„Letzten Endes ist das vornehmliche Interesse der Amerikaner das Geschäft: Sie sind vor allem beschäftigt mit Produktion, Kauf, Verkauf Investieren und in der Welt Erfolg haben.“* (Seite 384, Calvin Coolidge, von 1923-1929 Präsident der USA)
570 Seiten, etliche Abbildungen, Literaturverzeichnis, Register, Zeittafel, Lesebändchen, gebunden mit Schutzumschlag
Verlag: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2022
ISBN-10: 3-10-010838-8
ISBN-13: 978-3-10-010838-8
Zum Inhalt (eigene Angabe)
Der Buchtitel gibt den Inhalt eigentlich schon wider: eine Geschichte Nordamerikas (also der USA und Kanadas) seit 1600 bis in die Jetztzeit, wobei das Schwergewicht auf den USA liegt.
Der Autor erzählt jedoch nicht linear einfach die Historie, sondern legt viel Wert auf ein Gesamtbild, das auch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen in den Blick nimmt.
Über den Autor (Verlagsangabe)
Marcus Gräser, geboren 1964 in Bad Vilbel, ist Universitätsprofessor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Johannes Kepler Universität Linz und war zuvor stellvertretender
Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington, DC. Er forscht zu Problemen der nordamerikanischen und zentraleuropäischen Geschichte und favorisiert den historischen Vergleich als Methode der Geschichtswissenschaft.
Informationen im Internet:
- Die Seite zum Buch beim Verlag (mit Leseprobe)
- Der Wikipedia-Eintrag zum Autor
- Die Seite zum Autor bei der Uni Linz
Meine Meinung
Als ich das Buch das erste Mal sah, war mein Interesse geweckt. Dazu hat das Coverfoto vom Eisenbahnbau sicher auch seinen Teil beigetragen. Nun also habe ich das Buch gelesen und bin etwas zwiegespalten. Erwartet hatte ich, daß der Autor die Geschichte Nordamerikas, beginnend um 1600, linear bis heute erzählt. Das tat er allerdings nicht; ich hatte über weite Teile des Buches das Gefühl, daß er über alles Mögliche schreibt - nur nicht über Geschichte. Jedenfalls nicht so, wie ich es erwartet hatte. Das hat mich über weite Teile immer wieder an Abbruch denken lassen, denn - es sei zugegeben - Kunstgeschichte (auch diese kommt im Buch vor) ist nicht unbedingt mein Interessengebiet.
Hier kommt allerdings ein großes Plus des Buches zum Tragen: ich habe immer wieder weiter gelesen (selbst Abschnitte, die mich weniger bis gar nicht interessierten), weil der Autor ungemein gut schreiben kann, wie man es in Sachbüchern nicht allzu oft findet. Will sagen, Gräser vermag alleine durch seinen hervorragenden Schreibstil zu fesseln und über „langweilige“ Passagen hinwegzuhelfen. Vorbildlich - so sollte ein Sachbuch geschrieben sein.
Das Buch ist in folgende Hauptabschnitte eingeteilt:
- Einleitung: Europa und Amerika
- 1: Siedlergesellschaften und Kolonialherrschaft (1600 - 1760)
- 2: Revolution und Konterrevolution (1760 - 1820)
- 3: Marktgesellschaft und Nationsbildung (1820 - 1880)
- 4: Industriestaat und Moderne (1880 - 1945)
- 5: Weltmacht und Wohlfahrtsgesellschaft (1945 - 2020)
Durch diese Einteilung ergibt sich zwar eine chronologische Erzählung, allerdings nicht in dem Sinne, daß jährlich (bzw. zeitlich) fortschreitend von den historischen Begebenheiten berichtet wird. In Kapiteln wie zum Beispiel „Gesellschaft(en) und Bedrängnis“, „Gesellschaft: Ein ‚bürgerlicher‘ Zustand?“, „Gesellschaft in Bewegung“, oder „Konsum und Krisen“ werden jeweils verschiedene Themen und „Zustände“ bzw. Entwicklungen geschildert, die jeweils prägend waren oder es durch die Jahrhunderte geblieben sind.
