A. L. Kennedy, Als lebten wir in einem barmherzigen Land

  • Klappentext

    Ein Meisterwerk der moralischen Beunruhigung – die Weltpremiere von A.L. Kennedys neuem Roman.

    Soll man Unbarmherzigen gegenüber barmherzig sein? Anna unterrichtet an einer Grundschule und möchte immer noch die Welt verbessern. Wie vor fünfundzwanzig Jahren, als sie in Edinburgh mit einer Gruppe von Straßenkünstlern gegen die Kriegs- und Sozialpolitik der englischen Regierung demonstrierte. Was sie damals nicht ahnte: Einer ihrer Kumpane war ein V-Mann, der sie alle verriet. Nun stellt sie dem Peiniger nach. Doch bis wohin reicht das Böse – und kann Anna sich selber davon freihalten? Ein Meisterwerk der moralischen Beunruhigung. In ihrem unnachahmlichen Stil, in dem sich Ironie und Empathie verbinden, erzählt A.L. Kennedy von der Möglichkeit der Liebe der Menschen füreinander.


    Mein Lese-Eindruck


    Der Titel und auch das beeindruckende Cover zeigen es schon: wir leben eben nicht in einem barmherzigen Land. Die Autorin zeichnet ein provozierendes Bild des zeitgenössischen Englands nach dem Brexit. Das mag ein Grund dafür sein, dass das Buch bisher in England keinen Verleger gefunden hat.


    Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen, zwei Ich-Erzähler: einmal Anna, eine idealistische und engagierte Lehrerin, die sich nach Kräften bemüht, ihrem Sohn und ihren Schülern während des Lockdowns gerecht zu werden. Und dann „Buster“, der sich in Studententagen Annas Straßentheatergruppe angeschlossen und dann als Polizei-Spitzel die Gruppe vor Gericht gebracht hatte.

    Annas Erzählstimme ist ein einziger Monolog, in dem sie ihr Leben, ihren Alltag, ihre Gedanken und vor allem ihre Wut zu Papier bringt. Dagegen erzählt Buster wesentlich sachlicher, gelegentlich fast zynisch und legt seine Aufgabe als Undercover-Agent und Auftragsmörder dar.


    Was macht Anna so wütend?

    Es ist nicht nur der Verrat Busters, sondern die gesamte Situation. Sie beobachtet sehr differenziert das Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Gruppen, und die zunehmende Verarmung der Mittel- und Unterschichten empört sie genauso heftig wie in ihren Studententagen, als sie mit ihrer Straßentheatergruppe Streikende unterstützte und gegen soziale Ungleichheit kämpfte. Sie sieht die Ursachen der Situation im schamlosen Machtstreben und dem ausufernden Egoismus einer Führungsschicht, die kein soziales Gewissen kennt.


    Diese Gruppe bezeichnet Anna als die Stilzchen nach dem Märchen der Gebrüder Grimm, wo das Rumpelstilzchen aus Stroh Gold spinnt und als Lohn das Kind der Königin einfordert. Dieses Bild löst Anna auf: die Gruppe der Stilzchen interessiert sich nicht für andere Menschen, sondern nur für Gold, nur für das eigene Fortkommen, nur für die Festigung ihrer eigenen Machtposition, nur für ihre eigenen Vorteile. „Was zählt, ist die Demonstration der absoluten Macht.“ Und so wird Annas Text eine wütende und auch verzweifelte Anklage gegen die Ungerechtigkeiten ihrer Zeit und ihres Landes.


    Ein zweites Märchen spielt eine Rolle: das Märchen vom Barmherzigen Land. Dieses Land verzeiht auch vielfachen Mördern, und es wird gegen Ende des Romans eine besondere Rolle spielen. „ Ohne Barmherzigkeit werden die normalen Menschen zu den neuen Stilzchen.“


    Fazit: ein provokanter, bissiger Roman.


    ASIN/ISBN: 3446276246