Babel von R.F. Kuang ist mit seinen 540 Seiten im Original (in der deutschen Übersetzung werden es 700 Seiten sein) schon optisch und haptisch ein Schwergewicht, genau das Richtige, um sich in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr in ein Buch zu verlieren. Babel spielt um 1830 herum in Oxford. Auf dem Universitätsgelände wurde ein Turm erbaut, in der unter anderem die Fakultät der Übersetzer untergebracht sind. Das magische System in dieser Fantasywelt basiert auf einer Art Kombination von Silberbaren und linguistischen „Zaubersprüchen“. Linguisten und Übersetzter, denn fremde Sprachen sind besonders mächtig, sind also quasi die Magier dieser Zeit und Oxford ist das Zentrum des Britischen Empires. Dieser silberne Wortzauber hält das ganze System am Laufen und sichert den Briten die Weltherrschaft.
Der Roman folgt, auktorial erzählt, vier dieser Studenten, fokussiert sich aber vor allem auf Robin Swift. Ein Name, den er sich selber gegeben hat. Auf den ersten Seiten wird er in seinem Elternhaus in Canton, China, seine Familie gerade komplett an Cholera verstorben, er selbst auch krank, von einem britischen Professor gerettet und nach England geradezu verschleppt. Das erste Mysterium des Roman ist die seltsame Verbindung zwischen dem Professor und Robin. Robin kann bereits Englisch als sie sich treffen. Irgendjemand hatte ihm ständig Bücher geschickt und dann hatte die Familie, eigentlich ärmlich, eine britische Haushälterin. In England genießt Robin dann unter dem Professor eine weitere, sehr strenge, Ausbildung, die ihn schließlich nach Oxford in den Babel-Turm führen wird, dort, wo auch der Professor lehrt. Dort wird er Freunde mit einem sehr ähnlichen Hintergrund treffen, vor allem Remy aus Indien.
Von der ersten Seite an hat mich der Roman gefangen genommen, weil er einfach nicht mit den richtigen Zutaten geizt: eine Waise, die die Literatur und die Wissenschaft für sich entdeckt, mit der sich ein klassischer Vielleser also gut identifizieren kann, das atmosphärische Setting, das akademische Umfeld, Freundschaften. Was kann man daran nicht lieben?
Ich rate aber jedem von diesem Roman ab, der ein Problem mit Politik in Fantasy-Romanen hat. Das ganze magische System in diesem Fantasy-Roman basiert auf Kolonialismus und Rassismus. Das Empire ist von diesem Brain-Drain aus kolonialisierten Ländern für den eigenen Machterhalt abhängig, und die Übersetzer-Studenten, die alle irgendwie einen Immigranten-Hintergrund haben, erfahren in Oxford Rassismus. Das hat mich erst einmal nicht gestört. Im Gegenteil ich fand diese Thematik sehr geschickt in diese Geschichte verwoben. Das Thema ist nicht aufgepfropft, der Roman würde ohne diese Thematik quasi überhaupt nicht existieren.
Auch der Stil und der Spannungsbogen sind möglicherweise nicht jedermanns Sache. Der Roman ist detailverliebt (manche könnten auch „infodumpy“ sagen), relativ langsam erzählt, ist auch akademisch in seiner Form (er hat Fußnoten) und es geht durchgehend um Sprache. Selbst in dramatischen Situation gibt es linguistische Abschweifungen. All das funktionierte für mich sehr gut, ich mochte diesen Stil, und ungefähr 350 Seiten ging das auch alles gut.
Tatsächlich genau dann als sich die Situation zuspitzt, etwa zu Beginn des letzten Drittels, die Handlung action-reicher wird, verliert der Roman zwischenzeitlich jede Finesse und auch die Detailverliebtheit, fast so als wären diese Seiten zu schnell geschrieben (und tatsächlich ist der Roman nur in einem Jahr geschrieben worden). Sprachliche Wiederholungen, hölzernere Dialoge. Das mag an der auktorialen Erzählweise liegen, Babel ist kein psychologischer Roman, aber es hat sich vor allem in diesen Passagen gezeigt, dass den Figurenzeichnungen doch ein wenig die psychologische Tiefe fehlt. Vor allem die Hauptfigur Robin verlor dort an Substanz, wirkt eher zweidimensional als dreidimensional in seinen Handlungen, Gedanken und Motivationen, aber auch die Nebenfiguren sind nur oberflächlich interessant und spannend.
Was ich interessant, aber fast erfrischend bei so einem Setup fand (vier Studenten und Studentinnen auf engsten Raum), ist die komplette Abwesenheit eines romantischen Subplots. Das stärkte aber auch irgendwie (ich vermute von der Autorin unbeabsichtigt), dass der Roman ein wenig einen Young Adult Touch hatte.
Die letzten hundert Seiten waren wieder stärker, das Setting und das World-Building dominieren wieder, und die Autorin treibt die Geschichte unglaublich spannend und schlüssig auf das ultimative Finale hin. Die politische Message inzwischen nicht mehr subtil im Hintergrund, sondern knallhart mit der Faust ins Gesicht.
Babel ist trotzdem aber sein sehr starker Roman, sehr originell und kreativ konzipiert, mit einer atmosphärischen Dichte, und über weite Strecken sehr, sehr gut lesbar. Es wird wohl tagesabhängig sein, wie viele Punkte ich für die Schwachen abziehen würde.
ASIN/ISBN: 0008501815 |
ASIN/ISBN: 3847901435 |