Philipp Oehmke, Schönwald

  • ASIN/ISBN: 3492071902



    Klappentext:


    »Wir sind, was wir uns selbst über uns erzählen.«

    Eine Familie, zwei Generationen und ein tiefes Trauma, das sie miteinander verbindet: Anders als Harry findet Ruth Schönwald nicht, dass jedes Gefühl artikuliert, jedes Problem thematisiert werden muss. Sie hätte Karriere machen können, verzichtete aber wegen der Kinder und zugunsten von Harry. Was sie an jenem Abend auf einem Ball ineinander gesehen haben, ist in den kommenden Jahrzehnten nicht immer beiden klar. Inzwischen sind ihre drei Kinder Chris, Karolin und Benni erwachsen. Als Karolin einen queeren Buchladen eröffnet, kommen alle in Berlin zusammen, selbst Chris, der Professor in New York ist und damit das, was Ruth sich immer erträumte. Dort bricht der alte Konflikt endgültig auf.


    Mein Hör-Eindruck:

    Familientreffen – wer kennt das nicht?


    Familie Schönwald, eine bildungsbürgerliche Wohlstandfamilie, trifft sich in diesem Roman zwei Mal, und zwischen diesen beiden Treffen entspinnt sich dieser opulente Roman.


    Das erste Treffen endet mit einem Eklat: auf die neu eröffnete queere Buchhandlung der Tochter Karolin in Berlin wird ein Anschlag verübt, und die Familie wird mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie vom ererbten „Nazigold“ ihrer Großeltern profitiere. Die Kontinuität von „Nazi-Gold“ in der jungen Bundesrepublik: eine interessante Form von Geldwäsche!


    Dieses Treffen in Berlin ist der erzählerische Knotenpunkt, von dem aus dem Leser die Geschichte zunächst nur eines Familienmitglieds erzählt wird, bis sich in der Rückschau ein weiterer kleiner Knotenpunkt ergibt, an den der Erzähler die Geschichte eines anderen Familienmitglieds anknüpfen kann. Insofern erinnert der Roman mit seinen vielen Verästelungen an einen Stammbaum, der sich jedoch auf zwei Generationen beschränkt, dafür aber auch die Schwiegerkinder und deren Familien ins Visier nimmt.


    Im Fortgang des Erzählens ergibt sich so ein dichtes Psychogramm dieser Menschen, die sich als Familie empfinden und die auch den Schutz durch die Familie gelegentlich erlebt haben. Hier erzählt der Autor eine anrührende Geschichte, wie sich der Älteste für seinen jüngeren Bruder einsetzt und sogar seine akademische Karriere für ihn aufs Spiel setzt. Dennoch schottet sich jeder von ihnen ab und fürchtet sich davor, den Erwartungen der anderen nicht zu entsprechen. Jeder von ihnen schafft es nicht, sich der Familie so zu zeigen, wie er ist und seine beruflichen und privaten Probleme offenzulegen. Das Cover, das an ein Bild von Edvard Hopper, den Maler der Stille, erinnert, zeigt diese Beziehungslosigkeit sehr deutlich: die Figuren stehen nebeneinander, sie befinden sich in keinem Austausch, die Blicke richten sich in unterschiedliche Richtungen. Sehr passend gewählt!


    Das entspricht der Familie Schönwald, wie wir sie als Leser erleben. Der äußere Schein wird gewahrt, da wird geblendet und simuliert, Konflikte werden unterdrückt, und vor allem: es wird geschwiegen und verschwiegen. Hier sind es die Mutter Ruth und ihre eigene Erziehung, die sich unheilvoll auswirken. Sie ist davon überzeugt, dass mit Reden noch nie eine Situation bereinigt worden sei. Sie ist so erzogen worden und gibt diese Überzeugung unreflektiert an die Kinder weiter: die „Oberflächenrealität“ der Familie soll immer unverändert bleiben. Und so kehrt sie ihre eigenen verpassten Chancen und ihr berufliches Scheitern, ihren „Lebensskorbut“, ebenfalls unter den Teppich.


    Das zweite Treffen findet vor den Toren Berlins statt, und auch dieses Treffen endet mit einem Eklat. Die „Normalitätssimulation“ funktioniert nicht mehr, das Konstrukt einer Familie bricht zusammen. Es geht jedoch nicht um die Bereicherung der Familie durch die Nazi-Vergangenheit der Großeltern, sondern die alten Konflikte brechen auf, das Schweigen wird gebrochen, zumindest ansatzweise, und zurück bleiben die alten Eltern, auf sich selber zurückgeworfen.


    Hinter diesem vielerlei verästelten Psychogramm einer Familie steht ein großes Panorama der Zeitgeschichte, und gelegentlich verlässt der Autor seine Rolle als Erzähler und zeigt sich als Journalist, wenn sein Bedürfnis zu groß wird, den Leser mit Hintergrund-Informationen und Analysen zu versorgen.


    Der Roman besticht durch seine messerscharfen Formulierungen und seinen verhaltenen, oft ironischen Witz, mit dem manche Zeiterscheinungen bedacht werden. Ob das die MAGA-Bewegung Donald Trumps ist (die Beschreibung ihrer Mechanismen scheint Oehmke ein Anliegen zu sein!) oder die Beschreibung eines Vierseit-Bauernhofs, der sich mit modischen Angeboten an das Schicki-Micki-Klientel der Provinz richtet oder wenn ein Gesprächsteilnehmer im Gespräch gendert – man erkennt die Zeit und ist erheitert.


    Auffällig sind die vielen Hinweise auf Thomas Mann. Namensgleichheiten, der Spitzname „der Zauberer“, Promotion und versuchte Habilitation der Mutter über Thomas Mann etc. und schließlich vor allem ein Foto vor dem Thomas-Mann-Haus in Pacific Palisades, das für den akademischen Absturz des glamourösen Professors Schönwald sorgt – die Hinweise sind unübersehbar. Der Grund? Knüpft Oehmke an den Familienroman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann an bzw. will das Genre des Familienromans in Deutschland wieder beleben? Schön wäre es.


    Das Hörbuch (17 Stunden!) wird eingesprochen vom Autor, und an seine verrauchte Stimme gewöhnt man sich sehr schnell. Beide, Buch und Hörbuch, hätten eine leichte Einkürzung vertragen.


    Fazit: Nachdenkenswert, aber ein großes Lesevergnügen!


    09/10 Pkt.