Cormac McCarthy, Stella Maris.

  • ASIN/ISBN: 3839871417


    Klappentext:

    Sechzehn Jahre nach seinem Weltbestseller Die Straße kehrt Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy zurück mit seinem zweibändigen Meisterwerk. Der Passagier und Stella Maris: Zwei Romane ohne Vorbild. Die Wahrheit des einen negiert die des anderen.

    1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western, zwanzig Jahre alt, lässt sich mit vierzigtausend Dollar in einer Plastiktüte und einem manifesten Todeswunsch in die Psychiatrie einweisen. Die Diagnose der genialen jungen Mathematikerin und virtuosen Violinistin: paranoide Schizophrenie. Über ihren Bruder Bobby spricht sie nicht. Stattdessen denkt sie über Wahnsinn nach, über das menschliche Beharren auf einer gemeinsamen Welterfahrung, über ihre Kindheit, in der ihre Großmutter um sie fürchtete – oder sie fürchtete? Alicias Denken kreist um die Schnittstellen zwischen Physik, Philosophie, Kunst, um das Wesen der Sprache. Und sie ringt mit ihren selbstgerufenen Geistern, grotesken Chimären, die nur sie sehen und hören kann. Die Protokolle der Gespräche mit ihrem Psychiater zeigen ein Genie, das an der Unüberwindbarkeit der Erkenntnisgrenzen wahnsinnig wird, weder im Reich des Spirituellen noch in einer unmöglichen Liebe Erlösung findet und unsere Vorstellungen von Gott, Wahrheit und Existenz radikal infrage stellt.


    Zum Übersetzer (Quelle: wikipedia, gekürzt)

    Van Gunsteren wuchs in Duisburg auf; seine Mutter ist Deutsche, sein Vater war ein niederländischer Reeder. Nach mehreren Aufenthalten in Indien und in den USA studierte er in München Amerikanistik. Seit 1984 ist er als Übersetzer insbesondere aus dem Englischen tätig. Van Gunsteren lebt in München.

    2007 erhielt er den H.-M. Ledig-Rowohlt-Preis für seine Übersetzung angelsächsischer Literatur, und im Jahr 2021 wurden sein Kollege Nikolaus Stingl und er für die Übersetzung von John Passos-Romanen für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.


    Zum Sprecher (Quelle: Verlag, gekürzt)

    Christian Brückner, geboren 1943 in Schlesien, wuchs in Köln auf. Engagements am Theater, kontinuierliche Arbeit für Funk und Fernsehen. 1990 erhielt er den Grimme-Preis Spezial in Gold. Schwerpunkt seiner Arbeit heute: öffentliche Literaturlesungen. 2000 Gründung des Hörbuchverlags parlando mit seiner Frau Waltraut. 2005 Auszeichnung des gesamten Programms mit dem Deutschen Hörbuchpreis. 2012 wurde Christian Brückner der Sonderpreis für sein Lebenswerk verliehen, 2017 erhielt er den Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik und 2018 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.


    Mein Hör-Eindruck:

    „Stella Maris“ – als christlich sozialisierter Leser verbindet man mit diesem Begriff sofort die Gottesmutter Maria, deren Beiname „Stella Maris“, Meerstern, auf ihre Rolle als Schutzherrin der Seeleute und Fischer hinweist und, im übertragenen Sinn, auch auf ihren Schutz für jeden Menschen, der auf dem Meer des Lebens unterwegs ist.

    Hier heißt das psychiatrische Krankenhaus „Stella Maris“, und der Leser muss selber entscheiden, welche Bedeutung der Name im Roman hat…

    Eine junge Frau, Alicia, eine geniale Mathematikerin und Musikerin, weist sich selber in die Psychiatrie ein und führt sieben diagnostische Gespräche mit einem Psychiater. Es ist verlockend, über die Sonderstellung der Zahl 7 in der Mathematik nachzudenken und vor allem über ihre Bedeutung im kosmischen, mythischen und auch biblischen Bereich; im letzteres ist es die Zahl des Tabus, und auch diese Facette passt zum Roman, denn gerade im 7. Gespräch wird ein Tabubruch thematisiert.

