    „Nicht nötig, ich kann das selbst machen. Geben Sie nur her.“

    „Na, wenn Sie meinen. Schönen Abend noch.“


    Herr Claussen drückte Sonja das Paket in die Hand. Es war tatsächlich sehr schwer und dazu noch unhandlich, aber Sonja schaffte es, sich damit durch die spaltbreit geöffnete Tür in ihre Wohnung zu quetschen. Mit dem Fuß kickte sie die Tür hinter sich zu und stellte das Paket auf die gestapelten Kartons, die inzwischen eine ganze Seite des Flurs einnahmen.

    Was hatte sie da wieder bestellt? Und wovon würde sie es bezahlen? Darüber wollte Sonja jetzt nicht nachdenken. Sie ging ins Wohnzimmer und goss sich ein Glas Rotwein ein, das sie in einem Zug austrank. Im Wohnzimmer fühlte sie sich sicher, hier schlief sie auf dem Sofa, seit sie auch noch im Schlafzimmer auf dem Bett ihre bestellte Ware lagern musste. Dort, wo normale Menschen schliefen, stapelten sich kreuz und quer Blumentöpfe, ein Staubsauger, ein Fitnessgerät, Drogerieartikel, in Einzelteilen verschickte Balkonmöbel, Kunststoffblumen und andere Dinge.


    Sonja wusste selbst nicht mehr so genau, was alles in den Kartons lag. Nur ein schmaler Weg zum Kleiderschrank war noch frei und Sonja achtete peinlich genau darauf, dass er frei blieb. Niemand sollte sehen, wie es um sie stand, vor allem die tratschenden Kollegen nicht, deshalb hielt Sonja ihre Garderobe immer bestens in Schuss. Die Arbeit war das Einzige, das Sonjas Leben noch etwas Struktur gab, alles andere war im Chaos versunken.


    Wann hatte sie zum ersten Mal dieses Glücksgefühl empfunden, das nach einem „Jetzt kaufen“-Klick in ihr hochstieg? Es musste schon länger her sein, denn das Glücksgefühl blieb immer öfter aus, wenn Sonja auf Schnäppchenjagd ging. Heute schämte sie sich entsetzlich, wenn sie sich in ihrer Wohnung umsah: Kartons auf dem Bett, Kartons auf dem Tisch, Kartons auf dem Boden, ungeöffnet, leer oder nur halb ausgepackt. Ihren Kontostand hatte sie schon seit drei Monaten nicht mehr angeschaut.


    Der Wein hatte Sonja beruhigt. Sie holte das Smartphone aus der Tasche, um ihre Mails zu lesen. Eine Firma für Haushaltswaren hatte ihr ein Angebot geschickt: „Ein zehnteiliges Topf- und Pfannenset für nur 99,99 Euro!“ Sonja gefiel es und sie kaufte es. Der Rotwein war auch fast alle. Der war dauerhaft auf ihrem Merkzettel beim Weinhändler gespeichert – ein Klick und bald würden zwei Kisten vor ihrer Tür stehen.

    Voller Vorfreude auf die Pakete zog Sonja den Rollladen am Fenster hoch und ließ die Abendsonne ins Zimmer scheinen. Sie hatte sich angewöhnt, immer die Läden geschlossen zu halten, damit niemand aus der Nachbarschaft in ihre Wohnung hereinschauen konnte. Das hier herrschende Chaos sollte keiner zu Gesicht bekommen.


    Vor sich hin summend ging Sonja in den Flur, um das vorhin gelieferte Paket zu öffnen. Darin fand sie ein zehnteiliges Topf- und Pfannenset. Jetzt erinnerte sie sich, dass in der vorherigen Woche schon einmal ein Angebotsmail dazu gekommen war. Ihre gute Laune war von einer Sekunde auf die andere verpufft und Sonja fühlte die altbekannte Scham. Wie blöd, hirnlos und unfähig musste sie sein, wenn sie nicht einmal an die Bestellungen der letzten Tage erinnern konnte?

    Sonja ließ alles stehen und rollte sich auf ihrem Sofa zusammen. Ob sie vielleicht doch Hilfe brauchte? Sie würde morgen darüber nachdenken. Oder besser übermorgen, nachdem der Wein geliefert worden war.

  • Unweit der Birke

    von Hanse


    Die Schlacht tobte in vollem Gange. Explosionen zerrissen den Waldboden, Kugeln fuhren in Holz und Fleisch. Der Wind trieb Pulverdampf durchs Tal und ließ die Männer husten, welche sich fern der Heimat dem Chaos auslieferten.


    Unweit der Schlacht stand eine Birke. Sie hatte kein wirkliches Bewusstsein, erfreute sich tief in ihrem Inneren aber doch am warmen Sonnenschein, welcher an diesem Tag durchs Tal flutete. Ein Käfer erklomm ihren Stamm auf der Suche nach Nahrung.


    Unterdessen rollte ein Panzer heran. Die ersten Männer zogen sich zurück. Ihre geröteten Augen rollten von Furcht und Hektik erfüllt umher. Der Feind schien überall zu sein. Mit zitternden Händen wurden Magazine gewechselt, während sich Gedanken zur fernen Liebsten träumten.


    Die Wurzeln der Birke reichten tief in die Erde hinein. Dort hatte sich der Regen der letzten Woche gesammelt. Sie trank voller Dankbarkeit, die sie nicht hätte beschreiben können. Ein zarter Windhauch strich durch ihre Blätterkrone.


    Inzwischen hatte sich der Rückzug der Unterlegenen zu Flucht gewandelt. Sie rannten um ihr Leben, während ihnen Gegner wie Kugeln folgten. Der Panzer feuerte ohne Unterlass und erfüllte das Tal mit Donnerhall.


