Schreibwettbewerb 01.03.2023 - 30.04.2023 Thema: "Eine freie Hammergeschichte mit viel Gefühl"

  • Thema 01.03.2023 - 30.04.2023:


    "Eine freie Hammergeschichte mit viel Gefühl"


    Vom 01.03.2023 bis 30.04.2023 23:59 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den aktuellen Schreibwettbewerb zum Thema „Eine freie Hammergeschichte mit viel Gefühl“ per PN (Sprechblasensymbol, „Konversationen“) zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 01.05.2023 eingestellt.


    Wer mitschreiben möchte, sendet bitte eine PN an den Account SchreibwettbewerbOrg. Wir schicken euch dann die Zugangsdaten für den Account Schreibwettbewerb. Das Passwort bitte vertraulich behandeln! Ihr meldet euch als Schreibwettbewerb an und sendet euren Beitrag an SchreibwettbewerbOrg. Dadurch sind alle Beiträge anonym. Nach der Veröffentlichung (nach dem 30.04.2023) sendet bitte eine zweite PN mit dem Titel eures Beitrags und eurem Namen an SchreibwettbewerbOrg, damit wir die Beiträge zuordnen können. Das Orga-Team wird erst nach der eigenen Punktevergabe in diese Beiträge schauen.


    Regeln:

    - Die Grenze für die Beiträge ist bei 600 Wörtern.

    - Abgabeschluss ist um Mitternacht.

    - Mitschreiben darf, wer mindestens 50 buchrelevante Beiträge hat oder seit mehr als 6 Monaten Mitglied ist.

    - Abstimmen darf, wer mindestens 25 buchrelevante Beiträge hat oder seit mehr als 3 Monaten Mitglied ist.

    - Als Thema vorgegeben werden kann ein Wort, ein Satz oder ein (selbstgeknipstes/gezeichnetes) Bild (ihr müsst das Urheberrecht haben).


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 600 Wörter zu verwenden. Wir behalten uns vor, Beiträge mit mehr als 600 Wörtern nicht zum Wettbewerb zuzulassen!

  • Das wächst sich aus ...

    von Gummibärchen


    Er hielt die Pistole recht lange in seinen Händen. Dann legte er das Ding neben die dazugehörige Schachtel auf den Tisch.

    Vor seinem inneren Auge konnte er sie sehen - ihr blondes Haar, ihre Grübchen, ihre Augen. Er lächelte und dachte an all das Schöne, was sie miteinander erlebt hatten und was sie für immer verbinden würde. Sie war für ihn der wichtigste Mensch auf der Welt. Und nun wollte man sie ihm einfach so nehmen? Ihm ihre Liebe, ihre Zuneigung, ihre pure Anwesenheit entreißen? Welcher Teufel ritt sein Exfrau, ihm zu erzählen, dass sie nicht seine Tochter war?


    Er spürte einen Tropfen sein Gesicht runterkullern. Eine Träne bahnte sich ihren Weg. Er dachte an das Gespräch zwischen ihm und seiner Exfrau, welches nun ungefähr ein Jahr zurück lag. "Hab ich dir doch erklärt", hörte er sie noch heute gereizt sagen, "sie ist Rolands Tochter, nicht deine. Und ja, das ist möglich - Roland und ich hatten vor 17 Jahren ein Verhältnis." Sie schwafelte von Sex, wann und wo sie Roland damals traf. Sie erzählte, wie sie ihrem Kind "die Wahrheit" sagte. Wie erfreut seine 16-jährige Tochter auf diese unerwartete Wendung im elterlichen Rosenkrieg reagiert hätte. Jakob hatte es damals nicht glauben können, nicht glauben wollen - weder diese "Wahrheit" noch die Behauptung, seine Tochter hätte diesen hanebüchenen Unsinn geglaubt und auch noch gut gefunden.


    Nun, ein Jahr nach dieser "Offenbarung", saß er verzweifelt in seiner Wohnung. Er dachte an die Kälte, mit der ihm seine geliebte Tochter seitdem begegnete, starrte die Waffe an und sah nur einen einzigen Weg, um seinem Schmerz zu entkommen. Er hatte doch ohnehin niemanden mehr, der ihn wirklich vermissen würde. Seine Frau hatte sich von ihm scheiden lassen, seinen Job hatte er verloren und seine Tochter wollte ihn nicht mehr als ihren Vater - wozu eigentlich noch weiterleben? Einmal den Abzug drücken und alle von ihm und sich selbst von dieser Qual erlösen - es klang so einfach.


