Empusion - Olga Tokarczuk

  • Empusion

    Olga Tokarczuk

    Kampa Verlag

    ISBN: 3311100441

    384 Seiten, 26 Euro



    Bevor man zu diesem Buch greift, sollte man wissen, dass es nicht für diejenigen geeignet ist, die den schnellen Kick suchen, denn diese Schauergeschichte entblättert nur ganz langsam ihre verborgene Schönheit. Für die heutige Generation könnte sogar die Sprache etwas anstrengend und befremdlich sein, denn der Schreibstil ist ganz der Zeit gewidmet, in der die Handlung stattfindet. Im September 1913 hat man eben ganz anders gesprochen und geschrieben als 2023.


    Also Vorsicht; das Lesen könnte anstrengend werden, aber wenn man z.B. den Zauberberg von Thomas Mann gelesen hat, mit dem sich dieses Buch ein klein wenig vergleichen lassen muss, dann wird man diesem Buch die Liebe entgegen bringen, die es verdient.


    Das erste Sanatorium für Lungenkrankheiten in Görbersdorf in Niederschlesien hat 1913 bereits viele Gäste, als der Ingenieurstudent Mieczysław Wojnicz, aus Lemberg eintrifft, um seine Schwindsucht behandeln zu lassen. Er kommt im Gästehaus für Herren unter und gleich am nächsten Tag begeht die Frau des Wirtes Selbstmord. Das Leben scheint aber ganz normal weiterzugehen und er muss nun ebenso wie seine Mitpatienten durch gutes Essen, Spaziergänge an der guten Luft des Ortes und regelmäßige Likörchen wieder zu Kräften kommen. Der abendliche Alkoholgenuss regt die Stimmung an und so philosophieren die Herren jeden Abend über das Leben, den Krieg, und die Frauen; ein Thema bei dem sie immer wieder unweigerlich landen.


    Lange Zeit geht es so, bis Mieczyslaw irgendwann eine unheimliche Entdeckung macht. Auf dem örtlichen Friedhof befinden sich sehr viele Gräber von jung gestorbenen Männern. Jedes Jahr im November ist ein Todesfall zu beklagen und es gibt noch mehr Auffälligkeiten…


    Ich habe dieses Buch extrem gern gelesen, auch wenn mich die teilweise langen Debatten etwas ermüdet haben, so fängt das Buch doch eine ganz besondere Stimmung ein, die mich auch nach dem Ende lange Zeit nicht losgelassen hat. Da es sich um einen realen Kurort handelt und sich noch Bilder des Sanatoriums und des Ortes finden, hatte ich beim Lesen viele Bilder der Örtlichkeiten vor Augen.


    Es dauert einige Zeit, bis man begreift, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht und nur langsam erkennt man, was mit dem Protagonisten los ist, doch dann wird es immer spannender. Fast surreal erscheint der Showdown und das Ende hinterlässt ein gutes Gefühl. Dieses Buch gehört schon jetzt zu meinen Highlights 2023. Handlung, Sprache und Stimmung haben mich sofort eingenommen und beeindruckt. Ein wunderbar vielschichtiges Buch, das eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen hat. Daumen hoch und eine begeisterte Leseempfehlung an diejenigen, die bereit sind, sich auf eine Zeitreise in das Jahr 1913 zu begeben.


    ASIN/ISBN: 3311100441

  • Vielen Dank für diese Rezi. Das Buch hatte ich auch schon im Auge, nachdem ich von der Autorin "Der Gesang der Fledermäuse" gelesen hatte. Dann habe ich es wieder aus den Augen verloren.


    Jetzt nach der Rezi steht fest: Das ist ein Buch nach meinem Geschmack und ich werde es bald lesen!

  • Görbersdorf 1913. Der junge, zurückhaltende Ingenieur Mieczyslaw Wojnicz wird von seinem Vater zur Kur geschickt, um sich von der Schwindsucht zu erholen.

    Er mietet sich in einer Pension ein, in der sich weitere Kurgäste einfinden und kommt mit ihnen ins Gespräch, als die Frau des Pensionswirts plötzlich verstirbt.

    Den seltsamen Tod der Gastwirtin nehmen die ausschließlich männlichen Kurgäste zum Anlass, die Rolle der Frau aus unterschiedlichen Perspektiven und Kontexten zu beleuchten und zu bewerten.

    Olga Tocarczuk arbeitet an ihrer unerfahrenen Hauptfigur Mieczyslaw Wojnicz das damalige Frauenbild ab, greift jede noch so absurd klingende These über das weibliche Geschlecht auf und lässt die illustre Männerrude brilliant darüber philosophieren, wie es um Physis und Psyche der Frau bestellt ist. Was einhundert Jahre später einen gesellschaftlichen Aufschrei bedeutet hätte, dürfte im Jahr 1913 selbst unter fortschrittlichen Männern als Konsens gegolten haben.