    Der Roman hat keinen Erzähler, sondern besteht ausschließlich aus den je einstündigen Gesprächsprotokollen. Alicia zweifelt an ihrer Welterfahrung und generell an der der Menschheit. Ähnlich wie Goethes Faust will sie erkennen, „was die Welt/ im Innersten zusammenhält“, aber sie geht noch darüber hinaus. Sie zweifelt an der Wirklichkeit der Welt, deren Sichtbarkeit sich ja nur in ihrem Kopf abspiele. Sind diese Wirklichkeiten identisch? Oder nicht? Wie ist Welt erfassbar? Was weiß der Mensch NICHT? Ihre zentrale Frage ist eine erkenntnistheoretische: wie gewinnt der Mensch Erkenntnis? Ihre Hoffnung, das über die Mathematik zu erreichen, erfüllte sich nicht. Bezeichnenderweise steht am Ende dieser Gespräche die These des genialen Einstein-Freundes Karl Gödel, dass auch die Axiomatik der Mathematik nicht widerspruchsfrei sei. Auch die Suche in den benachbarten Disziplinen wie Physik, Philosophie, Kunst, Sprachphilosophie und Psychologie – hier ist es die Wirkkraft des Unbewussten und Unterbewussten im Freudschen Sinne - lässt keine belastbare Erkenntnis zu. Wie bei Goethes Faust erscheint ihr daher der Suizid als eine akzeptable Alternative zum Leben: wie Faust sucht sie im Suizid die Entgrenzung der menschlichen Erkenntnis und hat die Hoffnung, bisher verschlossene Welten zu betreten und dass im letzten Lebens-Augenblick die Wahrheit des Universums aufleuchte.

    In diesen erkenntnistheoretischen Dialogen, thematisch von der Antike bis zur Jetztzeit, bewegt sich der Autor mit großer Sicherheit: ein überaus spannendes, farbenprächtiges intellektuelles Feuerwerk, dem man als Leser nur gebannt und fasziniert folgen kann! Eine Fülle an Vorstellungen, Ideen, an Anregungen!


    Zugleich tritt in den Dialogen Alicia als Mensch hervor. Wir erfahren von ihrer belasteten Familie, dem frühen Tod der Eltern, ihrer großen Einsamkeit und der daraus folgenden engen Bindung an ihren älteren Bruder. In kleinen Schritten bewegt sie sich im Lauf der Gespräche auf ihren Therapeuten zu und versucht, ihn nicht nur in seiner Funktion, sondern als Mitmensch zu erkennen. Sie fasst offensichtlich Vertrauen zu ihm, öffnet sich ihm und kann schließlich auch über Themen erzählen, denen sie aufgrund ihrer Tabuisierung zu Beginn ausgewichen ist. Und auch hier erscheint der Suizid als Zugang zu einer ersehnten Welt und als Möglichkeit, denselben Seinszustand wie ihr Bruder zu erreichen.

    Wie McCarthy diese Verbindung von Erkenntnistheorie im weitesten Sinn und einem hohen Maß an Emotionalisierung leistet, hat mich sehr beeindruckt. Alicias erschreckende Einsamkeit und die Aussichtslosigkeit, diese Einsamkeit zu überwinden, finden ihren Schlusspunkt in einer kurzen Abschlussszene, die McCarthy einfach meisterhaft komponiert hat: wenige Worte, eine kleine Geste – und ein Übermaß an Emotion beim Leser.


    Beide Dialogstimmen werden vom selben Sprecher gesprochen. Christian Brückners professionelle und klar akzentuierte Sprache macht die Dialoge lebendig. Er setzt alle Mittel ein, die er zur Verfügung hat und macht deutlich, dass Vorlesen nicht nur ein reiner Sprechakt, sondern zugleich immer auch Deutung ist.

    CHAPEAU an Autor, Übersetzer und Sprecher.

  • Vielen Dank für die Vorstellung dieses Hörbuchs. Ich werde es dann wohl auch nicht lesen, sondern hören.


    dracoma deine Hörbuchvorstellung hat mich daran erinnert, dass ich mich als Kind bei dem Marienlied "Meerstern, ich dich grüße...." immer gefragt habe, warum ich ausgerechnet einen Meerstern grüßen soll. Kein Mensch hat mir verraten, dass es ein Name für Maria ist.

    Jetzt endlich ist mir der Zusammenhang klar.