Echtzeitalter - Tonio Schachinger

  • Argon-Verlag, 2023

    Gesprochen von Johannes Nussbaum

    Laufzeit: 11 Stunden 12 Minuten


    Kurzbeschreibung:

    Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft ist das Gamen, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Nach dem Tod seines Vaters wird für ihn aus dem Hobby eine Notwendigkeit. Ohne dass jemand aus seinem Umfeld davon wüsste, ist Till mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück? Im Abschlussjahr 2020 kommt für Till, in der Schule und im Leben, alles noch einmal anders als gedacht.


    Über den Autor:

    Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Nicht wie ihr, sein erster Roman, stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, war für den Rauriser Literaturpreis nominiert und wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet. Tonio Schachinger lebt in Wien.


    Über den Sprecher:

    Johannes Nussbaum studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und ist seit der Spielzeit 2019/2020 festes Ensemblemitglied am Residenztheater in München. Er spielte in zahlreichen Filmen (Hannes) und Serien (Die Kaiserin) – für seine Rolle in Vorstadtweiber erhielt er 2016 die Romy als »Bester Nachwuchsschauspieler«.


    Mein Eindruck:

    Internatsromane haben eine große Tradition. Und zwar nicht nur Der Zögling Törless. Viele sind aber auch schnell vergessen.

    Tonio Schachingers Echtzeitalter dürfte länger im Gedächtnis bleiben.

    Der Protagonist Till Kokorda ist Schüler an einem Wiener Internat.

    Es fehlt mit dem Lehrer Dolinar dan auch nicht an einen kleine Diktator, der die Schule zur Hölle macht.


    Till ist auch ein erfolgreicher Gamer mit dem Computerspiel Age of Empires 2, das besondere Ansprüche an den Nutzer stellt. Es ist ein Echtzeit-Strategie-Videospiel aus dem Jahr 2019.


    Till gerät schließlich in einen Konflikt zwischen seiner Videospielbegeisterung und Dolinars harten Drill in der Schule.


    Das Hörbuch wird von Johannes Nussbaum gelesen, dessen junge, österreichsiche Stimme ganz gut zu Till passt.


    Der Roman ist nicht ohne Witz!


    ASIN/ISBN: B0BXPK912D

  • Nach gut einer Stunde Hörgenuss bzw. -qual, weiß ich noch nicht, was ich von diesem Internatsroman halten soll. Es geht um eine Menge Befindlichkeiten, Bildungshuberei und Buzzwording und nicht zuletzt um die Sprach- bzw. Spitzfindigkeit des Autors.

    Davon abgesehen kann ich die dramatische Lesart plus Wiener Schmäh nur dosiert ertragen.

    Gibt es noch andere Meinungen zum (Hör-)Buch?

  • Salonlöwin , ja, hier gibt es noch einen Eindruck - mir hat das Hörbuch sehr gut gefallen!

    Ich mochte den bissigen, unterkühlten Humor.

    1 Punkt Abzug habe ich gemacht, weil die Entwicklung Tills ab und an hätte deutlicher werden können.


    Mein Hör-Eindruck:



    Altmodisch erzählt, aber nicht altbacken!


    Der 10jährige Till besichtigt mit seiner Mutter seine künftige Schule, ein traditionsreiches Wiener Gymnasium, das stolz auf seine Geschichte und seine Absolventen ist. Die hohe Mauer fällt ihm auf, die das Institut umgibt, aber noch ist er zu jung um zu erkennen, dass diese Mauer Schule und Schüler vom Leben draußen abtrennt.


    Innerhalb dieser Mauern ist nämlich die Welt noch in Ordnung, jedenfalls nach Meinung der Schulleitung: man pflegt die konservativen Werte und lehnt die Sozialdemokratie und andere Verirrungen ab, die sich außerhalb der Mauer breitmachen. „Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte“, heißt es so herrlich sarkastisch im Roman, und einem dieser „Wahnsinnigen“ wird Till ausgesetzt sein: seinem Klassleiter Dolinar. Dolinar hat rückwärtsgewandte pädagogische Konzepte, die auf Unterordnung abzielen, und sein Literatur-Unterricht besteht im Auswendiglernen sinnentleerter Details.


