Schreibwettbewerb 01.12.2022 - 31.01.2023 Thema: "Übernatürlich/Paranormal"

  • Thema 01.12.2022 - 31.01.2023:


    "Übernatürlich/Paranormal"


    Vom 01.12.2022 bis 31.01.2023 23:59 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den aktuellen Schreibwettbewerb zum Thema „Übernatürlich/Paranormal“ per PN (Sprechblasensymbol, „Konversationen“) zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 01.02.2023 eingestellt.


    Wer mitschreiben möchte, sendet bitte eine PN an den Account SchreibwettbewerbOrg. Wir schicken euch dann die Zugangsdaten für den Account Schreibwettbewerb. Das Passwort bitte vertraulich behandeln! Ihr meldet euch als Schreibwettbewerb an und sendet euren Beitrag an SchreibwettbewerbOrg. Dadurch sind alle Beiträge anonym. Nach der Veröffentlichung (nach dem 31.01.2023) sendet bitte eine zweite PN mit dem Titel eures Beitrags und eurem Namen an SchreibwettbewerbOrg, damit wir die Beiträge zuordnen können. Das Orga-Team wird erst nach der eigenen Punktevergabe in diese Beiträge schauen.


    Regeln:

    - Die Grenze für die Beiträge ist bei 600 Wörtern.

    - Abgabeschluss ist um Mitternacht.

    - Mitschreiben darf, wer mindestens 50 buchrelevante Beiträge hat oder seit mehr als 6 Monaten Mitglied ist.

    - Abstimmen darf, wer mindestens 25 buchrelevante Beiträge hat oder seit mehr als 3 Monaten Mitglied ist.

    - Als Thema vorgegeben werden kann ein Wort, ein Satz oder ein (selbstgeknipstes/gezeichnetes) Bild (ihr müsst das Urheberrecht haben).


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 600 Wörter zu verwenden. Wir behalten uns vor, Beiträge mit mehr als 600 Wörtern nicht zum Wettbewerb zuzulassen!

  • Ein Menschenleben

    von Inkslinger


    Manchmal kotzt es mich echt an, ein Mensch zu sein.

    Besonders, wenn ich wie heute nach einem langen Tag im Büro im Stau stehe. 74 Minuten und kein Ende in Sicht.

    Das Meer fehlt mir. Dort hatte ich immer freie Bahn, egal, in welche Himmelsrichtung ich unterwegs war. Ich konnte mir die Sonne auf den Pelz scheinen und mich einfach treiben lassen.

    Bei den Menschen ist alles anstrengend. Laufen, Arbeiten, Autofahren. Sogar aus dem Essen machen sie ein Riesenthema. Früher habe ich das gegessen, was mir vor die Nase geschwommen ist. Direkt, ohne über Zubereitung nachzudenken. Um heute ohne Aufsehen rohen Fisch zu verspeisen, muss ich erst ein passendes Sushi-Restaurant finden. Und ein Label habe ich auch aufgedrückt bekommen: Pescetarier. Seltsames Völkchen.

    Die Blechlawine rollt mühsam voran. 147 Minuten für 40 Kilometer. Egal. Hauptsache, zu Hause. Schnell den Tag abwaschen und die Forelle verputzen. Dank Netflix ist mein Meerweh bald vergessen.


    Ein paar Stunden später wache ich auf. Nacken und Chipskrümel knacken um die Wette, als ich mich aufrichte und verpeilt auf die Uhr schaue. Mist, schon halb fünf. Zu früh zum Aufstehen, zum Bettgehen zu spät. Grummelnd stapfe in die Küche.

    Gerade, als ich eine Kanne Tee aufsetze, höre ich ein leises, doch erschütterndes Geräusch.

    Ich gehe ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher aus. Da ist es wieder, ein Weinen. Diesmal noch verzweifelter. Ich laufe die Wohnung ab und lausche. Es scheint direkt von Mrs Brown nebenan zu kommen.

    Mir wird das Herz schwer. Die arme Frau ist ganz alleine, seit ihr Mann vor acht Jahren gestorben ist.

    Soll ich zu ihr rübergehen und nach ihr sehen? Aber kann ich um diese Uhrzeit einfach so bei Fremden klingeln?

