Hier kann zur Geschichte "Der Apostat" geschrieben werden.
'Auf Tiefe - See- und Küstengeschichten' - Der Apostat
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Ich musste gleich noch eine Geschichte lesen nach der Geschichte von Tjark. Der Priester hier erinnert mich an den Priester aus "Zur See", nur dass er hier schon viel früher den Glauben verliert. Dass er weiter macht und hofft, wieder zum Glauben zu finden, kann ich verstehen. Dass er sich irgendwann seiner Frau anvertraut, auch. Aber nicht, warum seine Frau damit ein so großes Problem hat.
Statt ihm beizustehen und ihn zu trösten, scheint sie ihm Vorwürfe gemacht zu haben. Und in seinen Wahnvorstellungen oder was auch immer gibt er sich die Schuld an ihrem Selbstmord. Leider - Depressionen sind eine Krankheit, die professioneller Hilfe bedarf, da ist ein Partner überfordert. Er ist genausowenig schuld an ihrem Tod, wie sie daran schuld ist, dass sie ihm nicht helfen konnte. Im Grunde genommen war sie ihm keine gute Ehefrau, aber sie hat sich die Depression nicht ausgesucht.
Und auch er hätte professionelle Hilfe benötigt, aber da hat er auf den Halligen vermutlich ein Problem. Mir tut der Priester sehr leid und ich bin froh, dass er die Treppe wieder heruntergegangen ist. Aber ohne Hilfe wird er nicht wieder gesund werden. Vielleicht trinkt er sich zu Tode, was auch traurig wäre, denn Selbstmord ist keine gute Lösung.
Ich würde ihm den Mut für einen Neuanfang wünschen, und echte Freunde, denn die scheinen zu fehlen. Die scheinen überhaupt vielen der Hauptpersonen in den Geschichten zu fehlen...
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Ich muss gestehen, ich wusste nicht, was !Apostat" ist und habe bei Wikipedia nachgeschaut: "Abtrünniger, Abgefallener, jemand, der sich vom christlichen Glauben lossagt" - irgendwie finde ich das gerade nicht: er sagt sich ja nicht vom christlichen Glauben los, sondern kämpft bitterlich darum, dass er wieder glauben kann... Und er hofft 25 Jahre darauf, dass er wiederkehrt!
Mein Mitgefühl hatte er von Anfang an, er kämpft so sehr um seinen Glauben (wobei ich sooo eine starke Glaubensbindung persönlich nicht nachempfinden kann, dass er nach deren Tod sogar seine Frau als "schlechtes Gewissen" (nee, falsches Wort, irgendetwas stärkeres: "moralische Instanz"?) einsetzt, die das "Urteil" sprechen soll... Ich persönlich finde es nicht schlimm, dass er Texte der Bibel hinterfragt (ich habe am evangelischen Rauhen Haus studiert, d.h. ich habe neben Sozialpädagogik auch eine Diakonen-Ausbildung), denn eigentlich finde ich, dass macht einen guten Pastor aus... Aber das ist rein persönliche Einschätzung - und da gibt sicher es 100.000 verschiedene Ansichten.
Er gibt sich die Schuld am Selbstmord seiner Frau, ich denke, dass seine Frau "schwermütig" war (wie die Menschen sagten), aber das er schon zu ihren Lebzeiten ihr die Rolle "der Richterin" zugewiesen hatte ("sie wandte sich ab, als ob sie sich schäme" oder so ähnlich). Traurig finde ich, dass er anscheinend keine andere Lösung gefunden hat, als seinen Kummer in Alkohol "zu ertränken" - dort liegt sein wahres Problem!
Sogar katholische Priester können eine Glaubenskrise bekommen und nehmen sich eine Auszeit, gehen in ein Kloster, sprechen mit anderen Priestern. Gut, er sitzt auf einer Hallig (aber nicht auf dem Mond), zu einem Kirchengemeindekreis gehört er bestimmt, er würde bestimmt jemand finden, mit dem er sein Problem besprechen kann...
Ich habe mich richtig gefreut, dass er die Treppe wieder heruntergeht, ich sehe es als "Sieg", befürchte aber, er nicht... vermutlich als zusätzliches "Trauma", dass er es nicht "geschafft" hat....
Wie schon erwähnt, er hat mein vollstes Mitgefühl, aber nachvollziehen kann ich seine Gedankengänge nicht wirklich...
Trotzdem: eine tolle Geschichte, dass seht Ihr schon daran, dass meine "emotionales Pferde" gerade etwas durchgehen - auf jeden Fall eine Geschichte, die mich sehr zum Nachdenken angeregt hat...
