John Irving, Der letzte Sessellift

  • ASIN/ISBN: 3257072228


    Klappentext:


    1941 in Aspen, Colorado. Die 18-jährige Rachel tritt bei den Skimeisterschaften an. Eine Medaille gibt es nicht, dafür ist sie schwanger, als sie in ihre Heimat New Hampshire zurückkehrt. Ihr Sohn Adam wächst in einer unkonventionellen Familie auf, die allen Fragen über die bewegte Vergangenheit ausweicht. Jahre später macht er sich deshalb auf die Suche nach Antworten in Aspen. Im Hotel Jerome, in dem er gezeugt wurde, trifft Adam auf einige Geister. Doch werden sie weder die ersten noch die letzten sein, die er sieht.


    Mein Lese-Eindruck:


    „Es gibt mehr als nur eine Art zu lieben!“


    Irvings Roman umfasst die Spanne von 60 Jahren, in denen wir das Leben des Adam Brewster verfolgen. Adam wächst vaterlos auf, und so wird die Suche nach seinem Vater zu einem der Motoren des Romans. Seine Mutter ist begeisterte Skilehrerin, und Adam weiß nur eines: er wurde gezeugt im Hotel Jerome im Ski-Ort Aspen. Dieses Hotel wird daher zu einem Bezugspunkt des Romans.


    Als Irving-Fan war für mich dieser Roman so etwas wie das Hotel Jerome. Ich fühlte mich sofort zuhause, weil ich fast alle bekannten Motive und Erzählweisen dort wiedergetroffen habe. Da waren sie wieder !: die gesellschaftlichen Außenseiter, die skurrilen Gestalten, die Kleinen, bizarre Episoden wie die Hochzeit der Mutter, Wien und Wiener Schmäh mitsamt der Zither-Musik gehören auch dazu, ebenso der Ringer-Sport, Sex in unterschiedlichen Orientierungen, die alleinerziehende Mutter und natürlich auch der Bär, der sich allerdings listig versteckte. Mir kam dieser Reigen wie die Schlussszene in einem Zirkus vor, in der alle Artisten noch einmal gebündelt auftreten und sich verabschieden. Sollte es tatsächlich Irvings Abschied vom Erzählen sein?


    Irvings Themen sind ebenfalls nicht neu. Er stellt ein Familienmodell vor, das sich nicht um gesellschaftliche Erwartungen kümmert, sondern dessen Mitglieder ihre Bedürfnisse und ihre Andersartigkeit konsequent ausleben können. Diese Familie wird nicht nur durch verwandtschaftliche Verhältnisse zusammengehalten, sondern es ist ein starkes emotionales Band, das sehr verschiedene Menschen zusammenbindet und füreinander einstehen lässt. Hier gelingen ihm wunderschöne und anrührende Bilder. Ich denke da besonders an die Gedenkfeier für den in Vietnam gefallenen Freund, als dessen Vater, immerhin ein hochdekorierter Offizier, die Schützlinge seines Sohnes zur Gedenkfeier einlädt : ein Trupp von verlausten, verlotterten und ausgehungerten Menschen, die aus den gesellschaftlichen Rastern herausgefallen sind. Im Zusammenhang mit dem Familienthema steht ein zweites Thema: das der ungehinderten sexuellen Orientierung, für die Irving schon immer mit aller Vehemenz eingetreten ist.


    Ein neues Thema klingt jedoch an: das des Verschwindens und des Todes. Ein zunehmend elegisch werdender Ton zieht sich durch das Buch, verstärkt durch das Auftreten von Gespenstern und dem Einfügen von Drehbüchern; immerhin halten Filme auch die Verstorbenen lebendig. Die Schlusskapitel zeigen in beeindruckender Verdichtung das immer schneller werdende Vergehen der Zeit, das mit immer häufiger werdenden Altersangaben gezeigt wird, dazu kommen ruhelos wirkende stringente Sätze – ein schöner erzählerischer Kunstgriff!


    Die Biographie des Adam Brewster erinnert in weiten Teilen an Irvings eigene Biografie, so dass man Adam getrost als Irvings Alter Ego auffassen kann. Die Themen, die Adam umtreiben, sind daher auch die Themen, mit denen sich Irving in den USA unbeliebt gemacht hatte, z. B. seine kritische Stellungnahme zum Vietnamkrieg und zum Abtreibungsverbot. Und so vermengt sich die autofiktionale Biografie mit der Zeitgeschichte, ein großes Panorama der amerikanischen Gesellschaft tut sich auf, und in den Passagen über die Macht der Katholischen Kirche oder die Ignoranz Reagans gegenüber AIDS spürt man die Empörung des Autors.


