Der 21. Dezember von polli
Das Wunder des Schreibens
Den Beginn meiner diesjährigen Weihnachtsgeschichte diktiere ich. Das ist nichts Besonderes — oder doch? Meine allerersten Geschichten habe ich mit dem Schulfüller in ein Heft geschrieben. Ich erinnere mich, dass ich als Kind fasziniert davon war, dass man flüchtige Gedanken mit Buchstaben festhalten konnte, so dass sie sich immer wieder nachlesen ließen. Ein Wunder.
Heute, Jahrzehnte später, diktiere ich meine Gedanken meinem Schreibprogramm, das sich auf meinem Tablet befindet. Ich schweife erneut ab: Ist es nicht wunderbar, dass ein Programm die Regeln der von Menschen gemachten Rechtschreibung so gut beherrscht, dass ich kaum ein Wort nachbessern muss?
Der Gipfel des Fortschritts wäre es, wenn sich meine Weihnachtsgeschichte von allein, also ohne mein Zutun schreiben ließe.
„Das gibt es längst“, sagt Mimo, der mir eine Tasse mit heißem Zimt-Pflaume-Tee auf den Schreibtisch stellt und einen Blick auf meinen Bildschirm wirft.
„Glaube ich nicht“, entgegne ich und korrigiere das Wort „entgegnete“, das das Schreibprogramm eigenmächtig in die Vergangenheitsform umgewandelt hat, obwohl ich das so nicht diktiert habe. Ich unterdrücke ein leichtes Schwindelgefühl: Wie kann man zeitgleich eine Geschichte schreiben und darüber eine Geschichte schreiben?
Mimo unterbricht mich. „Künstliche Intelligenz“, sagt er. Ich schüttle den Kopf, während ich die Worte „Anführungsstriche oben“ lösche und durch echte Anführungszeichen ersetze. „Du siehst doch, wie begrenzt allein schon dieses Programm ist. Zwar ist es ein Wunder, dass es überhaupt funktioniert, aber zwischendurch treten höchst seltsame Fehler auf.“
„Moment“, unterbricht er mich erneut und nimmt mein Tablet. Er loggt sich auf einer Seite ein, die ich nicht kenne, und zeigt auf ein schmales Eingabefeld. „Schreib hier hinein, welche Frage oder welchen Auftrag du an die Künstliche Intelligenz hast. Du kannst mit ihr in deutscher Sprache reden, also schreiben, als wäre sie ein echtes Gegenüber. Probier es aus!“
„Das klappt eh nicht! Na gut, vielleicht etwas Kurzes, ein Gedicht.“
Ich überlege, dann tippe ich eine Aufgabenstellung ein.
Schreibe ein kurzes Weihnachtsgedicht mit einem Tannenbaum und Eulen und einer überraschenden Wendung.
Mimo nickt. „Das ist leicht, warte ab.“
Während ich noch nach einer schlagfertigen Entgegnung suche, schreibt die Künstliche Intelligenz Buchstabe für Buchstabe die folgenden Zeilen:
Tief im Wald ein Tannenbaum
Steht ganz still und stolz.
Eulen schauen neugierig
Von ihren dunklen Höhlen aus.
Doch plötzlich, überraschend,
Kommt Bewegung in den Wald.
Die Eulen flattern aufgeregt,
Der Tannenbaum beginnt zu strahlen.
Denn es ist Weihnachtszeit,
die Zeit der Freude und des Lichts.
Der Tannenbaum erstrahlt nun
In funkelnden, glänzenden Farben.
Die Eulen singen fröhlich,
Ein Fest der Liebe und des Friedens.
In dieser Nacht, so still und klar,
Ist alles möglich, alles wahr.
Mimo lacht, als er mein überraschtes Gesicht sieht. „Habe ich es nicht gesagt? So geht KI heutzutage. Überleg mal, wie das unsere Arbeit revolutionieren wird!“
„Und die Hausaufgaben, mein Lieber. Kein Jugendlicher schreibt mehr eigene Aufsätze oder Gedichte, jeder bedient dieses Maschinchen für seine Zwecke. Bei jeder handgeschriebenen, altmodischen Weihnachtskarte werde ich mich fragen, ob die Zeilen von Herzen kommen oder von dem Ding da formuliert wurden. Mir zieht es gerade den Boden unter den Füßen weg.“
„Das ist doch bei allem Geschriebenen so. Woher wissen Leser, was echt ist und was ausgedacht?“
Ich trinke einen Schluck Tee. „Wenn sie das nicht wissen, sollten wir es ihnen mitteilen. Diese Tasse hier ist echt. Ich bin echt, du bist echt, nur die Seite mit der Künstlichen Intelligenz ist ausgedacht und natürlich ist das Weihnachtsgedicht mit den Eulen von mir selbst. Übrigens, Mimo, meine Geschichte ist gerade fertig geworden, ich ergänze nur eben ein paar Wörter.“
Frohe Weihnacht, liebe Eulen!
PS
Nein, so wie in der Geschichte ist es nicht gewesen. Mimo ist nicht echt, sondern der Name einer App auf meinem Tablet, mit der sich die Programmiersprache Python erlernen lässt. Und die Seite, auf der man mit der Künstlichen Intelligenz in Kontakt treten kann und sich ein Weihnachtsgedicht wünschen darf? Die ist genauso echt, wie ich es bin. Oder?