Begegnung am Nachmittag

  • Begegnung am Nachmittag


    Sie wandert durch die Straßen der Stadt, wie immer allein, ihre Kamera und ihr Notizbuch sind ihr Gesellschaft genug. Kaum jemand nimmt sie wahr. Sie ist nicht sehr groß, wirkt eher unscheinbar, eine von vielen in ihren Jeans und ihrem Hoodie. Das Auffälligste an ihr ist ihre Umhängetasche, schon ziemlich abgenutzt, mit einem bunten Muster und vielen Buttons verziert. „Bücherwurm“ steht auf einem, „Ich lebe, also bin ich“ auf einem anderen. Und doch: würde man die Menschen, denen sie zufällig begegnet, später nach diesen Begegnungen fragen, würde sich kaum einer erinnern. Sie ist da und doch wieder nicht, eine Randfigur, die nicht aus dem Rahmen fällt.

    Und so läuft sie durch die Stadt, ziellos, könnte man meinen, eine Herumtreiberin, aber das stimmt nicht. Sie ist nicht auf der Suche, sie findet. Und was sie findet, hält sie fest. Mit ihrer Kamera, in ihrem Notizbuch oder auch mit ihrem Händen. Gerade eben bückt sie sich, hebt etwas von der Straße auf. Es ist eine kleine Plastikfigur wie aus einem Überraschungsei. Ein kleines Zwerglein mit blauer Hose, grünem Hemd und einer Zipfelmütze. Vielleicht hat ein Kind sie verloren? Wer weiß das schon. Sie fragt sich, ob das Kind den Zwerg wohl vermisst, oder ob es so viele Spielsachen hat, dass der Verlust leicht zu verschmerzen war. Und sie beschließt, dass der Zwerg für heute ihr Begleiter sein soll. „Hallo du!“, stellt sie sich ihm vor. „Ich bin Marei. Und wie heißt du?“ Der Zwerg antwortet nicht, lächelt sie aber freundlich an. Sie denkt, dass er aussieht, als ob er Herbie hieße. Nun wandern sie zu zweit weiter, hinunter zum Fluss. Sie kommen nur langsam voran, denn Marei bleibt oft stehen, fotografiert oder schreibt und zeichnet in ihr Notizbuch. „Ich habe einen neuen Freund“ steht da zum Beispiel, daneben eine Skizze von Herbie. Außerdem ist Herbie heute Mareis Fotomodell. Sie knipst ihn auf einem Stromkasten, in einer Fensternische, auf einem Mauervorsprung. Es sind keine Touristenmotive, die sie fotografiert, es ist die Schönheit des Alltäglichen, die es ihr angetan hat. Das Besondere im Gewöhnlichen, in dem, was die meisten Menschen nicht einmal wahrnehmen oder als langweilig, hässlich oder schmutzig abtun. Herbie hat viel Geduld. Ihm macht es nichts aus zu warten, während Marei etwas in ihr Notizbuch kritzelt oder noch einmal zurückläuft, um doch noch einen Aufkleber auf einem Laternenpfosten zu fotografieren. Er lässt sich neben einem zusammengeknäulten Flyer fotografieren, den jemand weggeworfen hat und der neben Herbie wie ein riesiges Schneegebilde aussieht. Er balanciert auf einem Busfahrplan, auf einem Fahrradständer und sogar auf dem Brückengeländer über dem Fluss. Nicht einmal die Tauben können ihm Angst machen oder die tiefe Pfütze, an deren Rand er steht und hinausblickt wie auf einen großen See.

    Als es dunkel wird, macht sich Marei auf den Heimweg. Sie überlegt, ob sie Herbie mit zu sich nach Hause nehmen soll, doch das scheint ihr nicht richtig. Herbie ist ein Wanderer, dessen ist sie sich sicher, er würde sich in ihrer kleinen Wohnung nicht wohlfühlen. Aber die Nächte sind kalt und irgendwie bringt sie es nicht übers Herz, den kleinen Zwerg einfach wieder auf die Straße zu setzen. So steigen sie zusammen in den Bus und Marei klemmt Herbie zwischen Sitzlehne und Fensterrahmen, mit Blick nach draußen. Als sie an ihrer Haltestelle aussteigt, blickt sie noch einmal zurück zu der kleinen Figur am Fenster. „Mach’s gut, Herbie!“, flüstert sie. „Danke für den schönen Nachmittag und gute Reise!“