    Und doch fiel es ihm nicht leicht. Er konnte seinen Schatz förmlich vor sich sehen - er sah sie älter werden, sich verlieben, die Welt und das Leben als erwachsener Mensch entdecken. Und er sollte dann nicht mehr hier sein?

    Ja, momentan hasste sie ihn. Es war eigentlich unvorstellbar, wie sie sich auf einmal gegen ihn wandte. Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Ignorierte ihn, wo und wie es nur ging. Schrie ihm ins Gesicht, er solle sie doch endlich in Ruhe lassen, er sei nicht ihr Vater. Er litt unbeschreiblich darunter, wie sie sich ihm gegenüber verhielt. Und er war sich dessen bewusst, dass es noch länger so anhalten könnte - Wochen, Monate, vielleicht Jahre. Sein Blick ging nochmal zu der Pistole. Ein Spruch fiel ihm ein, den sein bester Freund einmal sagte: "Weißt Du, Jakob, so ziemlich jede Phase der Kinder wächst sich irgendwann aus. Du musst nur Geduld haben."


    Konnte das stimmen? Das hier war kein zaghaftes Kiffen. Keine dumme Phase, in der sie irgendwelche Gangster-Rapper auf volle Lautstärke hörte oder ihre Klamotten auf links trug. Das hier war größer, wichtiger, ernsthafter. Und doch blieb ihm eigentlich nichts anderes als die Hoffnung, es wächst sich aus.


    Jakob wischte sich eine weitere Träne weg. Er nahm den Deckel in die Hand, legte ihn auf die Schachtel mit der Waffe und schob diese langsam von sich weg. Er würde warten. Bis sie wieder "zur Vernunft kam". Bis es sich ausgewachsen hat. Bis seine Tochter wieder sein Tochter sein wollte. Er würde einfach warten, bis sie wieder den Weg zu ihm fand.

  • Der Praktikant

    von Breumel


    „Guten Morgen. Ich bin Florian Hannsen und soll mich bei Herrn Jakobs melden, wegen des Praktikums.“

    „Na dann komm mal mit.“

    Florian war erleichtert. Er hatte sich Herrn Jakobs kalt und unheimlich vorgestellt, aber er wirkte ganz nett. Und eine Kutte trug er auch nicht.

    Sie traten in einen Nebenraum, wo ihm Herr Jakobs einen Kleiderbügel reichte.

    „Probier das mal an.“

    „Also doch Kutte“, dachte Florian, aber die Kleidungsstücke entpuppten sich als weite, bequeme Hose und Tunika, beides in schneeweiß.

    Dann ging Herr Jakobs zu einem Schalter.

    „Heute brauche ich zwei gekoppelte Geräte. Ich habe einen Praktikanten dabei.“

    Zwei Ketten mit großem Anhänger wurden ihm gereicht, von denen er eine Florian reichte.

    „Das sind unsere Empfänger. Wenn der Empfänger eingeschaltet ist, wartest du, bis er aufleuchtet, dann drückst du hier drauf und wir werden zu unserem Auftrag gebracht. Haben wir den Klienten, bringt er uns an den Zielort und anschließend wieder hierher.“

    Florian nickte.

    „Na dann los!“


    Herr Jakobs schaltete die Geräte ein, und kurz darauf leuchteten die Anhänger in hellem weiß. Beide drückten auf die Schaltfläche, und dann fühle Florian einen Sog, der ihn kurz die Orientierung verlieren ließ. Er sah sich um: Sie waren in einem Krankenhauszimmer, in dem ein alter Mann offensichtlich gerade gestorben war. An seinem Bett saßen Angehörige, und neben dem Bett stand jemand, der dem Verstorbenen stark ähnelte.

    Herr Jakobs sprach den Mann an: „Willkommen! Wir sind gekommen, um Sie abzuholen.“

    Der Mann sah ihn an. Sonst schien niemand zu reagieren.

    „Endlich habe ich keine Schmerzen mehr. Aber – wohin soll ich denn gehen?“

    „Deshalb sind wir hier. Wir geleiten die Unentschiedenen auf die andere Seite. Sie können nicht hierbleiben, aber Sie haben dennoch eine Wahl.“

    „Und welche?“

    „In ihrem Fall wären das der christliche Himmel, die Wiedergeburt, die Vereinigung mit einem größeren Bewusstsein oder die völlige Auflösung.“

    „Aber ich bin doch getauft worden?“

    „Ja, aber Sie glauben nicht nur an ihre Religion. Ihre Einstellung lässt Alternativen zu. Und für die Strafabteilungen sind Sie kein Kandidat.“

    „Strafabteilungen?“

    „Hölle, Dschahannam, Wiedergeburt als Legehenne – was Religionen mit Gut und Böse Konzept so zu bieten haben.“

    Der Mann erbleichte, und auch Florian spürte es kalt über seinen Rücken laufen.