    Ich schnapp mir meine Schlüssel und flitze auf Zehenspitzen zu der Tür gegenüber. Um die anderen Hausbewohner nicht zu wecken, klopfe ich, anstatt zu klingeln. Wenn Mrs Brown wach ist und Gesellschaft möchte, wird sie mir öffnen. Doch sie antwortet nicht.

    Mein zweiter Versuch läuft ebenfalls ins Leere. Also schleiche ich zurück in meine Wohnung und starte in den Tag.

    Wie jeden Morgen nehme ich mir Zeit, meinen kostbarsten Besitz zu betrachten. Ich streiche über das silbergraue Fell und denke wehmütig an meine salzige Heimat. Trotzdem entscheide ich mich auch heute wieder dafür, ein Mensch zu sein. Das Meer bedeutet Freiheit und Freude – aber auch Einsamkeit. Die meisten meiner Art haben das Wasser längst verlassen. Nicht nur Menschen brauchen Gesellschaft, wir Selkies genauso.


    Das Geräusch von letzter Nacht lässt mich nicht los, deswegen klingle ich nach der Arbeit als Erstes bei meiner Nachbarin, die mir freudig die Tür öffnet.

    »Oh, hallo, Miss Carson. Was kann ich für Sie tun?«

    »Das wollte ich Sie fragen. Geht es Ihnen gut?«

    Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Wieso fragen Sie?«

    »Ich habe Sie gestern Nacht weinen gehört und möchte Ihnen helfen.«

    »Das ist lieb, mein Kind, doch das war ich nicht. Ich bin erst heute Vormittag aus Oxford zurückgekommen.«

    »Oh, da bin ich erleichtert.«

    Seltsam. Ich war mir so sicher. Aber wo kam das Weinen dann her?


    In der Nacht wache ich wieder auf. Die gleiche Zeit, dasselbe Geräusch: herzzerreißendes Wimmern.

    Ich schaue aus dem Fenster, und da sehe ich sie. Eine alte Frau mit langen grauen Haaren und einem weißen Kleid. Sie steht im Hof und starrt mich direkt an. Tränen laufen ihr über das runzlige Gesicht. Obwohl ihr Mund geschlossen ist, kann ich sie schluchzen hören.

    Der Todesgesang der Banshee.

    Ich muss meine Familie warnen.

    Benommen gehe ich zum Schrank und ziehe mir mein Fell an.

    Wir können ihr nicht entkommen, aber wir werden ein letztes Mal zusammen Meer sein.

  • Lebenslauf

    von R. Bote


    „Bitte!“ Theodora hielt der Bewerberin die Tür auf und deutete auf den Stuhl rechts am Tisch. Links saß bereits ihre Chefin, Hanka. Sie hatte vor sich auf dem Tisch ein Tablet liegen, darauf griffbereit die Bewerbungsunterlagen. „Guten Tag, Frau Lohauer“, begrüßte sie die junge Frau, die sich um eine Stelle im Vertrieb beworben hatte.

    Weil Hanka das Gespräch führte, hatte Theodora Zeit, die Bewerberin zu beobachten. Das war kein Zufall, die Arbeitsteilung hatte sich schon bei einigen Bewerbungsgesprächen bewährt und bis jetzt selten zu Entscheidungen geführt, die im Nachhinein betrachtet doch nicht so gut gewesen waren.

    „Was meinst du?“, fragte Hanka, nachdem sie die Bewerberin verabschiedet hatte. „Ich finde, sie macht einen guten Eindruck.“ Theodora wiegte den Kopf. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, behauptete sie. „Lass mich eine Nacht drüber schlafen, okay?“

    Hanka wunderte sich, war aber einverstanden. „Ich mach dann auch gleich Feierabend“, kündigte Theodora an. „Dann kann ich noch eine schön große Runde mit dem Hund machen, am Wochenende konnte man ja kaum raus vor lauter Regen.“

    Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, aber statt der Statistiken, die sie zeitnah prüfen musste, rief sie sich die Unterlagen der gerade verabschiedeten Bewerberin auf. Emily Lohauer, geboren am 14. August 1999 in… Wenn Theodora sich nicht völlig irrte, dann war Emily nah an der Wahrheit geblieben, aber eben nur nah dran.

