Sekundärliteratur aus erster Hand
Der britische Romancier Ian McEwan gehört zweifelsohne zur Champions League der europäischen, möglicherweise sogar der globalen Literaturszene. Vom legendären „Der Zementgarten“ über das geniale „Abbitte“ bis zu aktuelleren und nicht minder beeindruckenden Werken wie „Kindeswohl“ oder „Maschinen wie ich“ - McEwan blieb sich qualitativ und thematisch treu, und auch wenn es gelegentlich autobiografische Anklänge gab, etwa beim sich durch mehrere Romane ziehenden Thema Kindesmissbrauch, war auf erzählerische Klasse, Anspruch und eine besondere Form von intellektueller Spannung Verlass.
Das ist beim Siebenhundertseiter „Lektionen“ leider anders.
McEwan fährt eine Hauptfigur auf, die wie er selbst im schottischen Aldershot und als Sohn eines hochrangigen Militärs geboren wurde, weshalb Original und Alter ego einige Jahre in fernen Ländern verbrachten. Und auch sonst hat der Lebenslauf seines Roland Baines einiges mit der Vita McEwans gemein, während andere autobiografische Elemente auf weitere Figuren verteilt werden, wobei Baines‘ Ehefrau Alissa eine ganz besondere Rolle spielt. Der Roman begleitet die Hauptfigur durch sechzig Jahre seines Lebens. Er setzt im elften Lebensjahr ein, als der überaus talentierte Baines Klavierunterricht bekommt. Seine Lehrerin, nur zehn Jahre älter als das Kind, wird sexuell übergriffig. Daraus entwickelt sich drei Jahre später eine spektakuläre Amour fou, die sich auf den jungen Roland lebenslang auswirken soll. Das zweite einschneidende Erlebnis findet zwanzig Jahre später statt, als der Held des Romans von der Ehefrau Alissa verlassen wird, und zwar zunächst spurlos, weshalb Baines sogar kurz (allerdings nicht sehr ernsthaft) des Mordes verdächtigt wird. Er bleibt mit dem sieben Monate alten Lawrence und einer früh versandeten Pianistenkarriere in einem unansehnlichen Londoner Haus zurück.
Womit die interessant zu lesenden Abschnitte bereits aufgezählt sind. Ab da, wir haben ungefähr ein Fünftel des Romans hinter uns, begleitet man den wenig ambitionierten und sehr durchschnittlichen Roland durch dessen wenig ambitioniertes und sehr durchschnittliches Leben, in dem es Freunde und hin und wieder Liebeleien gibt, in dem Diskussionen, Begegnungen und Wiederbegegnungen stattfinden, und in das die Weltgeschichte hineinstreut, mal eher diffus, etwa während der Tschernobyl-Katastrophe, dann wieder sehr direkt, etwa beim Mauerfall in Berlin, bei dem Roland Baines zufällig dabei ist, wie Ian McEwan übrigens seinerzeit auch. Und überhaupt sind dieser Roland Baines, einige Freunde, der Sohn Lawrence und die treulose Ehefrau Alissa letztlich nichts weiter als Vehikel, um die opake Autorenfigur auf ihren Schultern durch diese sechzig Jahre zu tragen, während derer nicht wirklich eine Geschichte stattfindet, aber dafür jede Menge Geschichte - gewürzt mit McEwans Ansichten. Was an und für sich interessant ist, denn der Autor zählt fraglos zu den klügsten Köpfen unserer Zeit, aber nicht interessant genug, um diesen vor sich hin mäandernden, anstrengenden, berichthaften und leider ziemlich oft ziemlich langweiligen Roman zu tragen. Wenn sich McEwan etwa, ungefähr im letzten Zehntel des Textes, Gedanken über die Zukunft der Meinungsfreiheit macht und Parallelen zwischen Jetztzeit und Mittelalter zieht, dann geschieht das auf sehr bemerkenswerte Weise - wie auch bei seiner Unterscheidung zwischen „Portalereignissen“ und weniger wirkungsstarken Höhe- oder Tiefpunkten der Menschheitsgeschichte. Aber das tröstet nicht über die lahme, mit uninteressanten, blassen, schwer unterscheidbaren Figuren geflutete, breitgetretene und leider auch nicht wirklich gut erzählte Lebensgeschichte jenes Roland Baines hinweg, der nach den zwei bemerkenswerten Anfangsereignissen nichts weiter als eine immer wackligere Klammer um Episoden aus McEwans eigenem Leben sein darf. Besonders schwach aber wird „Lektionen“, wenn der Autor in den Zusammenfassungsmodus wechselt, und etwa die Inhalte von Alissas Romanen aufzählt, denn Baines‘ abtrünnige Ehefrau ist zu nicht weniger als einer der wichtigsten Literaturfiguren Europas geworden, wenn auch zugleich selbstzerstörerisch und sozial vollständig inkompetent.
„Lektionen“ ist wie Sekundärliteratur aus erster Hand. Es ist nach meinem Dafürhalten der bislang schlechteste (aber trotzdem hoffentlich nicht letzte) Roman von McEwan, dramaturgisch schwach und meistens viel zu zäh, und ich habe es als anstrengend und im schlechtesten Sinn zeitraubend empfunden, diese knapp 720 Seiten zu lesen.
ASIN/ISBN: 3257072139 |