Florian Illies - 1913 -Der Sommer des Jahrhunderts
ASIN/ISBN: 3596193249 |
Eigentlich haben wir es ja immer gewußt: das schönste an der Historie ist die Anekdote.
Und Anekdoten bekommen wir in Florian Iliies Buch zuhauf, unverschämt und wüst, hauchzart und poetisch, derb und komisch, ein pralles buntes Bild eines ungewöhnlichen Jahres.
Doch hier liegt kein Geschichtsbuch vor, 1913 steht nicht für das politische Totalversagen Europas und seiner Monarchen und Politiker, vielmehr bedeutet dieses Datum den Aufbruch der Kunst und seiner Küstler in die Moderne, was immer auch genau die Moderne sei.
Die Brücke und der blaue Reiter, eine Gruppe in der Auflösung, die andere als heller Komet, revolutionieren die Malerei, das alte Europa stellt sich noch einmal an die Spitze der Innovation, vom noch konservativ malenden Amerika aus geschockt und fasziniert verfolgt.
Die Marc, Kirchner, Chagall, Picasso, Macke und Nolde, Kokoschka und Duchamp, eine Kumulation genialer Kreativer verändert mit unverschämter Radikalität die Perspektiven, die Horizonte, die Farbgebung der Welt.
Und das tun sie auch alle im richtigen Leben, nicht nur auf der Leinwand. Was Kirchner mitsamt seinem orientalischen "Harem", was Alma Mahler und Oskar Kokoschka privat so veranstalten, ist harte Kost für das Zeitalter des wilhelminischen Deutschland oder des späthabsburgischen Österreich. Eine dralle Seifenoper inszeniert Illies der hochamüsierten Leserschaft, Yellow-Press vom Feinsten, Anno 1913.
Da wollen die anderen Kunstgattungen nicht hintenanstehen. Schönberg und Alban Berg für die Musik, Schnitzler, Benn, die Brüder Mann, Kafka, Musil, Proust und Joyce heißen die europäischen Größen der Literatur, Trakl, Rilke und Werfel die Poeten. Bevor man vor Neid auf diese Konstellation zur gleichen Zeit erblassen möchte, stellt Illies uns alle diese Herrschaften auch sehr privat vor, mit allen ihren Macken und Unzulänglichkeiten, von schonungslos, aber liebevoll bis völlig bizarr, aber niemals langweilig.
Allzu ernst sollte man die ganze Geschichte nicht nehmen, aber sie es gibt Gelegenheit um herzhaft zu lachen und mitzuleiden, zu staunen und zu bangen, manchmal auch um die seelische Gesundheit einiger Protagonisten.
Es sind bunte Blätter, die Florian Illies hier ausbreitet, indiskret und herrlich schwatzhaft, voller Ironie und Wehmut, fast so schön, wie der legendäre "Simplizissimus".
Ich bin leider kurz vor dem Ende und habe mich bestens unterhalten gefühlt, oft erheitert und habe wie bei allen Büchern, die mir wirklich gefallen, auch eine ganze Menge gelernt.