    Doch das konnte sie nicht vom Büro aus prüfen. Weder würde sie die Informationen, die sie benötigte, im Internet finden, noch durfte sie riskieren, dass bei einer Routineprüfung jemand auf die Recherche stieß. Deshalb machte sie wie angekündigt zeitig Feierabend, fuhr nach Hause und holte dort einen bestimmten Ordner aus dem Regal. Einen Ordner, von dem sie gehofft hatte, dass sie ihn nie wieder brauchen würde.

    Sie wusste, wo sie zu suchen hatte, und nach wenigen Augenblicken hielt sie das Foto in den Händen. Sie wirkte anders auf dem Bild, mit dem langen Kleid und der Frisur, wie sie damals üblich gewesen war, aber ohne jeden Zweifel: Sie war es. Theodora biss sich auf die Lippen – das hätte nie passieren dürfen! Ein Fehler, der ihr vor Jahren unterlaufen war, vor wie vielen, war Ansichtssache. Sie würde ihn korrigieren müssen, auch wenn es wehtat.

    Wehmütig betrachtete sie das Bild. Emilie, 17 musste sie damals gewesen sein, und neben ihr ihr Vater, Theordoras Onkel. Ein netter Mann, und ein begnadeter Erfinder noch dazu, aber auch ein überzeugter Royalist. Es war sicherlich nicht schwer gewesen, ihn von seiner Mission zu überzeugen: ein Gerät, das es möglich machte, zukünftige Feinde der Monarchie zu finden, ehe sie sich ihrer Haltung bewusst wurden. Ob er begriffen hatte, dass er nur ein Werkzeug gewesen war, und dass die „frühzeitige Erziehung“ mit Klinge und Hanfseil vollzogen worden wäre?

    Theodora hatte gewusst, was passieren würde, würde der König – oder jemand, der selbst den Thron besteigen wollte – dieses Werkzeug in die Hände bekommen. Sie hatte keine Wahl gehabt, egal, wie hoch der Preis dafür gewesen war. Alles, was ihr jemals etwas bedeutet hatte, hatte sie dafür aufgegeben, selbst ihre Zeit. Nichts als verbrannte Erde hatte sie hinterlassen im ausgehenden 19. Jahrhundert, zumindest hatte sie das gedacht. Aber sie hatte etwas – jemanden – übersehen. Würde sie deswegen noch einmal das üble Handwerk üben müssen? Morden im 21. Jahrhundert war gefährlich, es war fast unmöglich, all die Spuren zu verwischen, die die Ermittler inzwischen auswerten konnten. Auf der anderen Seite – musste es überhaupt einen Fall geben? Immerhin hatte Emilie eine Lücke von 130 Jahren im Lebenslauf, wer sollte sie vermisst melden?

  • Séance

    von Marlowe


    William lernte ich während meiner Zeit beim Radio kennen. Er hatte die Studios eingerichtet, war nun für die Technik verantwortlich und ich arbeitete als freiberuflicher Moderator, Texter und Produzent von Rundfunkspots.


    Er brachte mir den richtigen Umgang mit der vorhandenen Technik bei. Natürlich unterhält man sich dann auch privat und so erzählte ich ihm, dass Brigitte, meine Lebensgefährtin, eine begeisterte Tarotkartenlegerin war, mit der gleichen Begeisterung aber auch Kartenlegerinnen besuchte und dafür gerne auch mein Geld ausgab.


    Erst so erfuhr ich von ihm, dass er ein Verwandter und Nachkomme von Aleister Crowley, dem wohl bekanntesten Okkultisten und Erfinder der Thot-Tarotkarten war. Brigitte besaß diese Karten ebenfalls und bei den vielen Kartenlegerinnen, die wir gemeinsam besuchten, nutzten fast alle dieses Kartendeck.


    William war ebenfalls ein begabtes Medium und veranstaltete öfter in seiner Kellerbar Séancen, bevorzugt mit dem dreibeinigen Tischchen. Kein Wunder, dass Brigitte vor Freude fast ausflippte, als er uns für eine dieser Séancen einlud.