    „Ich nehme den Himmel, bitte.“

    Herr Jakobs nahm den Mann an der Hand, dann betätigte er den Anhänger. Florian tat es ihm gleich. Diesmal wurden sie vor ein Tor transportiert.

    Darauf zeigend sagte Herr Jakobs: „Dies ist Ihr Weg in den Himmel.“

    Der Mann lächelte. Mit einem leisen „Danke“ verschwand er im Dunst hinter dem Durchgang.

    Ein Druck auf den Anhänger brachte sie zurück in die Zentrale.

    „Das hat mir gefallen“, sagte Florian. „Es fühlte sich gut an.“


    Kurz darauf leuchtete der Anhänger orange. Diesmal brachte er sie in eine Wohnung.

    Florian sah sich um, aber da waren keine alten Leute. Nur eine junge Frau.

    „Das muss ein Irrtum sein. Sie ist doch noch viel zu jung zum Sterben. Und so hübsch…“

    „Dürfen nur hässliche Leute sterben?“

    Florian errötete.

    „Der Tod sieht mehr als das Auge. Und diese junge Dame hat keine Wahl. Sie hat etwas Furchtbares getan, aber war nicht völlig bei Verstand, deshalb das orange Licht. Bei Vorsatz wäre es rot gewesen.“

    Jetzt sah Florian die toten Kinder.

    „Hat sie…?“

    „Ja. Die Kinder kommen direkt zur Wiedergeburt an einem guten Platz. Sie sind noch zu jung für eine Wahl. Aber ihre Mutter bringen wir ins Fegefeuer, wo sie bleibt, bis sie reif genug für eine neue Chance ist.“

    Als sie die sich wehrende Frau zum Fegefeuer brachten, verstand Florian endlich den Zusatz in der Stellenanzeige:

    „Sensenmänner und -frauen gesucht. In guten wie in schlechten Geleiten.“

  • Die kleinen Themen des Alltags

    von R. Bote


    Ich sitze am Schreibtisch, und aus Gründen, die mir nicht so schleierhaft sind, geht mir der alte Schlager nicht aus dem Kopf, den Opa immer gehört hat: „Ein weißes Blattl Papier liegt schon seit Stunden vor mir…“ Ersetze Papier durch einen leeren Texteditor, dann stimmt’s. Dass das nicht vom Himmel fällt mit dem eigenen Blog, das wusste ich schon, aber so schwer hab ich’s mir doch nicht vorgestellt. Ein Thema, ein Thema nur, das richtig was hermacht – das könnte schon mein Sprungbrett sein, wohin auch immer. Hauptsache weg von der Kasse beim Supermarkt um die Ecke! Aber mir fällt nichts ein.

    Vielleicht muss ich einfach mal den Kopf frei kriegen. Ich fahre den Laptop runter, greife mir im Rausgehen noch einen Müsliriegel und laufe los ohne ein echtes Ziel.

    Es ist Mittagszeit, ich hatte gehofft, ich hätte meinen ersten Reißer fertig, bis ich zur Spätschicht muss. Jetzt hoffe ich, mir fällt wenigstens noch ein, worüber ich schreiben könnte, schreiben muss ich’s dann morgen früh. Na gut, auf ein oder zwei Schichten mehr an der Kasse kommt’s nicht an, sagt zumindest die Vernunft.

    Von mir nicht bewusst gesteuert tragen die Füße mich am Supermarkt vorbei und weiter zu einem kleinen Platz, der von sich behauptet, das Zentrum des Stadtteils zu sein. Na ja, ziemlich hochgestapelt, eine Straßenecke, an der das Eckhaus fehlt, zwei Bäume, zwei Bänke, in einer Ecke Gummi- statt Steinplatten als letzte Zeugen eines nicht mehr vorhandenen Spielgeräts. Viel los ist nicht, auf einer der Bänke sitzt ein älterer Mann, neben sich eine Bierflasche. Ich sehe ihn öfter, wie er heißt und warum er so oft hier ist, weiß ich nicht. Kein Job, vermute ich, vielleicht Frührentner. Ob er sich auch was Besseres vorstellen könnte, als hier abzuhängen? Oder fühlt er sich wohl so, auf der Bank sitzen, sein Bier trinken und schauen, wer vorbeikommt? Vielleicht sollte man ihn das mal fragen bei Gelegenheit.

