Natascha Wodin wurde 1945 in Deutschland als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter geboren. Ihre Mutter beging Selbstmord, als Natascha noch ein Kind war. Im vorliegenden Buch erzählt Wodin von ihrem Versuch, mehr über die Geschichte ihrer Familie, insbesondere der Mutter, herauszufinden – eine Nachforschung, die eher zufällig ihren Anstoß findet, als Wodin spontan den Namen ihrer Mutter in eine russische Suchmaschine eingibt.
Im ersten – und längsten – Teil des Buches begleitet man sie also bei der Spurensuche, und es ist durchaus interessant zu verfolgen, wie Schritt für Schritt neue Informationen ans Tageslicht kommen. Leider verliert Wodin sich dabei aber in Überlegungen und Theorien, die sie in Form von Fragen darlegt. Immer und immer wieder reihen sich Fragesätze aneinander, auch über ganze Absätze hinweg. Das spiegelt zwar sicherlich treffend das Gedankenkarussell der Autorin wider, ist beim Lesen aber doch sehr ermüdend – und verwässert zudem die bei der Suche gewonnenen Erkenntnisse, sodass es nicht leicht ist, den Überblick darüber zu behalten, was Fakt und was bloße Vermutung ist.
Im zweiten Teil verschwinden die Fragezeichen fast völlig; hier liegen gesicherte Informationen vor. Lidia, die Schwester von Wodins Mutter, hat ihre Lebenserinnerungen niedergeschrieben, und anhand dieser Aufzeichnungen kann Wodin die spannende Geschichte dieser Konterrevolutionärin genau nacherzählen. Das tut sie in einer angenehm sachlichen Sprache ohne Pathos, und für mich ist dieser Teil auch der stärkste Part des Buches.
Die letzten beiden Abschnitte beschäftigen sich schließlich tatsächlich mit dem Leben von Wodins Mutter: der Weg, auf dem es die Eltern nach Deutschland verschlagen hatte, wird nachgezeichnet, die Jahre bis zum Suizid der Mutter kann Wodin dann nach den eigenen Kindheitserinnerungen beschreiben.
Sauer aufgestoßen ist mir, dass der längst als überholt und diskriminierend geltende Begriff für Sinti und Roma verwendet wurde und die Autorin wiederholt Aussagen trifft, die man unter Bodyshaming einordnen muss. Gerade bei einem Buch, das sich u. a. mit der Ausgrenzung von Menschen beschäftigt, hätte ich mir mehr Empathie und Fingerspitzengefühl bei der Wahl von Beschreibungen gewünscht. Seltsame Vergleiche (was bitte ist eine „vegetarische Hautfarbe“?) und schiefe Formulierungen kommen gelegentlich auch vor.
Zweifellos ist es wichtig, dass Geschichten wie die von Wodins Familie für die Nachwelt erhalten bleiben, dass die Erinnerungen an die Gräueltaten, denen so viele Menschen im Zweiten Weltkrieg ausgesetzt waren, nicht verloren gehen. Die Umsetzung in ein Buch ist Wodin, mit Ausnahme des Lidia-Teils, meines Erachtens aber nicht gut gelungen; v. a. der erste Teil bläht den Bericht unnötig auf und lenkt vom Wesentlichen ab. Ich empfand die Lektüre über weite Strecken als zäh, fast schon nervig, und kann die vielen lobenden Worte in den Blurbs leider gar nicht nachvollziehen.
ASIN/ISBN: 3499290650 |