Mr. Loverman - Bernadine Evaristo
Originaltitel: Mr. Loverman (Verlag Hamish Hamilton, London, 2013)
Übersetzt von Tanja Handels
Herausgeber : Tropen
Sprache : Deutsch
Gebundene Ausgabe : 336 Seiten
ISBN-10 : 3608504893
ISBN-13 : 978-3608504897
Die Autorin:
Bernardine Evaristo, geboren 1959, wuchs als viertes von acht Kindern in London auf. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Sie gewann als erste Schwarze Schriftstellerin den Booker-Preis für ihren Roman Mädchen, Frau etc. (2021), der auch in Deutschland ein großer Bestseller war. Zuletzt erschien Manifesto. Warum ich niemals aufgebe (2022).
Inhalt:
Barrington Jedidiah Walker, geboren und aufgewachsen in Antigua, liebt seine Retro-Anzüge und hat zu jeder Gelegenheit das passende Shakespeare-Zitat parat. Mit seiner Frau Carmel führt er ein beschauliches Leben in Hackney: zwei erwachsene Kinder, ein heimeliges Haus, Ruhestand. Doch unter der perfekten Oberfläche führt Barry ein Doppelleben. Seit Kindertagen liebt er seinen Freund Morris, der wie er als junger Mann nach England ausgewandert ist – und Morris liebt ihn. Die tief religiöse und von ihrer Ehe bitter enttäuschte Carmel ahnt, dass ihr Mann sie betrügt, allerdings hat sie keine Ahnung, mit wem. Während sich die Ehe der beiden auf den unvermeidlichen Abgrund zubewegt, entscheidet Barry, dass er endlich offen mit Morris zusammenleben will. Aber ist das möglich, nach all den Jahren des verborgenen Daseins? Mr. Loverman entlarvt die Irrtümer, denen wir in unserem Leben unterliegen. Mit welchen Konsequenzen müssen wir rechnen, wenn wir uns treu bleiben wollen? Und was, wenn die Angst vor diesen Konsequenzen einfach zu groß ist?
Mein Leseeindruck:
Wie schon "Mädchen, Frau etc." könnte dieses Buch mein Jahreshiglight werden. Es ist ganz, ganz, ganz wunderbar.
Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt. Hauptsächlich hören wir Barry Walkers Stimme: immer ironisch, leichtfüßig, scherzhaft und etwas bissig, und doch spürte ich als Leserin eine Traurigkeit hinter seiner Fassade als Ehemann, Vater und Großvater. Das ist von der Autorin außerordentlich feinfühlig geschrieben - und ebenso feinfühlig übersetzt. Die zweite Stimme ist die von Carmel, Barrys Ehefrau, "der Schreckschraube", wie er sie in seinen Gedanken nennt. Und auch wenn wir am Anfang in Barrys Erzählung die Schreckschraube in Carmel kennenlernen, ändert sich das schnell, wenn wir die Geschichte aus ihrer Sicht lesen. Denn ihr Leben ist gar nicht so einfach, wie Barry es sieht.
Zum Zeitpunkt der Geschichte ist Barry 74 Jahre alt - und seit 60 Jahren liebt er seinen Jugendfreund Morris. Doch im Antigua der 50er Jahre, wo beide geboren wurden, gibt es für einen Mann nur eines: Heirat und Kinder. Deshalb heiraten beide hübsche Ehefrauen und lassen sich in London nieder, wo sie sich ein besseres Leben aufbauen wollen. Barry gelingt das auch sehr gut, er wird wohlhabend. Morris ist nach wenigen Jahren schon wieder geschieden, pleite und voller Hoffnung, dass Barry seiner Frau gesteht, dass er homosexuell ist und mit Morris zusammenleben will. Doch Barry schafft das nicht - auch nicht 50 Jahre nach seiner Hochzeit mit Carmel, auch nicht im London der heutigen Zeit, in der Homosexualität offen gelebt werden kann. Doch Barrys Fassade beginnt auch gegen seinen Willen zu bröckeln und es erscheint unausweichlich, dass er eines Tages auffliegt. Die spannende Frage für mich war: wann und wie wird das passieren? Denn jedesmal, wenn Barry Carmel reinen Wein einschenken will, kommt etwas dazwischen - und Barry ist für kurze Zeit entschuldigt, denn er wollte ja alles sagen, nur die Umstände waren eben dagegen. Barry konnte ich nicht unbedingt als Opfer sehen, denn er weiß ganz genau, was er tut und laviert sich durchs Leben, in dem er vor allem und vor allen gut aussehen will. Außerdem behandelt er seine Frau Carmel nicht besonders freundlich, er verletzt sie mit Worten und das mit Freude - aber sie bleibt ihm nichts schuldig. Erstaunlich, wie es der Autorin gelingt, aus dieser verfahrenen Ehe ein versöhnliches Ende für beide zu basteln.
Die Kapitel, in denen Barry erzählt, sind mit "Die Kunst ..." betitelt: "Die Kunst des Geschäftemachens", "Die Kunst der Familienführung", u.s.w. In dem Kapitel erzählt uns Barry dann sein Leben zu dem Aspekt. Carmels Kapitel sind Lieder: "Lied von der Süße", "Lied vom Verlangen", u.s.w. Ihre Kapitel sind eine Art Gedankenstrom, ohne Punkte und Satzenden, ähnlich wie die Autorin es in "Mädchen, Frau etc." perfektioniert hat. Sehr beeindruckend war Carmels "Lied der Verzweiflung", in dem sie in einer postnatalen Depression steckt und dunkle Gedanken in ihr kreisen. Das Kapitel hat mich lange nicht losgelassen.
Absolute Leseempfehlung!
ASIN/ISBN: 3608504893 |