Jens Sparschuh - Nicht wirklich

  • Klappentext:


    Jens Sparschuh unternimmt in seinem neuen Roman eine faszinierende Abenteuerreise ins Zwischenreich von Realität, Erinnerung und Imagination und begibt sich auf die Spuren eines vergessenen Philosophen: Hans Vaihinger.


    »Die Wahrheit ist nur der zweckmäßigste Irrtum.« So behauptete es Vaihinger in seinem Hauptwerk »Die Philosophie des Als ob«. Hundert Jahre später fragt sich Dr. Anton Lichtenau, Privatdozent für Philosophie, aus wie vielen zweckmäßigen Irrtümern sein eigenes Leben bestanden hat. Ein unvorhergesehenes Ereignis auf dem Weg zur Vorlesung hat ihn völlig durcheinandergebracht. Während die Studierenden sich in der Abschlussklausur an einer Interpretation von Vaihingers Thesen versuchen, richtet er den Blick zurück. War es Zufall, dass er wegen mangelnder Russischkenntnisse nicht in Leningrad, wie es vorgesehen war, studierte, sondern in Berlin? In diesem anderen, seinem nicht gelebten Leben, hätte er Claudia nicht kennengelernt, die ihn dann auch nicht hätte verlassen können, und ... Je tiefer Lichtenau ins Labyrinth seiner Was-wäre-gewesen-wenn-Erwägungen eindringt, desto mehr verliert er den festen Boden bisheriger Gewissheiten unter den Füßen.


    Ein ebenso erhellender wie federleichter Roman über eine Grundformel menschlichen Denkens und die Kraft von Fiktionen.


    Mein Lese-Eindruck:


    Anton Lichtenau, promovierter und habilitierter Philosoph, ist auf dem Weg zur „Hochschule für Kulturwissenschaften“, einer fiktiven Hochschule in Berlin. Dort hält er in Vertretung eines Gönners eine Vorlesungsreihe, und nun stehen die letzte Vorlesung und die Abschlussklausur an. Aber auf dem Weg dorthin wird er von einem Radfahrer-Rowdy angefahren. Er stürzt, und ab jetzt geht alles durcheinander. Zunächst muss er seine verstreuten Skripten wieder einsammeln und bringt sie auf die Schnelle nicht mehr in die richtige Ordnung, und ähnlich sieht es in seinem Kopf aus, auch dort wird einiges durcheinandergeschüttelt.


    Und hier beginnt nun das Spiel des Autors mit seiner Figur, mit deren beruflichem Tun und auch mit dem Leser.


    Anton Lichtenau fängt an zu überlegen, was gewesen wäre, wenn – wenn er als Schüler besser Russische gelernt hätte, wenn er in Leningrad studiert hätte (wie der Autor), wenn er seine verflossene Partnerin nicht kennengelernt hätte und so fort. Stück für Stück rollt er sein Leben nach rückwärts hin auf. Das Bild der Matrjoschka, eines Mitbringsels für seine Freundin, ist die passende Metapher, denn auch hier sieht er, wie Stück für Stück die Figuren ineinander verschachtelt sind – so wie sein bisheriges Leben.


    Und noch eines passt sehr gut. Lichtenau doziert nämlich in diesem Semester über Hans Vaihinger. Hans Vaihinger, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge Kants, wurde bekannt durch sein Werk Als ob, in dem es um die Bedeutung von Fiktionalität im Leben des Menschen geht. Und damit ist ein weiteres Thema im Roman angeschlagen: die Fiktion. Was wäre, wenn? Lichtenau malt sich alternative Entwicklungen seines Lebens aus und erinnert sich sogar an Nicht-Geschehenes, das aber so hätte geschehen können:


    Zitat

    "Die Augen geschlossen, sah ich alles ganz deutlich vor mir: worauf es ankommt? Sich genau, in allen Einzelheiten, an das zu erinnern, was man nie erlebt hat.“ (S. 97)

    Witzigerweise stimmen seine und die Erinnerungen seiner Freundin an nicht-fiktive Erlebnisse auch nicht überein. Und auch das berufliche Leben seiner Freundin wird von Fiktionen bestimmt, weil sie als Lektorin für Groschenromane arbeitet.


    Sparschuh hat sich noch eine weitere Übereinstimmung ausgedacht, was seinen Protagonisten und Vaihinger angeht. Vaihinger nämlich setzte sich mit großer Außenwirkung für eine Institutionalisierung der Philosophie als wissenschaftlicher Disziplin ein. Und genau das wird zu Lichtenaus Auftrag: den Fortbestand der Fachschaft Philosophie an der Hochschule zu sichern. Das kann er aber nur, wenn er endlich ein lange geplantes Fachbuch veröffentlicht. Und daran hapert es. Als sein Gönner ihn fragt, ob er denn wenigstens schon einen Titel für das Buch habe, antwortet er: „Nicht wirklich.“ (S. 46) Was der Gönner als Titel missversteht.


    Fazit: Sparschuh gelingt hier ein ausgesprochen witziger Roman, der mit Fiktionen, Erinnerungen und Alternativen spielt.

    Man muss als Leser allerdings bereit sein für seine philosophischen Plänkeleien!


    7/10


    ASIN/ISBN: 346200140X