Der 1. Dezember von Breumel
Der letzte Weihnachtsbaum
Es war Heiligabend, kurz von Ladenschluss. Grauer Himmel, leichter Schneeregen und die dürftige Adventsbeleuchtung ließen keine rechte Weihnachtsstimmung aufkommen. Gelangweilt lehnte der Christbaumverkäufer an seiner Umzäunung.
"Entschuldigung, haben Sie noch einen kleinen Baum?" erklang es da plötzlich zweistimmig. Verwirrt drehte er sich um. Eine junge Frau, vielleicht Mitte 20, und ein kaum älterer Mann blickten ihn erwartungsvoll an.
"Äh - Moment, da muss ich erst schauen." Er lief in die hintere Ecke seines Standes und kam mit einem etwas mickrig aussehenden, etwa 1,10m hohen Tannenbaum zurück.
"Das ist der letzte. Aber große Bäume hätte ich noch mehr, auch dichtere."
"Ich nehme ihn!" Wieder riefen beide gleichzeitig. Dann funkelten sie sich an. Dem Verkäufer wurde schlagartig bewusst, dass es sich bei ihnen nicht um ein Paar handelte. Nein, sie waren eher so etwas wie Konkurrenz.
"Ich brauche diesen Baum! Einen größeren bekomme ich nicht in mein Wohnzimmer!", erklärte die Frau.
"Ich auch nicht! Ich habe einfach nicht mehr Platz!" Auch der junge Mann wollte den Baum.
"Einen größeren bekomme ich gar nicht in mein Auto!"
"Und? Ich bin mit dem Fahrrad hier. Auf den Anhänger passt nur so ein kleiner Baum."
"Können sie nicht woanders einen holen? Ich habe es eilig."
"Mit ihrem Auto können sie das viel besser. Und die Stände schließen jetzt alle."
"Meine Mutter wird todtraurig sein, wenn ich keinen Baum habe. Wir feiern dieses Jahr bei mir."
"Meine Nichten und Neffen werden genauso enttäuscht sein, wenn sie zu mir kommen und die Geschenke nicht unterm Baum liegen."
"Meine Mutter ist schon 80 – wer weiß, wie viele Weihnachten wir noch zusammen feiern können!"
"Meine Verwandtschaft kommt extra aus Hamburg angereist!"
"Werfen sie doch eine Münze.", mischte sich der Verkäufer ein. "Sie waren ja gleichzeitig hier, da hat jeder das gleiche Recht auf den Baum."
Man sah den Streithähnen an, dass ihnen der Vorschlag nicht gefiel, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Eine Einigung war jedenfalls nicht in Sicht.
"Kopf", rief die Frau.
"Dann hab ich wohl Zahl."
Der Händler nahm eine Münze aus der Kasse, warf sie in die Luft und schlug sie auf seinen Handrücken.
Als er die Hand herunternahm, lag Kopf oben. Befriedigt nahm die Frau den Baum entgegen, ließ ihn in ein Netz einwickeln, zahlte und zog mit ihrer Beute von dannen.
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Um 19 Uhr klingelte die Türglocke des kleinen Chinaimbiss. Der Koch sah auf und strahlte den Stammkunden an.
"Frohe Weihnachten! Ich hatte telefonisch bestellt."
"Wan Tan Suppe, Saté-Spieße mit gebratenem Reis und gebackene Banane mit Honig, richtig? Ist sofort fertig!"
Der Kunde nickte und trat neben die junge Frau, die gerade zahlte.
"Und bei ihnen Mini-Frühlingsröllchen, gebratene Nudeln mit Garnelen und gebackene Ananas. Das macht dann 18,90€."
"Stimmt so", sagte sie und reichte einen 20€ Schein über die Theke, während sie ihre Bestellung in Empfang nahm.
Als sie sich umdrehte, stockte sie. Und auch der junge Mann zuckte zusammen und starrte sie an.
Mit sarkastischem Unterton sagte er: "Das sieht aber nicht nach Festessen mit Mutti unter dem Weihnachtsbaum aus!"
"Und? Ihre Bestellung klingt auch nicht nach Familienfeier!"
Sie funkelten sich noch einen Moment an, dann wurden beide rot.
Stockend sagte die junge Frau: "Es tut mir leid, aber… Dieses Jahr ist mein erstes Weihnachtsfest ohne Familie. Ich habe sonst mit meiner Schwester gefeiert, aber die ist mit ihrem Freund nach Ägypten geflogen. Und meine Eltern leben nicht mehr. Da wollte ich wenigstens einen Weihnachtsbaum haben."
Auch der junge Mann wirkte verlegen. "Ich war auch nicht ehrlich. Meine Verwandtschaft lebt in Hamburg, und weil ich morgen arbeiten muss, kann ich nicht hinfahren. Die kinderlosen Singles müssen immer die Feiertagsschichten übernehmen. Ich dachte, mit einem Weihnachtsbaum wäre es nicht ganz so trostlos…"
Betretenes Schweigen. Dann wurde die junge Frau noch ein weniger röter.
"Einen Weihnachtsbaum habe ich ja jetzt… Hätten sie vielleicht Lust, ihr Festtagsmenu bei mir zu essen und gemeinsam einen Weihnachtsfilm zu schauen?"
Er strahlte sie an. "Meinen sie das ernst?" Sie nickte. "Das klingt wirklich super nett! Wenn es keine Umstände macht? Ich bin übrigens Sebastian."
"Und ich bin Hannah. Umstände macht es nicht – ich muss ja nicht kochen…"
Jetzt lachten beide. Und auf einmal fühlte es sich doch wie Weihnachten an.
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Wenn jemand in den folgenden Jahren fragte, warum es bei Hannah und Sebastian an Heiligabend immer Chinesisch gab, oder warum sie nur so einen kleinen Weihnachtsbaum hatten, erzählten sie ihm diese Geschichte.
Frohe Weihnachten!