    An der Haltestelle vorne hält ein Bus. Schülereinsatzwagen, registriere ich beiläufig, er spuckt bestimmt ein gutes Dutzend Kinder und Jugendliche aus. Er fährt an, aber zehn Meter weiter steht er wieder, die Druckluftbremsen fauchen. Die vordere Tür geht auf, ein Mädchen – fünfte Klasse, höchstens sechste – kämpft sich nach draußen, verfolgt von einem unwilligen Blick des Fahrers. Dabei kann die Kleine bestimmt nichts dafür, dass sie nicht rechtzeitig rausgekommen ist, der Bus ist gestopft voll. Da könnten sie auch einen zweiten schicken, oder wenigstens einen Gelenkbus! Sollte man auch mal drauf aufmerksam machen bei Gelegenheit.

    Weiter vorne gabelt sich die Straße. Ein Kombi kommt mir aus dem rechten Zweig entgegen und rangiert mühsam um die Spitzkehre in den linken. Dann Vollbremsung, die alte Frau, die dort mit ihrem Rollator die Straße überquert, hat der Fahrer verflixt spät gesehen. Hier gehört echt ein Spiegel hin, da sollte man die Stadt mal drauf stoßen bei Gelegenheit.

    Mit solchen Gedanken komme ich nach Hause. Außer Spesen nichts gewesen! Da hätte ich gleich zu Hause bleiben und auf den Bildschirm starren können.

    „Was ist?“, fragt mich meine beste Freundin und Mitbewohnerin. Ich seufze und berichte von meinen Schwierigkeiten, ein Thema für mein Blog zu finden. Dass ich einen Spaziergang gemacht hab, weil ich gehofft hab, dabei käme mir eine Idee, dass mir aber nichts eingefallen ist.

    „Doch“, sagt sie. „Du hast einen ganzen Sack voll Ideen mitgebracht. Das ist doch das beste Thema überhaupt, und du hilfst allen damit: die kleinen Themen des Alltags!“

  • Hoch oben

    von Johanna


    Sie war dereinst fast umweltverträglich,

    Nur leider auch sehr lebensgefährlich.

    Kerosinfrei war sie schon,

    Gab´s doch nur Gas für den Ballon.


    Die Amis gaben her kein Helium,

    Aber hey, dann sei es eben drum.

    So gibt es eben Wasserstoff,

    Den kriegen wir, ganz ohne Zoff.


    Sie schwebte, nein, sie fuhr

    Über Ozeane, Wälder, Flur.

    Edel anzusehen und majestätisch schön,

    War sie der Stolz al´mannischer Nation


    Noch war die Welt, zwar nicht im Reinen,

    Doch fern des Weltenbrandes Weinen.


    Die schnöde Nummer LZ 129,

    Zur Querung des Atlantik.

    Ist Das Ereignis jener Zeit,

    Gefühltes Kommen in die Freiheit


    Bis 1937, an jenem Tag im Mai,

    Danach war´s plötzlich dann vorbei.


    Was war geschehen,

    Sie ward nicht mehr gesehen?


    Die Verspätung von 10 Stunden,

    Ewig lang Lakehurst umrunden,

    Dann auch noch ein starker Regen.

    Das kam dem Unglück sehr entgegen.


    Am Landemast kaum angekommen,

    Schon kleine Funken heftig glommen.


    Im Heckteil wütete ein Brand.

    Groß, wie eine Feuerwand,

    Fiel aus Trümmerteilen, so wie ein Regen

    Das Schiff dem Boden nun entgegen.


    Der Livereporter hoch entsetzt

    Vor seinen Augen, schonungslos und jetzt.


    Ein Brand, ein großer Knall,

    Das Luftschiff kommt zu Fall.

    Mit Tränen ruft er rein ins Mikrophon,

    Und schilderte uns die Explosion.


    Bombe, Anschlag oder Sabotage?

    Fragt so manche Reportage.

    Nur einfach nasse Halteleinen,

    Elmsfeuer? Wie es andere meinen?


    Wir wissen es bis heute nicht genau,

    Was verursacht´ wohl den Supergau.


