Volker Weidermann - Ostende - 1936, Sommer der Freundschaft
ASIN/ISBN: 3442748917 |
Buch:
Ostende ist ein Seebad an der Nordsee, in Belgien gelegen, auf der anderen Seite des Meeres liegt das englische Dover.
Hier herrscht im Sommer 1936 ruhiges Badewetter, die palastartigen Hotels aus der Königszeit bieten noch immer jeden Luxus und jede Bequemlichkeit. Der Ort ist nicht zufällig gewählt, hier hat man hinter sich Europa und vor sich das Meer, es heißt aufbrechen, zu neuen Ufern und in ein unbekanntes Leben.
Das Häuflein Schriftsteller, das sich hier wiederfindet, hat sich geschworen, Normalität zu spielen, Urlaubsstimmung zu verbreiten, so zu tun, als wäre alles wie immer. Doch das ist es nicht, ihre Bücher sind verboten, die Auflagen eingestampft, die Familien und Freunde mussten sie zurücklassen, ihre Arbeit, das Zuhause und das normale Leben wurde ihnen genommen.
Während dessen bereitet Nazideutschland die Olympischen Spiele vor, eine gewaltige Scharade, man will der Welt ein zivilisiertes und offenes Land vorspielen.
Die hier Versammelten wissen es besser: Joseph Roth, der brillante Grantler, bitterböse und bittertraurig, sinnt er der Donaumonarchie nach, seine mit den Habsburgern untergegangene Welt, die dem bettelarmen galizischen Juden Ansehen, Erfolg und Freunde zu haben ermöglichte, so sah er es zumindest. Stefan Zweig, elegant, weltmännisch und reich, weltberühmt und am Untergang der Kultur des alten Europa verzweifelnd. Egon Erwin Kisch, Bonvivant und witzig, der Roth "Sepp" nennt und über die alten Romantiker spottet. Irmgard Keun, berühmt für ihre emanzipierten Romane, zynisch und intellektuell, ließ Ehemann und Geliebten zuhause und stürzt sich in eine heftige Affäre mit Joseph Roth, wie zwei Ertrinkende, die sich aneinandeklammern.
Hermann Kesten, guter Geist der Truppe, sorgt sich als Verlagslektor um alle Schriftsteller und ist immer da, wenn er gebraucht wird. Ernst Toller, kommunistischer Medienstar und Spötter vom Dienst, mit seiner Frau, der Schauspielerin Christiane Grautoff.
Sie alle spielen Normalität,aber stürzen sich hungrig auf jede Nachricht aus dem "Reich", die sie erwischen können. So treffen sie sich täglich im Café "Flores" und reden und trinken, schreiben und trinken, streiten sich und trinken und trinken daraufhin dann zur Versöhnung. Dabei ist die Freundschaft innerhalb der Gruppe durchaus ambivalent. Es wäre Hassliebe, doch zum Hass sind sie allesamt unfähig. Doch Eifersucht, Neid, Minderwertigkeitsgefühle und verschiedene Abhängigkeiten, machen das Beziehungsgeflecht komplex und brisant.
Im Grunde ist die Gruppe so heterogen, wie sie nur sein kann und jeder lebt in seiner Welt und kreist um sich selbst, schließlich sind sie alle Schriftsteller/innen. Was sie eint, ist ihre verschwindende Hoffnung, die Kälte der Angst und die Heimatlosigkeit.
Fazit:
Alles, was in diesem gerade mal 156 Seiten starken Buch passiert,passiert innerhalb der Gruppe. Eine andere Handlung findet nicht statt. Aber die Dynamik, die kenntnisreiche Detailtreue und die Dialogsicherheit, die Weidermann hier vorlegt, ist spannend bis zu letzten Seite. Der Autor ist gut auf seine Aufgabe vorbereitet, die schwierigen Charaktere einzuführen und versteht es, sich in ihre Situation einzuschreiben. Das erfüllt die Figuren mit Leben, es werden Menschen daraus, die lieben und verachten, verzweifeln und hoffen, zu viel trinken, zu laut lachen und zuviel reden. Menschen eben, die mitten in der größten Krise ihres ohnehin nicht einfachen Lebens stecken.
Volker Weidermann war ein enger Freund von Marcel Reich-Ranicki, der ihn zu dem Buch anregte und der alle Beteiligten kannte, was dem Buch zugute kam. Auch die Zusammenarbeit mit Zweig - Biograph Oliver Matuschek, in dessen Archiv sich um die 10000 Briefe Zweigs befinden, zeigte sich als guter Griff.
Diese Runde in Ostende hat es so nie gegeben, Weidermann hat sie erdacht. Tatsächlich sind aber alle Beteiligten öfter in Ostende gewesen, nur eben nicht gleichzeitig und nicht 1936. Aber es hätte sich so abspielen können, der Text wirkt glaubhaft und authentisch. Ich hatte beim Lesen Gelegenheit, viel zu recherchieren und zu lernen über diejenigen, von deren Arbeit und Leben ich weniger wusste als etwa von Zweig und Roth. Dabei war nicht zu übersehen, wie exakt Weidermann gearbeitet hat, so etwas schätze ich bei einem Buch sehr.
Ich finde dieses kleine Buch sehr geglückt und möchte es gerne weiterempfehlen.
Eigentlich wollte ich es erst im Juni lesen und nur den Anfang anschauen, aber "Ostende" gehört zu den Büchern, die man erst aus der Hand legt, wenn man zu Ende damit ist.