    Till aber rebelliert nicht, sondern er passt sich an, was sich bei Schachinger so liest:

    „Sie sagen Egipten, weil der Dolinar überzeugt ist, dass Ägüpten falsch sei, und als er mit jemandem spricht, der ihn vom Gegenteil überzeugt, und daraufhin festlegt, dass ab jetzt Ägüpten die richtige Aussprache sei, folgen sie ihm, und als der Dolinar nach zwei Wochen zurückrudert und verlauten lässt, dass seine Quelle nicht zuverlässig gewesen sei, sagen sie eben wieder Egipten.


    Till geht den Weg des geringsten Widerstandes, er will lediglich die Schulzeit überleben, was ihn aber nicht vor den willkürlichen Strafaufsätzen des Lehrers Dolinar schützt. Till findet aber eine Fluchtmöglichkeit: er wird Gamer. Er vertieft sich in die Welt eines Echtzeit-Strategiespiels und feiert dort große Erfolge, und dem Leser kommt es so vor, als ob Till in seinem echten Leben einer seiner Spielfiguren gleicht.


    Der chronologisch, also eher altmodisch erzählte Roman begleitet Till bis zum Abitur. Der Tod des Vaters, Freundschaften erste Liebe, Kontakte zu den Reichen, Schönen und Bornierten, Wettbewerbe und die Zeitgeschichte – all das prägt Till. Die Beschreibungen der Spiele sind gelegentlich langatmig, aber trotzdem interessant auch für einen Nicht-Gamer. Ausgesprochen witzig und ironisch-bösartig sind Schachingers Beschreibungen des täglichen Schul-Lebens. Die Schüler gehören alle einer privilegierten Schicht an, der kein Schulverweis und auch keine schlechten Noten etwas anhaben können: ihr Weg nach oben ist von Geburt an vorgezeichnet und gesichert. Alle sind „akademisch mittelmäßig, ambitionslos, aber trotzdem eingebildet“, meint Schachinger, und passen daher hervorragend zu Österreich.


    Schachingers Freude an humorvollen, ironischen Szenen ist unübersehbar und macht die Lektüre zu einer leichten und vergnüglichen Angelegenheit. Mag sein, dass ein Lehrer wie Dolinar aus der Zeit gefallen ist und überzeichnet ist, aber kann es sich nicht auch so verhalten, dass hinter der abwehrenden Mauer der Schule solche Relikte einer rechtslastigen schwarzen Pädagogik überleben können? Schachingers Erzählung ist einerseits scharfzüngig, pointiert und witzig, aber andererseits zeigt er Mitgefühl mit seinen Figuren und ihren menschlichen Kümmernissen.


    Die Freude am Buch wird gesteigert durch einen perfekten Sprecher, der den Wiener Tonfall wunderbar in sein Vorlesen integriert. Ein ganz großes Vergnügen!


    Fazit: ein absolut lesenswerter/hörenswerter Roman, weniger ein Schul- oder ein Adoslezenz-Roman als ein breit angelegter Gesellschaftsroman.


    09/10 Pkt.

  • Hallo dracoma ,


    danke für Deine ausführliche Besprechung. Es ist schon ein paar Tage her, dass ich das Hörbuch beendet habe. Es fällt mir in letzter Zeit immer schwerer, meine Gedanken zu einem Buch zu verfassen, daher habe ich an dieser Stelle keinen vollständigen Höreindruck hinterlassen.

    "Echtzeitalter" hat durchaus jede Menge Stärken, wie. z.B. Sprache, Thema, Figurentiefe und das titelgebende Versprechen, sich nah an der Echtzeit zu bewegen, wird gehalten.

    Interessanter als die Schülerfigur Till empfand ich die Beschreibung des Lehrers Dolinat, der ebenso seine sadistischen wie seine guten Seiten hat und über weite Strecken mysteriös bleibt.

    Meines Erachtens schwächelt die Geschichte zur MItte hin, Tills Faszination für den E-Sport überträgt sich kaum auf den Leser und auch das Ende der Geschichte, als es um Tills Auslandsreise geht, fand ich ein wenig vorhersehbar.

