Zur Autorin (Quelle: Verlag):
Tanya Pyankova wurde 1985 in der Region Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren. Sie ist Autorin mehrerer Romane und Gedichtbände, die in ihrer Heimat zahlreiche Preise gewonnen haben, außerdem ist sie Leiterin der Literaturagentur Potion sowie Organisatorin einer Vielzahl von Literaturfestivals, Theateraufführungen und Poesieperformances.
Zum historischen Kontext:
Durch die Reise der Außenministerin Anna-Lena Baerbock in die Ukraine, bei der sie auch das Holodomor-Denkmal besuchte, wurde die Erinnerung an den Holodomor, auf Deutsch „Tötung durch Hunger wieder lebendig. Zu Beginn der 30er Jahre fielen dieser Maßnahme allein in der Sozialistischen Teilrepublik Ukraine geschätzt 3,5 bis 7 Millionen Menschen zum Opfer. Die Ursachen können inzwischen eindeutig benannt werden: die chaotische Durchsetzung der Zwangskollektivierung, damit verbunden die Entkulakisierung, die Förderung der Industrialisierung zu Lasten der Landwirtschaft, der Abtransport der Getreideernten und des Viehbestandes, die Erhöhung der Abgabequoten, Ausreiseverbote u. a. . Diese Maßnahmen wurden in der Ukraine mit besonderer Gründlichkeit durchgeboxt, um den Widerstandswillen des ehemals reichen und fruchtbaren Landes zu brechen.
Der Holodomor wurde in der SU bis heute nicht aufgearbeitet, und in der Ukraine begann man erst im Rahmen der Perestroika, die mündlichen Überlieferungen schriftlich zu fixieren. Inzwischen wird die Tragödie als Genozid von den meisten westeuropäischen Staaten anerkannt.
Mein Lese-Eindruck:
Normalerweise liest man erst das Buch und anschließend das Nachwort. Trotzdem ist es sinnvoll, in diesem Fall sich erst dem Nachwort zuzuwenden, weil die Intention und Gestimmtheit der Autorin für das Buch wesentlich sind. Das Nachwort nimmt tatsächlich die Stelle eines Vorworts ein.
„Dieser Roman“, sagt sie, „handelt vom Unterschied zwischen den Ukrainern und den lügnerischen moskowitischen Horden, deren Methoden ständige Angriffskriege, Propaganda, Manipulation und Geschichtsfälschung sind“ (S. 287). Sie erhebt schwerste Vorwürfe gegen Russland. Sie sieht die aktuellen Kriegsereignisse als eine Fortsetzung des Genozids an, dem ihr Land und ihre Landsleute in den 30er Jahren ausgesetzt waren. Wieder „vergewaltigen russische Verbrecher ukrainische Frauen und Kinder, töten, zerstören, bestehlen sie mein Land, entwenden Getreide, setzen Felder in Brand“ (S. 286). Daher sei die Vergangenheit für sie aktueller denn je, denn „das durch den Völkermord verursachte Trauma“ (S. 287) sei nach wie vor spürbar und zeige sich nicht nur im öffentlichen Leben, sondern auch im privaten Bereich. Und hat man dieses Buch gelesen, wird einem wieder einmal klar, dass man die Vergangenheit kennen muss, um die Gegenwart zu verstehen.
Die Autorin entfaltet ihre Geschichte mit drei Stimmen, mit denen sie die Bandbreite der damaligen Gesellschaft abdecken kann und die Opfer und Täter gleichzeitig zu Wort kommen lassen. Da ist einmal Dusja, die Kulakentochter, deren Vater wie so viele Bauern in die Zwangsarbeit verschickt wurde, während die Mutter in der Kolchose arbeitet, ohne mit dem Verdienst ihre beiden Kinder ernähren zu können. Ihre Stimme erzählt dem Leser von dem großen Sterben in ihrem Dorf und ihre Versuche, mit Gras, Baumrinde, Schuhsohlen das Aushungern zu überstehen. Eine andere Stimme gehört Solja, der Frau des verantwortlichen Kommissars, die auch unter Hunger leidet – aber im Unterschied zur Dorfbevölkerung hungert sie in einem Sanatorium, um ihr Übergewicht zu reduzieren. Sie ist das Sprachrohr ihres Mannes, ein Opfer der Propaganda, die die Kulaken als Staatsfeinde sieht, und sie bricht zusammen, als sie mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Die dritte Stimme gehört einem Dorfbewohner, der sich zum Handlanger der Kommunisten macht und in ihrem Dienst arbeitet. Diese drei Stimmen sprechen jeweils für sich, aber im Verlauf der Handlung werden sie Stück für Stück immer dichter miteinander verwoben. Dazu kommt eine vierte Stimme, die die Autorin immer wieder zu Wort kommen lässt: das ist die Stimme des personifizierten Hungers, der mit baumelnden Beinen auf dem Ofen sitzt, der die Menschen begleitet, sie quält und sie verhöhnt. So entsteht ein in sich stimmiges Gesamtbild.
Das Gesamtbild ist schlimm. Wir lesen von Zwangsarbeit, von Propagandamaßnahmen und Täuschung, von der Zerstörung der Kirchen und ihres Kulturgutes, vom Personenkult um den „schnauzbärtigen Tod“ (S. 88), vom täglichen Einsammeln der Leichen, von gewalttätigen Requirierungen, von Treulosigkeit, Egoismus und vor allem von den verzweifelten Versuchen der Menschen, Nahrung zu finden: Frösche, Mäuse, Vögel, Insekten, Baumrinde, Gras, Erdwürmer, Spelzen etc., immer heimlich, um nicht angezeigt zu werden und den Roten Kommissaren in die Hände zu fallen. Wir lesen auch von Auswegen aus dieser Not, um die Essensrationen zu sichern: das Gemeinmachen mit den Kommissaren und die Erledigung von Hilfsdiensten und auch Prostitution. Wie Brecht schon sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Oder wie Dusja sagt: „Wir verlieren, was uns zu Menschen macht“ (S. 221). Die Autorin verschont ihre Leser auch nicht vor grausamen Szenen wie Kindsaussetzung, Ermordung von Neugeborenen und Kannibalismus.
Das Bild der Ameisen zieht sich durch das ganze Buch hindurch. Es sind die Roten Ameisen, in Anspielung an die Roten Kommissare, die als Bild für die menschenverachtenden und im übertragenen Sinn „gefräßigen“ Kommunisten immer wieder zitiert werden.
Das Buch enthält sehr viele innere Monologe und Reflexionen der drei Stimmen, und dadurch kommt es zu Redundanzen. Hier wären Straffungen angebracht gewesen. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Pathos, das natürlich verständlich ist (s. Nachwort), aber doch gelegentlich zu dick aufgetragen ist. Sätze wie „Ihre nackte Wehrlosigkeit trifft wie die Sichel des Todes die schwankende Ähre des Menschenschicksals“ (S. 254) empfand ich als überzogen, aber auf der anderen Seite zeigen sie auch die starke und bildhafte Sprache der Autorin, die durchgängig zu beobachten ist.
ASIN/ISBN: 3753000779 |