Das las sich, wie gesagt, sehr gut und gibt insgesamt einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Gesellschaft Amerikas (und teilweise Kanadas) seit etwa 1600. Aber eben rein der „weißen“ Gesellschaft und mit Einschränkungen auch der „schwarzen“. Die ursprünglichen Bewohner des Kontinents kommen jedoch nur am Rande vor, finden hie und da Erwähnung - manchmal hatte ich das Gefühl, daß man pflichtgemäß auf deren Leiden und Verluste (an Land und Leben) hinweisen mußte, weil man das eben nicht völlig ausblenden konnte. Hier hätte ich mir, gerade heute, wo man doch stets so „politisch korrekt“ sein muß, deutlich mehr erwartet. Wer sich explizit informieren will, wie sich der Verlauf der Geschichte „auf der anderen Seite“, nämlich aus Sicht der indigenen Völker darstellt, dem sei „Und die Erde wird weinen“ von James Wilson empfohlen. Ein Buch über „Die Indianer Nordamerikas - ihre Geschichte, ihre Spiritualität, ihr Überlebenskampf“, das leider nur noch gebraucht erhältlich ist.
Interessant war das Buch aber in einer ganz anderen Hinsicht. Ich bin ein „bekennender Fan“ amerikanischer Weihnachtsfilme. Wenn man diese im Hinblick auf Gesellschaft und Wirtschaft ansieht, wird man deutliche Unterschiede zu Europa bzw. Deutschland feststellen. Vereinfacht gesagt: der Staat kümmert sich um ziemlich wenig, ziemlich viel benötigt Privatinitiative - ohne staatliche Hilfe. Dieses Grundprinzip fällt mir immer wieder, auch in anderen (Fernseh-)Filmen auf. In diesem Buch liefert der Autor die Begründung dafür. Kapitalismus, Privatinitiative und „klein halten des Staates - diesen nur für das Allernötigste“ sind tief in der DNA Amerikas bzw. der Amerikaner verankert - von Anfang der Besiedelung an bis heute. Diese Grundhaltung taucht an relevanten Stellen im Buch auf, etwa auf Seite 169: „Die Herstellung sozialer Gerechtigkeit war aber nicht unbedingt das Ziel des amerikanischen Projektes.“ Oder auf Seite 359: „Der Primat der privaten Investitionen als Motoren der Stadtentwicklung war passgenau in einer Wirtschaftsordnung, die ganz von Laissez-faire-Denken und Besitzindividualismus geprägt war.“ Sehr gut hat das Calvin Coolidge, von 1923-1929 Präsident der USA, im Satz über der Rezension zusammengefaßt.
Durch das ganze Buch hindurch zieht sich diese Grundeinstellung sowie eine Abneigung gegen einen „Wohlfahrtsstaat“ - wobei ich diesen Begriff auf die USA mit Sicherheit nicht anwenden würde, denn von einem solchen ist man dort meilenweit entfernt. Was bei uns zu viel ist, ist dort zu wenig.
Hatte ich über weite Teile beim Lesen noch die Überlegung, das Buch nach Beendigung baldmöglichst weiter zu geben, so geriet dieser Vorsatz dann im letzten Abschnitt über die Nachkriegszeit recht bald ins Wanken. Eigentlich ist das ein Abschnitt von Geschichte, dem ich nicht allzu große Aufmerksamkeit widme. Gräser hat aber die Nachkriegsentwicklung in den USA dermaßen gut und anschaulich dargestellt, daß mir dadurch erst Vieles verständlich wurde - bis hin zu der Tatsache, weshalb ein Donald Trump Präsident werden konnte. Und nach meiner persönlichen Meinung auch wieder werden wird, entgegen den Hoffnungen des Autors, der im letzten Satz (S. 512) seiner Hoffnung Ausdruck gibt, daß „(...) die Fähigkeit der amerikanischen Gesellschaft zur Korrektur von Fehlentwicklungen nicht unterschätzt werden [darf].“ Genau wegen seiner Ausführungen im Buch habe ich da allerdings deutlich weniger Hoffung - lasse mich aber gerne eines Besseren belehren.
Für mich wurde in den letzten Kapiteln deutlich, daß Gestalten wie Donald Trump oder Ron deSantis anscheinend die heutigen Vertreter des „wahren Amerika“ sind. Marcus Gräser hat für mich den amerikanischen Glanz entzaubert. Der amerikanische Traum ist ausgeträumt.
Mein Fazit
Der Autor entwirft ein umfassendes Bild der Entwicklung Nordamerikas seit etwa 1600, wobei der Blick vor allem auf der „weißen Geschichte“ liegt. Richtig interessant fand ich vor allem seine Ausführungen über die jüngste Geschichte Amerikas und die Entwicklungen in der amerikanischen Gesellschaft nach 1945.
Originaltext
* Im Buch im englischen Original, sinngemäße Übersetzung von mir. Hier der Originaltext: „After all, the chief bussines of the American people ist business: They are profundly concerned with producing, buying, selling, investing, and prospering in the world.“ (S. 384)
ASIN/ISBN: 3100108388 |