    In der Summe ist "Echtzeitalter" kein schlechtes Buch, nein gewiss sogar ein besseres Buch und ob es den Buchpreis verdient hat, kann ich nicht beurteilen, da ich die Konkurrenzbücher nicht kenne.

    Eines steht jedoch für mich fest, und zwar dass "Echtzeitalter" es nicht unter meine Top 5 Bücher in diesem Jahr schaffen wird, dafür haben mich in diesem Jahr bereits einige Bücher zu sehr positiv überrascht. Doch dazu mehr, wenn die Büchereule in den literarischen Jahresrückblick geht :wave.

  • Eines steht jedoch für mich fest, und zwar dass "Echtzeitalter" es nicht unter meine Top 5 Bücher in diesem Jahr schaffen wird,

    Ich finde es immer hilfreich und interessant, andere Meinungen zu hören! Das Buch hat von mir nicht die volle Punktzahl bekommen, weil mir die Emotionalisierung gefehlt hat: das Buch hat mich emotional nicht so ergriffen (mir fällt leider keine besseres Wort dafür ein), wie es hätte sein können.

    Aber das ist eine sehr persönliche Wertung, das können andere wiederum anders sehen.

    Der Lehrer Dolinat: ist der nicht überzeichnet? Ich weiß es nicht.

  • Hallo dracoma ,


    die Frage, ob der Lehrer Dolinat überzeichnet ist, ist eine mehr als berechtigte Frage und eine ebenso schwer zu beantwortende.

    Bis zu einem gewissen Maße mit Sicherheit, denn wäre Dolinat wie jeder Lehrer, müssten wir darüber keine Bücher lesen ;).

    Entfernen wir uns ein Stück vom Buch und betrachten die Figur mit Abstand, dann sehen wir einen Lehrer vom alten Schlag, der an einem altehrwürdigen Gymnasium arbeitet, das für einen gewissen Ruf steht und eine Erwartungshaltung einer anspruchsvollen bis konservativen Elternschaft zu erfüllen hat.

    Bei näherer Betrachtung erinnern mich die Vorhaltungen des Lehrers an seine Schülerschaft an meine eigenen Schulzeit; wenigstens die Bücher dabei zu haben, der unentwegte Hinweis zu mehr Lektüre und die penetrante Kontrolle, wenn Hausaufgaben nicht erledigt wurden. Wenn ich daran denke, dass eine meiner Klassenkameradinnen über mehrere Wochen gequält wurde, weil sie den Osterspaziergang immer noch nicht auswendig beherrschte oder unser Deutschlehrer mit einem vollen Schlüsselbund in Richtung eines Schülers warf, der geistig abwesend war.

    Das würde heute alles nicht mehr passieren und doch stimme ich mit Tills Mitschüler überein, der am Ende recht großzügig auf seinen Lehrer und auf seine Schulzeit sieht; nicht nostalgisch und aber mit dem Blick eines geformten und gebildeten Menschen.

  • Bei näherer Betrachtung erinnern mich die Vorhaltungen des Lehrers an seine Schülerschaft an meine eigenenSchulzeit;

    Das geht mir auch so; für meine Generation ist dieser Lehrer nicht überzeichnet. Aber heute? Immerhin führt Schachinger den Roman ja ganz nahe an die Jetzt-Zeit heran.

    Vielleicht ist es ja so, wie ich in meinem Lese-Eindruck geschrieben habe: hinter diesen Schul-Mauern ist so allerhand noch möglich. Dazu kommt auch, dass die Eltern sich nicht einmischen, sie überlassen ihre Kinder der Schule und kümmern sich nicht weiter drum.

    Überhaupt gibt es in diesem Roman keine oder wenig fürsorgliche Eltern.


    Du sprichst diese Schlusszene an, wo sein ehemaliger Freund einen eher versöhnlichen Blick zurück wirft - aber er marschiert in Reih und Glied, er ist beim Heer. Till dagegen will Zivildienst machen und empfindet die Schule daher als "Hölle".

    Eine ganz interessante kleine Begegnung, sehr schönes Schlussbild, finde ich!