    Die Birke befand sich auf einem Hügel, in dessen Nähe ein kleiner Bach floss. Eine Libelle flog heran und umkreiste den Stamm. Der Baum wiederum wandelte die Nährstoffe, welche er mit dem Wasser aufgenommen hatte, in Energie um.


    Die Siegreichen Soldaten ballten die Fäuste und jubelten. Der Panzer schickte dem Feind einen letzten Gruß hinterher. Anschließend wandten sie sich dem nahen Dorf zu, um das Chaos in die Straßen zu bringen.


    Zurück blieb eine verwüstete Landschaft, von der die nahe Birke nichts bemerkte. Als der Tag in die Nacht überging, war sie zufrieden, wenn ihr Bewusstsein auch nicht ausreichte, um dies auszudrücken. Es war ein schöner Tag gewesen. Gewiss würden noch viele Momente des tiefen Friedens auf sie warten.

  • Zwei Tassen Tee

    von R.Bote


    Als das Telefon im Stationszimmer klingelte, hatte Hannah gleich kein gutes Gefühl – vielleicht, weil die Kollegin, die mit ihr zur Spätschicht eingeteilt war, seit zehn Minuten überfällig war. „Seniorenresidenz Lindenallee, Pasch“, meldete sie sich. „Nelly“, kam es zurück, und schon die Stimme bestätigte Hannahs Befürchtung. „Tut mir leid, ich kann nicht kommen. Hab mir irgendwas eingefangen.“ „Ist gut“, antwortete Hannah. Dabei war gar nichts gut – es hatte schon einen Grund, dass die Nachtschicht auf der Demenzstation doppelt besetzt war. Und ausgerechnet heute, wo sie seit ein paar Tagen einen Neuzugang zu betreuen hatten, der mit der Eingewöhnung kämpfte! Hannah hatte das schon oft erlebt: Frau Seybert war so lange wie möglich zu Hause gepflegt worden, und jetzt, wo sie mehr denn je auf vertraute Menschen und eine vertraute Umgebung angewiesen war, ging es eben nicht mehr. Dass sie körperlich noch sehr fit war für ihre 89 Jahre, war eigentlich erfreulich, macht es Hannah aber nicht gerade leichter. Sie wanderte viel auf der Station umher, und die Pflegerinnen mussten entsprechend aufpassen, dass sie sich nichts tat und vor allem nicht verschwand. Wie sollte Hannah allein das händeln, wenn sie gleichzeitig auch die anderen Bewohner und Bewohnerinnen versorgen musste?

    Aber an den Fakten ließ sich nichts ändern. Natürlich machte Hannah der Heimleitung Meldung, dass sie allein die Versorgung auf ihrer Station nicht sicherstellen konnte, aber sie war nicht überrascht, dass man ihr keine Unterstützung zusagen konnte.

    Also blieb Hannah nichts anderes übrig, als sich irgendwie durchzukämpfen. Zunächst ging es noch, denn solange ihre Schutzbefohlenen alle im Gemeinschaftsraum der Station saßen, sofern sie nicht bettlägerig waren, brauchte sie nicht an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Doch wenn jemand aufs Klo musste, wurde es schon schwierig. Hannah blieb nichts anderes übrig, als die Zimmertür offenzulassen und mit einem Ohr zu lauschen, ob irgendwo etwas war, während sie die nötige Hilfestellung gab. Sie konnte nur hoffen, dass nichts passierte, denn sie hatte keine Ahnung, was sie dann machen sollte. In dem Fall würde sie sofort nachsehen müssen, aber sie durfte auch die Person auf dem Klo nicht allein lassen – zwei Unbedingtheiten, die sich gegenseitig ausschlossen.

    Besonders anstrengend wurde es am späten Nachmittag. Schon das Abendessen auszuteilen und jedem nach seinem Bedarf zu helfen, war eine Herausforderung, und danach hätte Hannah eigentlich dringend eine Pause gebraucht. Stattdessen begann sie, die Ersten bettfertig zu machen, sie würde es ohnehin nicht schaffen, alle zur gewohnten Zeit ins Bett zu bringen.

    Ständig hatte sie ein Ohr auf den Gang, und wann immer sie konnte, huschte sie rüber in den Gemeinschaftsraum, um nach dem Rechten zu sehen.

    Beim dritten Mal fand sie dort jemanden, der eigentlich nicht dort hätte sein sollen. „Amaya?“, wunderte sie sich. „Was machst du hier?“ Amaya war noch nicht lange in Deutschland, sie kam aus Gambia und hatte einen Job in der Küche des Altenheims gefunden. Zu ihren Aufgaben gehörte, Essen auf die Stationen zu bringen und später das Geschirr abzuräumen.

    „Ich gesehen, du allein und viel Arbeit“, erklärte sie in ihrem gebrochenen Deutsch. „Ich hier aufpassen.“ „Musst du nicht zurück in die Küche?“, wunderte Hannah sich. „Ich Feierabend“, antwortete Amaya. Sie hätte also längst auf dem Heimweg sein können, aber davon wollte sie nichts wissen.

    Hannahs Dankbarkeit war unendlich. „Danke!“, sagte sie, als sie alle ins Bett gebracht hatte. Amaya war tatsächlich geblieben. „Ohne deine Hilfe …“ „Ist gut!“, wehrte Amaya ab. „Aber jetzt du Pause!“ Sie schob Hannah eine Tasse Tee hin, selbst hatte sie auch eine vor sich auf dem Tisch stehen. Hannah setzte sich und spürte, wie sie sich entspannte – gut, wenn man solche Kolleginnen hatte!