    Nur schade ist’s auf jeden Fall, das Aus der Zeppeline

    Der in der Lüfte fliegenden Maschine

  • Zug um Zug

    von Inkslinger


    Der Verkehr rauscht an mir vorbei. Niemand bemerkt mich. Die Menschen in den Autos kümmern sich nur um ihren eigenen Kram.

    Geräuschvoll stoppen sie an der nächsten Kreuzung und lassen ungeduldig ihren Motor aufheulen. Anscheinend denken sie, dass ihr Hupen alles beschleunigt, und legen sich so richtig ins Zeug.

    Der Wind beißt in meine Wangen und ich vergrabe die Nase tiefer im Schal.

    Als das Alarmsignal ertönt, bleibe ich automatisch an der Linie auf dem Gehweg stehen. Die Schranken senken sich langsam.

    Wie jeden Morgen überlege ich, einfach mal kühn zu sein und weiterzugehen, während alle anderen stehenbleiben. Aber auch heute warte ich brav inmitten der Menschentraube, denn sonst würde ich ihn nicht sehen.


    Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt er auf seinem Fahrrad und hält sich lässig an der Metallabsperrung fest.

    Ich frage mich, wieso er nie absteigt.

    Findet er es uncool, sein Rad zu schieben? Oder hat er Angst, dass er es nicht rechtzeitig wieder auf den Sattel schafft?

    Als hätte er meine Gedanken gehört, hebt er plötzlich den Kopf.

    Das Herz schlägt mir bis zu den Haarwurzeln und ich habe Mühe, mein Frühstück bei mir zu behalten.

    Ertappt starre ich auf den Bürgersteig vor mir.


    Warum traue ich mich nie, ihn anzusprechen? Es wäre alles viel einfacher, wenn ich nicht so ein feiges Hühnchen wäre.

    Seit mehreren Monaten sehe ich ihn jeden Morgen. Beide warten wir hier darauf, dass der 6-Uhr-37-Zug vorbeifährt, nur sind wir in unterschiedlichen Richtungen unterwegs.

    Er trägt immer schwarz.

    Ob er traurig ist? Oder findet er sich zu fett? Ach, das ist doch Quatsch! Er ist einfach perfekt. Seine schönen dunklen Locken, die freundlichen Augen.

    Obwohl ich ihn noch nie lächeln gesehen habe, stelle ich mir auch seine Zähne makellos vor.

    Langsam hebe ich den Blick wieder.

    Oh man, er guckt immer noch rüber!

    Mit lautem Getöse rollt endlich der Zug an und blockiert ihm die Sicht.


    Ich komme etwas zu mir und erinnere mich daran, zu atmen.

    Wagon nach Wagon rast vorbei. Die Insassen sind nur Kleckse aus undefinierbarem Brei. Das anhaltende Ding-Dong der Warnanlage hallt durch meinen Kopf.

    Habe ich heute den Mut, mit ihm zu reden? Was, wenn es ihm unangenehm ist? Oder er nicht plaudern will? Er hat mich so grimmig angeschaut …


    Der ICE zieht vorbei und die Schranken heben sich im Schneckentempo.

    Gehe ich ihm entgegen oder drehe ich um?

    Er stößt sich von der Absperrung ab und fährt los.

    Ehe ich entscheiden kann, was ich tun soll, überquert er die Gleise.

    Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Er kommt auf mich zu und … lächelt.

    Erst jetzt sehe ich, dass er einen Zettel in der Hand hält.

    „Guten Morgen“, sagt er freundlich, bremst ab und gibt mir das Papier. Dann fährt er weiter, flüstert „Bis morgen“, und schon ist er weg.

    Verblüfft und mit zitternden Händen öffne ich die Nachricht.


    'Hallo, Mareike. Mama hat mir an meinem 16ten Geburtstag alles von die Adoption erzählt und Fotos von dir gezeigt. Wenn du mich kennenlernen möchtest, würde ich mich über eine Nachricht freuen. Gruß, dein Manuel.'

  • Nur durch Breumel s Hinweis bei der Leserunde "Auf Tiefe" habe ich diesen Thread gefunden... Ich glaube, mein "Fehler" bei Kurzgeschichten war bisher, dass ich sie zu schnell hintereinanderweg gelesen habe... Jetzt lese ich Eure Geschichten in kleinen "Dosen": jeden Tag eine - und ich komme so langsam auf den Geschmack...

    Die ersten beiden (Reihenfolge!) haben mir schon mal gut gefallen...