    Als die Männerrunde zu einer Wanderung in den Wald aufbricht, entdecken sie eine Tuntschi, eine Puppe aus Naturmaterialen, die den Bedürfnissen alleinstehender Männer dient. Mieczyslaw Wojnicz ist zunächst verwirrt, bis er erfährt, dass jedes Jahr im Wald ein junger Mann umkommt, was zunächst nicht verwundert, da noch kein Antibiotikum zur Verfügung steht und eine nicht geringe Anzahl an Patienten verstirbt. Doch warum sollte es sich um den jungen Mann handeln, der vom Tod bedroht ist, hatte doch Dr. Semperweiß ihm eine gute Heilungschance in Aussicht gestellt.

    So verwundert der Titel "Empusion" dann letztlich nicht, stellt er doch eine Wortschöpfung aus Empusa, einer griechischen Spukgestalt, und Symposion, einer geselligen Trink- und Diskussionrunde dar, die die Autorin in den Mittelpunkt der Handlung stellt.


    Die Nobelpreisträgerin Olga Tocarczuk siedelt ihren Roman in jenem Jahr an, in dem Thomas Mann seinen Zauberberg zu schreiben begann, und mit dem ihr Roman zwar Ähnlichkeiten aufweist und doch völlig anders ist. Angesiedelt in der Mitte Europas ein Jahr vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wirkt das schlesische Görbersdorf, das nahe an der Grenze zu Polen liegt, wie ein Ort der Glückseligkeit. Die Kurgäste kommen aus Russland, Polen, Österreich und Galizien (einem heutigen Teil der Ukraine) und man spricht sowohl Deutsch als auch Polnisch. Noch funktioniert die Verständigung zwischen den Herren, sowohl sprachlich als auch inhaltlich, auch wenn jeder der Kurgäste sein eigenes Geheimnis in sich trägt.

    Die Geschichte ihrer Figuren erzählt Olga Tocarczuk nach und nach, schiebt Andeutungen ein, setzt falsche Fährten und lässt die Handlung überraschend und fast abrupt enden.

    Stellenweise kommt der Wunsch auf, die Autorin hätte sich kürzer gefasst, weniger Mystik bemüht und stattdessen noch intensiver vom Görbersdorf des Jahres 1913 berichtet, von dem sie ausgiebig und intensiv recherchiert in Beschreibungen der Sanatorien und Heilanwendungen, des Friedhofs, der Gasthäuser und ihrer schlesischen Küche berichtet.

    Am Ende der Schauergeschichte führt die Nobelpreisträgerin alle Fäden zusammen und schließt mit Themen, die bis heute unverändert bestehen. Einen Trost bietet das Nachwort, in dem die Autorin auf das Schicksal ihrer Figuren eingeht.

    "Empusion" ist eine gelungene Antwort auf Thomas Manns "Zauberberg", eine Geschichte angesiedelt vor gut einhundert Jahren, die sprachlich, erzählerisch und wissenswert verdeutlicht, wie Politik, Gesellschaft und Religion sich bis heute auswirken und der Spuk noch lange nicht vorbei ist.

  • Ich bin ein bisschen naiv an Empusion herangegangen. Nachdem ich letztes Jahr mit Begeisterung den Gesang der Fledermäuse gelsen habe, habe ich etwas ähnliches erwartet, zumindest vom Anspruch her. Und daher habe ich die Chance genutzt, die Lesung über die ARD Audiothek zu hören. Mittlerweile sind die Rechte wieder abgelaufen und die Lesung steht in der ARD Audiothek nicht mehr zu Verfügung.


    Timo Weisschnur verleiht den Figuren Charakter, er kann natürlich auf eine großartige Charakterstudie zurückgreifen. Diese Kombination passt richtig gut. Und bedingt durch das Radioformat von ca. 22minütigen Folgen wurde ich auch zwischen den Folgen abgeholt, denn es gab zu jeder Folge kurze Einführungen. Diese haben mir zur Eindordnung des Buches sehr geholfen, da ich sonst beispielsweise gar nicht gewusst hätte, dass manche der wiederlichen Äußerungen nicht nur den Zeitgeist wiederspiegeln, sondern wohl bekannten Werken entnommen waren. Auch mit Thomas Mann oder dem Zauberberg habe ich mich noch nicht beschäftigt. Daher lässt mich das Buch etwas ratlos zurück, da ich ohne großes Vorwissen in die Geschichte eingestiegen bin und dem Text zwar folgen konnte, aber die dahinterliegende Ebene bleibt mir verschlossen.