    Das Lesen des fast 1100 Seiten starken Romans wird erschwert durch zu viele Wiederholungen, und auch die standardisierten Umschreibungen der Personen wurden mir mit der Zeit lästig. Auch die genauen Informationen über diverse globale Skiweltmeisterschaften etc. verstärkten vielleicht das Lokalkolorit, aber waren in dieser Ausführlichkeit nicht notwendig. Der Roman wurde damit gelegentlich schwammig und verlor seine Prägnanz.


    Umso mehr ist Irvings souveräne Erzählkunst hervorzuheben, die den Leser wieder einfängt und in die Geschichte zurückzieht.


    09/10 Pkt.

  • und auch die standardisierten Umschreibungen der Personen wurden mir mit der Zeit lästig.

    Ich lese das gerade; früher war ich ein großer Irving-Verehrer, von dem ich mir auch die vielen Kursiven, ein bisschen was im Bereich "Satzbau" und eben jene Umschreibungen abgeguckt habe, aber mit denen übertreibt er es im "Sessellift" tatsächlich nicht nur ein bisschen. Es ist die Ausnahme, dass eine Figur mit ihrem richtigen Namen benannt wird. Den Vornamen von Adams' Mutter hatte ich irgendwann vergessen.


    Er hatte mich mit "Witwe für ein Jahr" und "Die vierte Hand", vor allem aber mit "Bis ich Dich finde" als geneigten Leser fast für immer verloren (das waren in meinen Augen wirklich schlechte Erzählungen), aber mit "Letzte Nacht in Twisted River" war ich wieder dabei, allerdings fand ich "Straße der Wunder" grausig, wofür der vorletzte Irving - "In einer Person" - etwas entschädigt hat. Beim "Sessellift" bin ich noch etwas unentschlossen, aber ich bin noch im ersten Viertel. Es ist einerseits wie ein Nachhausekommen (in ein sehr gemütliches, heimeliges Zuhause), andererseits passiert fast nichts, die Erzählung ist oft ein ziemliches Durcheinander und an allen Motiven hat sich der Große Meister eigentlich längst ausreichend abgearbeitet. Mal schauen, wie mein Fazit ausfällt - so in zwei, drei Wochen, schätze ich. 8)

  • Beim "Sessellift" bin ich noch etwas unentschlossen,

    Dann warten wir mal Dein Urteil ab.

    Wir sehen offensichtlich dieselben Schwachpunkte, wenn man das denn so nennen will. Er hat es als Abschiedswerk entworfen, und diese elegische Grundstimmung, wie sie in dem Bild des Sessellifts Ausdruck findet, hat mir sehr gut gefallen. So gut gefallen, dass ich den Rest verziehen habe :).

    Er ist einfach ein begnadeter Erzähler!

  • Wie ein sehr langer Spaziergang bei herrlichem Wetter, aber durch eine trostlose Landschaft und in Begleitung von Nervensägen


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    Als ich vor über zwanzig Jahren das Manuskript meines Debütromans aus der ersten Lektoratsbearbeitung bekam, waren darin ziemlich viele Stellen gerötet. Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, stellte ich fest, dass der Lektor vor allem die vielen kursiv geschriebenen Wörter bemängelt hatte, teilweise gab es davon mehrere pro Satz. „Warum machst du das?“, hatte er an einer Stelle an den Rand geschrieben. Nunwohl, diese Marotte, das Kursive so intensiv einzusetzen, hatte ich mir von John Irving abgeschaut, von dem ich zu jener Zeit ein großer Fan war. Ich bewundere ihn nach wie vor, aber als begeisterten Leser hat er mich irgendwo zwischen „Zirkuskind“ und „Die vierte Hand“ verloren, und mit „Bis ich Dich finde“ hatte er mich sogar verärgert. Dann griff ich ein paar Jahre später und ein bisschen gelangweilt nach „Letzte Nacht in Twisted River“, das mich ziemlich begeistert hat. Okay, „In einer Person“ war wieder schwerer auszuhalten, aber immer noch okay, vor allem thematisch. „Straße der Wunder“ hatte allerdings Killerqualitäten, quälte und mäanderte, und eigentlich wollte ich deshalb einen Riesenbogen um „Der letzte Sessellift“ machen. Irving hat sich selbst kräftig auserzählt, er hat seine Motive und Figurenkonstellationen und Themen inzwischen so oft wiederholt, dass man statt eines Hirns eine Mülltüte im Schädel tragen müsste, um nicht zu verstehen, worauf er hinauswill, was ihm wichtig ist, wozu er mahnt, wovon er spricht. Aber all das (Neu-England, AIDS, das Ringen, Lehrerjobs, skurrile Großfamilien, ein breiter Strauß von sexuellen Orientierungen, Menschen mit eigener Sprache und/oder Sprachbarrieren, Mikrosomie, Schriftstellerei usw.) nun noch einmal auf über tausend Seiten breitzutreten, ohne dass ein marginal neuer Aspekt hinzukäme, gar eine nennenswerte Handlung, etwas wie ein Spannungsbogen – das war in gewisser Weise nicht nötig. Zumal die homöopathische Dramaturgie mit einer massiven Überdosis von irvingscher Maniriertheit kombiniert wird.