    Ich machte mich nie wirklich lustig über diese Begeisterung für das Übersinnliche, aber es bedeutete mir eigentlich auch nichts. Als wir in den Kellerraum kamen, saßen dort schon fünf Personen um einen runden Tisch. William und seine Frau, dann eine Apothekerin mit ihrem Mann und ein älterer Herr, ein Lehrer aus der Nachbarschaft. Nach der kurzen Vorstellung setzten wir uns dazu. Auf dem runden Tisch waren akkurat weiße Papierbahnen gelegt und mit Klebestreifen fixiert, ich schätzte ungefähr zehn Lagen Papier übereinander. Auf dem Papier stand ein kleines dreibeiniges Tischchen, in einem der hohlen Beine steckte ein Bleistift. Ein paar Kerzen brannten und es duftete nach Weihrauch. Okay, es konnte losgehen.


    Wir berührten alle das Tischchen mit einem oder zwei Fingern der rechten Hand, konzentrierten uns und William fragte: „Ist ein Geist anwesend?“ Die Kerzenflammen begannen zu zittern, das Tischchen sauste plötzlich los, direkt auf mich zu und es entstand ein Pfeil, dann das Wort “weg“. Absolute Stille umgab uns.


    Ich hatte überhaupt nichts gemacht, also fand ich das gar nicht lustig, denn sechs Augenpaare schauten mich vorwurfsvoll an. Bevor ich was sagen konnte forderte William mich auf, den Kreis zu verlassen und mich an die Bar in zwei Metern Abstand zu setzen.

    Auf dem Barhocker höher sitzend, hatte ich einen guten Blick auf den runden Tisch.


    William fragte: „Warum musste er weg?“

    Der Geist schrieb: Er stört.

    William: „Wieso stört er?“

    Geist: Seine Gedanken übertönen alles.

    William: „Unsere Gedanken nicht?“

    Geist: Nein

    William: „Wie kann das sein?“

    Geist: Er ist anders.

    William: „Wieso ist er anders?

    Geist: Er ist einer von uns!


    Während dieses “Dialogs“ schweiften meine Gedanken in mein Innerstes Ich. Bei “einer von uns“ tauchten aus dem Keller meiner Seele längst vergessene Bilder im Nanosekundentakt auf.

    Kampf im Mutterleib, die Nabelschnur dreifach um den Hals gewickelt, grellweißes Licht, Stimmen, ein Ruck, ein Schrei, der Monate dauerte.

    Erste außerkörperliche Reise mit fünfzehn, Freiheit des Geistes, hoch, immer höher, grellweißes Licht, Stimmen.

    Jahre später vom Lastwagen gerammt, gegen einen Baum geknallt, zwanzig Meter durch die Luft geflogen, grellweißes Licht, Stimmen. Viel später Suizid und noch vieles mehr und immer die Stimmen im grellweißen Licht. Mit dem Geist im Anderssein, mit den Füßen auf der Erde.


    William sah mich an. „Was heißt das, Du bist einer von denen?“


    Ich zuckte mit den Schultern. „Frag den Geist im Tischbein. Der weiß es bestimmt.“


    Es gibt gute Geister, böse Geister, doch dieser hier hatte Angst, das habe ich gespürt. Aber wieso vor mir? Egal.


    „Macht mal alleine weiter, ich geh nach oben eine rauchen“ murmelte ich und verließ die Runde. Brigitte war auf dem Heimweg irgendwie beleidigt, sie ahnte wohl schon, dass wir nie wieder eingeladen wurden.

  • Vincent

    von Breumel


    "Mama, können wir Vincent nicht adoptieren?"

    Verblüfft sah Ines ihre fünfjährige Tochter an. "Wer ist denn Vincent?"

    "Mein Freund!"

    "Aber der hat doch bestimmt auch Eltern, die ihn liebhaben. Den können wir doch nicht einfach adoptieren!"

    "Seine Mama und sein Papa sind schon lange tot."

    "Das ist wirklich traurig. Aber er hat doch bestimmt jemanden, der sich um ihn kümmert."

    "Nein, er ist ganz allein. Ich bin seine einzige Freundin."

    "Wirklich? Gibt es denn keine anderen Kinder wo er wohnt?"