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Ich muss gestehen, ich wusste nicht, was !Apostat" ist und habe bei Wikipedia nachgeschaut: "Abtrünniger, Abgefallener, jemand, der sich vom christlichen Glauben lossagt" - irgendwie finde ich das gerade nicht: er sagt sich ja nicht vom christlichen Glauben los, sondern kämpft bitterlich darum, dass er wieder glauben kann...
Man kann sicher trefflich streiten, ob er ein "Apostat" im strengen Sinne ist, aber es findet sich für diesen Begriff auch die Sinnerklärung für jemanden, der vom Glauben abgefallen ist.
Wenn man das "Abfallen" nicht als bewusste Handlung bergreift, sondern als Folge des Umstands, dass dieser Mann, wie ich schreibe, auf einmal "nichts davon mehr glauben" kann, was in der Bibel steht, dann fällt er damit ja ebenfalls vom Glauben ab, sogar zwangsläufig und im wahren Wortsinn - auch wenn er das gar nicht will.
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Nachtrag zum Vorherigen: Ich hatte - aus genau dem Grund, den du, Sonnenschein12, zu Recht angemerkt hast, also wegen der möglicherweise nicht hundertprozentig passenden Bezeichnung "Apostat" für den Protagonisten dieser Geschichte - erwogen, den Titel "Apostat wider Willen" zu wählen. Nach einigem Überlegen empfand ich das jedoch als zu sperrig.
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- erwogen, den Titel "Apostat wider Willen" zu wählen. Nach einigem Überlegen empfand ich das jedoch als zu sperrig.
Stimmt, da hast Du vollkommen recht!
Wenn man das "Abfallen" nicht als bewusste Handlung bergreift, sondern als Folge des Umstands, dass dieser Mann, wie ich schreibe, auf einmal "nichts davon mehr glauben" kann, was in der Bibel steht, dann fällt er damit ja ebenfalls vom Glauben ab, sogar zwangsläufig und im wahren Wortsinn - auch wenn er das gar nicht will.
Auch hier können wir Einigkeit erzielen...
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Ich persönlich finde, dass man hier die Gedanken und Motive gar nicht zwingend nachvollziehen können muss. Jemand, der in solch einer tiefen Lebenskrise steckt, vermutlich an Depressionen leidet, als Außenstehende wirklich zu verstehen, gelingt auch im realen Leben oft nicht. Das finde ich hier sehr beklemmend und authentisch erzählt. Verständnis ist hier wohl eher der Schlüssel. Und das habe ich.
Selbstmord ist eine Todsünde, ein Glaubensmensch, der nicht mehr glauben kann, ist für ihn erschütternd. Diese inneren Konflikte, die Schuldgefühle und der Druck, die nicht nur von ihm selbst kommen, sondern auch von außen, von der Institution Kirche selbst, gemacht wurden und werden, das kann ich nachvollziehen.
Er lebt eine Lüge und hat niemanden mit dem er darüber sprechen kann. Dasselbe gilt für seine Frau. Sie beide treffen am Ende unterschiedliche Entacheidungen, aber "geschlagen" sind beide, haben beide resigniert. Ich finde, dass dies eine sehr traurige Geschichte ist, hoffnungslos.
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Und auch er hätte professionelle Hilfe benötigt, aber da hat er auf den Halligen vermutlich ein Problem
Aber wie ich schon schrieb, er lebt ja nicht auf dem Mond, wenn er nicht in seine Schuldgefühlen "ertrunken" wäre, hätte es bestimmt irgendeine Hilfe gegeben... Ob seine Frau ihm tatsächlich Vorwürfe macht (oder er annimmt, dass sie ihn "richtet") ist letztendlich egal, er empfindet es so und er steht mit seinem Problem allein da - genau wie Du schreibst:
und echte Freunde, denn die scheinen zu fehlen
Ich würde ihm den Mut für einen Neuanfang wünschen
Ja, das würde ich ihm auch wünschen, bin da aber nicht sehr optimistisch...
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Diese inneren Konflikte, die Schuldgefühle und der Druck, die nicht nur von ihm selbst kommen, sondern auch von außen, von der Institution Kirche selbst
In diesem Fall mag ich "der Kirche" nicht wirklich die Schuld geben, denn die weiß ja nichts von diesem Konflikt... Es ist eher so, wie er sich "die Kirche" vorstellt... Ich glaube, Glaubenskrisen sind in kirchlichen Kreisen wohlbekannt, sie hätten ihn bestimmt nicht rausgeschmissen...
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In diesem Fall mag ich "der Kirche" nicht wirklich die Schuld geben, denn die weiß ja nichts von diesem Konflikt... Es ist eher so, wie er sich "die Kirche" vorstellt... Ich glaube, Glaubenskrisen sind in kirchlichen Kreisen wohlbekannt, sie hätten ihn bestimmt nicht rausgeschmissen...
