Äußerst lesenswert
Vor sechshundert Jahren, am Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, lebt der Bauernsohn Carl in einem Dorf namens Luchow in der Mark Brandenburg. Eines Tages erscheint der Adlige Dietrich von Quitzow mit seinen Rittern im Dorf, raubt es aus, brennt die Häuser nieder und schändet Anne, in die der junge Bauer heimlich verliebt ist. Der bärenstarke Carl versucht, gegen die adligen Räuber zu kämpfen, aber unterliegt natürlich, doch statt ihn zu töten, entführt Dietrich von Quitzow den jungen Mann und nimmt ihn mit in seine Stammburg.
Gegen 1405 in Brandenburg, aber auch anderswo im Gebiet des heutigen Deutschlands, werden Streitigkeiten zwischen den Burgherren und Landesfürsten ohne Gericht und Justiz ausgetragen und manchmal sogar beigelegt. Die Fehde, eine Art offiziell erklärter Streit, ist aber zugleich ein willkommener Anlass, um sich an den Besitzungen und den Pächtern des anderen zu bereichern. Leidtragende sind die einfachen Bürger und vor allem die Bauern, deren Dörfer im Rahmen „Kleiner Reitereien“ ausgeraubt – man nannte das „gepocht“ – wurden, ohne dass jemand zum Schutz gekommen wäre oder die Überfälle angeklagt hätte, selbst wenn es dabei zu Morden und Vergewaltigungen kam. Die Adligen und ihre Ritter und Waffenknechte konnten tun, worauf immer sie Lust hatten, und sie taten das wohl auch. Dietrich von Quitzow, dessen Bild übrigens als Fries am Berliner Roten Rathaus zu sehen ist, gehörte mit seinen Mannen offenbar zu den schlimmsten, jedenfalls in Brandenburg.
Carl muss in der Burg Drecksarbeiten machen, aber weil er das flink erledigt, sehr stark ist und auch sonst einige Qualitäten aufweist, steigt er in der Gunst des verhassten Herren schnell auf. Dabei wird aus dem Hass nach und nach eine Art urmännlicher Bewunderung, und als Carl zunächst mit dem Morgenstern und später sogar mit dem Schwert die kleinen und größeren Reitereien begleiten darf, wird er allmählich, fast unmerklich einer von ihnen. Doch der Hass bleibt, und als sich nach Jahren die Gelegenheit ergibt, ergreift sie Carl.
„Die letzte Fehde an der Havel“ ist ein sehr klug erzählter, wissensreicher, großartig recherchierter und spannender historischer Roman über die Zeit des ostdeutschen Raubrittertums. Ganz nebenbei wird die frühe Geschichte der Stadt Berlin miterzählt, aber auch ansonsten findet sich in diesem mächtigen Buch ziemlich viel, das sich mit der Gegenwart verbinden lässt. Die Namen der Orte, Burgen und Adligen haben zu einem Gutteil nach wie vor Bestand. Nachfahren einiger adliger Familien besitzen noch heute Güter und Ländereien in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Allerdings wird aus dem sympathischen und freundlichen Carl, der sich zwar den Zwängen fügt, aber dort, wo es geht, einer von den Guten zu bleiben versucht, in der zweiten Hälfte des Romans zumindest vorübergehend eine problematische Hauptfigur, die dann auch ohne unmittelbare Not einen Weg geht, der moralische Bedenken zumindest zulassen würde, selbst bei Zugrundelegung des damaligen Wertegefüges. Carl ist das bewusst, aber die Hürde, die er hier überwindet, hätte sich möglicherweise auch umgehen lassen.
Hiervon abgesehen hat mir diese sehr anschaulich, clever und packend erzählte Geschichte großen Spaß gemacht, zumal die Autorin bei Ausdrucksweise und Umgang der Figuren einen, wie ich finde, exzellenten Kompromiss zwischen Lesbarkeit und Authentizität gefunden hat. „Die letzte Fehde an der Havel“ ist, wenn auch nicht ganz glücklich betitelt, ein äußerst lesenswertes, prima verpacktes Stück Geschichte.
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ASIN/ISBN: 3839202523 |