    "Aber Mama, hier wohne doch nur ich!"

    "Wie meinst du das?"

    "Na, Vincent wohnt hier, und ich wohne hier. Aber sonst wohnen hier keine Kinder. Das weißt du doch!"

    Eine kurze Gänsehaut fuhr Ines über den Rücken.

    "Vincent wohnt hier?"

    "Ja. Bei mir. Deshalb könnten wir ihn doch auch adoptieren." Maja strahlte sie an.

    "Wo wohnt Vincent denn hier?"

    "In meinem Zimmer natürlich."

    "Und wo ist er jetzt?"

    "Er ist gerade nicht da."

    "Wann kommt er denn wieder?"

    "Wenn ich schlafen gehe. Dann ist er immer da und hört mit mir die Gute Nacht Geschichte."

    Ines atmete auf. Vincent musste so etwas wie ein imaginärer Freund sein.

    "Da muss ich erst mit Papa drüber reden. Ich kann ja nicht einfach so ein Kind adoptieren. Vincent ist doch noch ein Kind?"

    "Klar ist er das, er spielt doch auch mit mir! Obwohl er ganz schön alt ist."

    "Wie alt ist er denn?"

    "Ich weiß es nicht genau. Soweit kann ich nicht zählen… Aber er hat schon hier gewohnt, bevor wir hier gewohnt haben. Und vor den Leuten vor uns auch."

    "Und er ist trotzdem ein Kind?"

    "Ja. Er ist genauso groß wie ich."

    Ines wusste nicht genau, wie sie damit umgehen sollte, aber vermutlich sollte sie es einfach akzeptieren. Sie könnte ja später in einem der Erziehungsratgeber nachschlagen, die sie irgendwann zu Beginn der Elternzeit gekauft hatte.

    "Was macht ihr denn so zusammen?"

    "Heute haben wir gemalt!" Freudig streckte Maja ihre Hände in die Höhe, auf denen Spuren von Farbstiften zu sehen waren.

    "Wie wäre es, wenn Vincent und du jetzt Hände waschen und wir decken den Tisch. Papa kommt gleich, und dann gibt es Abendessen."

    "Okay."


    Als Daniel nach Hause kam, erzählte ihm Ines von Majas imaginärem Spielkameraden. Neugierig sprach er sie nach dem Essen an: "Mäuschen, ich habe gehört du hast einen neuen Freund?"

    "Meinst du Vincent? Er ist nicht neu."

    "Wie lange kennst du ihn denn schon?"

    "Seit wir hier eingezogen sind."

    "Und wo hast du ihn kennengelernt?"

    "Er hat in meinem Zimmer gesessen und darauf gewartet, dass jemand mit ihm spielt."

    "Und geht er auch in den Kindergarten?"

    "Nein. Er muss immer hier im Haus bleiben."

    "Aber warum das denn?"

    "Weil er hier auf seine Familie wartet."

    "Hast du Mama nicht erzählt, dass seine Eltern gestorben sind?"

    "Ja. Aber er wartet darauf, dass sie ihn holen."

    Daniel fröstelte unwillkürlich. Was war das für eine Geistergeschichte, die Maja sich da ausgedacht hatte? Hatte sie versehentlich etwas falsches im Fernsehen gesehen?

    "So mein Schatz, ich glaube, es ist Zeit fürs Sandmännchen."

    Freudig stürmte Maja aufs Sofa, während ihr Vater das Programm einstellte.


    Nach dem Zähneputzen ging Ines an Majas Bett. Heute war sie dran mit Vorlesen. Dabei fielen ihr die Zeichnungen auf, die im Zimmer verstreut lagen. Liebevoll betrachtete sie jedes Bild. Auf einem hatte Maja sich selbst gemalt und mit Krakelschrift "MAJA" darunter geschrieben. Das nächste zeigte ihre Familie – Mama, Papa, Maja, und daneben stand ein blonder Junge. Dann sah sie es. Die Bilder fielen ihr aus der Hand. Zwischen all den Kindergartenzeichnungen lag ein sorgfältig gemaltes Portrait eines blonden Jungen, unter dem in Sütterlinschrift "Vincent" stand…