Das sehe ich anders (persönlich finde ich, dass wir viel zu sehr dazu neigen, die Kirchen aus ihrer Verantwortung zu nehmen, aber diese Diskussion führt hier zu weit). Bezogen auf die Geschichte denke ich, kann man die Kirche als religiöse Institution auch hier kritisch betrachten, in der Ausbildung ihrer "Angestellten", dem Umgang mit Gewissen, Schuld und Indoktrination. Was ja immer wieder bei Betroffenen - wie hier beschrieben - zu inneren Konflikten führt.
Ich nehme das hier so wahr. Hinzu kommt die kleine Gemeinde in der man unter ständiger Beobachtung steht und der man nicht so einfach entfliehen kann. Der Druck ist einfach enorm.
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In diesem Fall mag ich "der Kirche" nicht wirklich die Schuld geben, denn die weiß ja nichts von diesem Konflikt... Es ist eher so, wie er sich "die Kirche" vorstellt... Ich glaube, Glaubenskrisen sind in kirchlichen Kreisen wohlbekannt, sie hätten ihn bestimmt nicht rausgeschmissen...
Vielleicht ist da die katholische Kirche doch besser als die evangelische, denn da wird auch oder gerade von Pfarrern erwartet, dass sie zur Beichte gehen und ihr Gewissen mit Hilfe eines anderen Geistlichen erforschen. So ein intensives Gespräch wäre diesem Pastor sicher hilfreicher gewesen als sich seiner Frau anzuvertrauen, die mit dem Geständnis nicht richtig umgehen kann.
Vielleicht versucht sie aber nach ihrer Verzweiflungstat ihm aus dem Jenseits zu helfen, indem sie ihn zum Nachdenken anregt.
Glaubenszweifel oder Apostasie erleben sicher viele Gläubige im Laufe ihres Lebens. Würde mich wundern, wenn es nicht auch für Pastoren entsprechende Seminare, Einkehrtage oder psychologische Hilfsangebote geben würde. Urlaub, Umschulung oder Frührente wären wahrscheinlich auch möglich
Gibt es für Pastoren nicht auch Bischöfe, die sich um die ihren kümmern?
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Ich sehe durchaus auch Verantwortung bei der Kirche, sich um ihre Vertreter zu kümmern, durchaus auch proaktiv, eben weil sie wissen, dass es zu Glaubenskrisen kommen kann und immer wieder wird.
Der Druck in einer kleinen Gemeinde ist tatsächlich extrem, allerdings ist das völlig unabhängig von der Kirche zu sehen. Ich habe selbst als Kind und später als junge Erwachsene noch einmal kurz in einer solchen Gemeinde gewohnt und muss das nie wieder haben.
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Ich freue mich sehr über die überaus lebendigen Diskussionen zu meinen Geschichten, auch über diese hier, jedoch erlaube ich mir in aller Zurückhaltung darauf aufmerksam zu machen, dass Kurzgeschichten immer nur sehr wenige Aspekte eines bestimmten Verhaltens oder eines Geschehens beleuchten (können) - häufig sogar nur einen. Und das macht sie, wenn sie gut geschrieben sind, zu einer ganz eigenen literarischen Kunstform.
Dass mir das immer gelingt, muss ich zwar zu bezweifeln, aber fest steht, dass bei guten Short Stories vor allem das subjektive Empfinden seiner / ihrer Situation durch den / die jeweilige/n ProtagonistInnen von Bedeutung ist - hier beim Apostaten übrigens ebenso wie z. B. in der "Botschaft". Und die Geschichte besteht allein daraus (MUSS allein daraus bestehen), wie er - ob richtig oder falsch, ob erwartbar oder unerwartet - individuell damit umgeht.
Fragen wie die, ob er hätte Hilfe erbitten / bekommen können und wenn ja, von wem und in welchem Umfang, ob die Kirche ihm verziehen hätte, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hätte usw. sind allesamt für das Eindringen in die sehr intime, ganz einzigartige Gemütslage dieses einen speziellen Menschen wenig hilfreich - aus literarischer Sicht sogar abwegig.
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(persönlich finde ich, dass wir viel zu sehr dazu neigen, die Kirchen aus ihrer Verantwortung zu nehmen, aber diese Diskussion führt hier zu weit).
Das finde ich im Allgemeinen auch, deshalb hatte ich extra geschrieben "in diesem Fall"... ich gebe Dir in allen Punkten Recht, aber hier konnte die Kirche nicht helfen, weil sie nichts von seinen inneren Konflikten wusste... Mit der Institution "Kirche" habe ich auch so meine Probleme...