    Irving erzählt die Geschichte von Adam Brewster, der sehr klein ist, aber auch recht attraktiv, und er ist quasi der einzige Hetero weit und breit, jedenfalls aus Sicht des restlichen relevanten Romanpersonals. Seine Mutter, die Skilehrerin, ist homosexuell, heiratet aber dennoch einen ebenfalls kleinen und sehr hübschen Lehrer, der nicht Adams Vater und transsexuell ist, was die Mutter (deren Vorname „Rachel“ lautet, was aber höchstens zwei-, dreimal im Roman vorkommt) nicht davon abhält, mit einer burschikosen Bergretterin zusammenzuziehen. Dazu kommt die ebenfalls lesbische Cousine Nora, mit der Adam ein herzliches und vertrautes Verhältnis hat, die mit einer Frau namens Emily lebt, die sich Em nennt, eigentlich aber überhaupt nicht spricht. Sie wird später, genau wie Adam, Schriftsteller. Und irgendwie geht’s auch ein bisschen ums Skifahren, aber eigentlich nicht wirklich. Möglicherweise ist das Skifahren eine Metapher, aber in „Der letzte Sessellift“ gibt es ganze Lagerhallen voll davon, da kommt es auf die eine nicht an.


    Der Roman umspannt mehr als sechs Jahrzehnte, springt von Episode zu Episode, oft übergangslos, fährt eine große Menge von Figuren auf, von denen die meisten, wie immer bei Irving, über irgendwelche Eigenschaften benannt werden („der Schneeläufer“, „die Raupenfahrerin“), obwohl von diesen Eigenschaften nur selten direkt erzählt wird. Teilweise sprechen sich die Figuren gegenseitig so an. Und es geschieht einfach überhaupt nichts, dafür wird alles unaufhörlich wiederholt. Die Episoden mit echter, fortschreitender Handlung ergeben insgesamt vielleicht fünfzig Buchseiten, und auf den restlichen fast tausend wird die Exzentrik á la Irving ausgebreitet. Ja, es geht dabei um wichtige Themen, vor allem um Toleranz, um Diversität, um Respekt vor Menschen, die sich nicht in die patriarchalisch-heteronormative Welt einfügen wollen. Das ist ganz prima und wichtig und voll super, aber so, wie der Altmeister das hier in seinem angeblich letzten Langtext macht, nervt es nur. „Der letzte Sessellift“ ist zum Heulen langweilig, sprachlich völlig überdreht, und wenn ich das Buch abends gegriffen habe, um dort weiterzulesen, wo ich am vorigen Abend aufgehört hatte, hatte ich entweder das Gefühl, den vor mir liegenden Text schon zu kennen oder ein paar Dutzend Seiten ausgelassen zu haben – oder beides zugleich.


    Ich bewundere John Irving immer noch. Er ist ein engagierter und wichtiger Künstler, er gibt vielem eine Stimme, das sonst ungehört bliebe, er trägt das Unkonventionelle über eigentlich recht konventionelles Erzählen in die Furnierwandschrankwohnzimmer. Oder er hat das getan, mit seinen ganz, ganz großen Romanen wie „Owen Meany“ oder „Gottes Werk“ und nicht wenigen anderen. Er ist ein großartiger Erzähler, ein Chronist und ein Geschichtenmann, aber die Entscheidung, sich nun nicht mehr in Ziegelsteinromanlänge zu Wort melden zu wollen, ist die richtige, denn er hat einfach nichts mehr zu erzählen, und das, was er zu erzählen hatte, ist von ihm selbst oft genug wiederholt worden. Das galt allerdings schon vor „Der letzte Sessellift“, dessen Lektüre ich wirklich niemandem ernsthaft empfehlen kann.

  • Ich lese das Buch gerade und frage mich, warum Adam nicht die Hände ringen soll.Was will mir der Autor damit sagen?


    Update 23.4 Ich habe das Buch gut zur Hälfte durch und finde es richtig gut. Aber: Mit den Skigeschichten konnte ich mich ja noch anfreunden. Die Ringergeschichten gingen mir aber nur noch auf die Nerven. Und bei der Auflistung eines Drehbuchs, habe ich einfach nur schnell weiter geblättert. Tross dieser Schwächen ist es ist eine verrückte Familie, die man einfach gern haben muss.