Klappentext:
Eine Kindheit in unkonventionellen Verhältnissen, das geteilte Berlin, Familienbande und Wahlverwandtschaften, lange, glückliche Sommer am Meer. Judith Hermann spricht über ihr Schreiben und ihr Leben, über das, was Schreiben und Leben zusammenhält und miteinander verbindet. Wahrheit, Erfindung und Geheimnis - Wo beginnt eine Geschichte und wo hört sie auf? Wie verlässlich ist unsere Erinnerung, wie nah sind unsere Träume an der Wirklichkeit. Wie in ihren Romanen und Erzählungen fängt Judith Hermann ein ganzes Lebensgefühl ein: Mit klarer poetischer Stimme erzählt sie von der empfindsamen Mitte des Lebens, von Freundschaft, Aufbruch und Freiheit.
Mein Lese-Eindruck:
Der Klappentext lässt vermuten, dass Judith Hermann in diese Frankfurter Vorlesungen (2022) Privates einfließen lässt. Und so liest man dann von einer traumatisierenden Kindheit in Berlin, vom Alkoholismus des Großvaters, von der überlasteten Mutter, die der Ernährer der Familie war, vom depressiven Vater, der zugemüllten Wohnung der Eltern und anderen unerfreulichen Dingen. Judith Hermann sagt gleich zu Beginn dieser Vorlesungsreihe: „Ich schreibe über mich. ... Ein anderes Schreiben kenne ich nicht.“
Kein Wunder, denkt sich der Leser, wenn sie ihrer Freundin Ada so bereitwillig folgt, die das Prinzip einer Wahlfamilie vertritt und sie nun ihre Herkunftsfamilie ersetzt durch eine Wohngemeinschaft, mit der sie viele Sommer im geerbten Haus an der Nordsee verlebt. Sehr schnell aber merkt der Leser, wie die Autorin diese Autofiktionalität in Frage stellt und ihren Leser in der Schwebe hält. „Und selbstverständlich ist diese Ich-Erzählerin eben genau nicht ich. ... Schreiben heißt auslöschen.“
Die Autorin spielt ein Versteckspiel mit ihrem Leser, und dieses Spiel erinnert an ihr Puppenhaus der Kindertage, das sie ausführlich beschreibt: ein Haus mit fensterlosen Räumen und mit geheimen Kammern zum Verstecken. In diesem Puppenhaus konnte sie ihre Puppen verstecken, so wie sie sich in diesem Text versteckt, und nicht umsonst sitzt eine der Puppen dieser Puppenhaus-Tage auf ihrem Schreibtisch und begleitet sie.
Allerdings gibt sie zu, dass ihr Schreiben ihr Leben imitiere, aber eben nur als Inspiration, nicht als Dokumentation: „Ich schreibe am eigenen Leben entlang.“
„Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben" lautet der Untertitel der Vorlesungsreihe, und damit weist sie auf ein Strukturprinzip ihres Schreibens und auch dieser Vorlesungsreihe hin. Sie verschweigt ihren Zuhörern ihre tatsächliche Biografie und versteckt sich hinter einem Erzähler-Ich, aber „Diese Erzählerin ist Ich. Und sie ist ein Traumbild. Ich träume sie, und sie träumt mich.“ Damit versperrt sie ihren Zuhörern bzw. Lesern den Einblick in ihr Privates, obwohl sie genau das vorgibt zu tun.
Dieses Prinzip des Verschweigens lässt sich in ihren Romanen beobachten. Immer schafft sie Leerstellen, die der Geschichte ihre Eindeutigkeit nehmen, sie in der Schwebe halten und den Leser in die Pflicht nehmen. Oder um das Bild des Puppenhauses wieder aufzugreifen: ihre Geschichten haben Verstecke und dunkle Kammern, in denen sich ein Geheimnis verbirgt, eine Leerstelle, die der Leser füllen kann.
Fazit: Ein intelligentes Spiel mit Fiktionalität und Realität, ein Spiel mit der eigenen Biografie und mit den Erwartungen des Lesers. Oder anders formuliert: Die Autorin bleibt ihrem poetologischem Prinzip treu.
9/10
ASIN/ISBN: B0BJN226WT |