Gibt es für Pastoren nicht auch Bischöfe, die sich um die ihren kümmern?
ja, gibt es , auch Kollegen und sogar einen kirchenpsychologischen Dienst...
Aber er war so verzweifelt, dass ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen ist, dass er sich Hilfe holen könne, sondern letztlich nur noch Trost" im Alkohol gefunden hat...
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Dieter Neumann :Deinen Einwand hatte ich noch nicht gelesen, als ich meine Antwort schrieb und als Autor muss ich Dir Recht geben, aber mir als Leserin (und gerade in einer Leserunde!!) gefallen die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten gerade sehr gut. Ich finde, sie erweitern meinen Horizont: denn genau wie Du schreibst: der Protagonist geht individuell mit seiner Situation um (und die muss ich so akzeptieren), aber ich lese die Geschichte ja auch mit meinem individuellen Hintergrund (jede/r von uns) und deshalb finde ich die Diskussion so spannend...
Versteht Ihr, was ich meine? Das ist ein Grund, warum ich nie Autorin werden könnte: ich kann meine Gedanken manchmal nicht gut in klare Worte packen, sondern sie purzeln manchmal etwas kreuz und quer heraus....
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Versteht Ihr, was ich meine?
Absolut.
Das ist ein Grund, warum ich nie Autorin werden könnte: ich kann meine Gedanken manchmal nicht gut in klare Worte packen, sondern sie purzeln manchmal etwas kreuz und quer heraus....
Niemand muss Autor oder Autorin werden, um klar rüberzubringen, was er / sie sagen will, liebe Sonnenschein12. Dir gelingt das sehr gut und ich bin dir dankbar für deine vielschichtigen Gedanken zu meinen Geschichten.
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Glaube ist etwas Individuelles, eigentlich etwas Egoistisches. Ich glaube an einen Gott, den ich nicht sehen kann. An eine Hölle, an ein Paradies, an Wunder. Weder das eine noch das andere habe ich gesehen. Seinen Glauben zu verlieren ist nicht die Schuld der Kirche, wenn ehemals bedeutungsvolle Sätze nur noch Hülsen für Nichts sind, dann verliert man auch den Glauben an sich selbst. Nichts anderes ist ihm geschehen. Aber er hat Schuldgefühle, vielleicht ist da doch noch sein Glaube, nur zu einem winzig kleinen Staubkorn zusammengepresst. Und im Gegensatz zu einigen Meinungen hier finde ich, seine Entscheidung den Strick nicht zu nehmen, sich abzuwenden und die Treppe wieder hinunter zu gehen, gibt Hoffnung.
Er hat noch eine Chance, mit oder ohne Glaube.
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Ich glaube, das größte Problem des Pastors ist seine Einsamkeit. An die Stelle seines Glaubens ist eine große Leere und ein vernichtendes Schuldgefühl getreten. Nicht einmal seine Fau konnte er einbeziehen, sondern hat sie mit ihren Fragen immer wieder abgewiesen.
Diese schreckliche Härte mit sich selbst macht mich ganz fassungslos. "ein Vierteljahrhundert lang", hält er das schon aus, oder eigentlich hält er das nicht aus.
Vielleicht ist seine Entscheidung, sich nicht aufzuhängen die schlimmste überhaupt. Er hat sich weiter zu seinem schrecklichen Leben verurteilt.
Selbst die Treppe scheint Mitgefühl zu haben und knarrt schwerer als sonst.
Irgendwie ist der Pastor ein Seelenbruder des unglücklichen Tjark.
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seine Entscheidung den Strick nicht zu nehmen, sich abzuwenden und die Treppe wieder hinunter zu gehen, gibt Hoffnung.
Er hat noch eine Chance, mit oder ohne Glaube.
Deine Einschätzung wirft für mich noch einmal ein ganz neues Licht auf seine Entscheidung - ein Hoch auf diese Leserunde (und natürlich auch auf Deine Kurzgeschichte Dieter Neumann !) Sind Spekulationen erlaubt? Er hat sich dadurch vom "Urteil" seiner Frau losgesagt und geht seine Probleme jetzt aktiv an... Sooo hatte ich den Ausgang der Geschichte bisher nicht gesehen...
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Und im Gegensatz zu einigen Meinungen hier finde ich, seine Entscheidung den Strick nicht zu nehmen, sich abzuwenden und die Treppe wieder hinunter zu gehen, gibt Hoffnung.
Er hat noch eine Chance, mit oder ohne Glaube.
Das fand ich auch als ein Hoffnungszeichen und somit tröstlich.