Türkei-Beitritt: Ja oder Nein?

  • Hallo zusammen,


    Natürlich ist Kultur, dynamisch verstanden, nicht nur auf "Wurzeln" zu reduzieren, sondern immer auch auf die Richtung, in die eine Bevölkerung/ein Staat/eine Gesellschaft will, das wurde hier bereits gesagt. Dass diese Richtung nicht als betonierte achtspurige Straße zu denken, sondern ein Geflecht aus zum Teil konträren Ansichten und Interessen ist - muss man darüber wirklich diskutieren?


    Mit dem "Kultur"-Argument habe ich stets Bauchschmerzen, da der Kulturbegriff insgesamt (auch hier) in sehr vielfältiger Weise gebraucht wird, die zum Teil wertend konnotiert sind.
    Allerdings sollte man mit eigenartigen Gebilden wie dem "römisch-germanisch-keltischen Kulturkreis" aufpassen. Den gibt es nicht einmal bei Huntington. Die Kulturkreislehre (erstmals taucht der Begriff 1898 bei Leo Frobenius auf) des deutschen Diffusionismus ist außerdem eine Theorie, die nichts mit einem dynamischen Kulturbegriff zu tun hat, sondern eine zyklische Vorstellung von Kultur verficht.


    In der öffentlichen Diskussion habe ich häufig den Eindruck, dass Kultur und Religion einfach gleichgesetzt werden und dass einfach ein tiefgreifendes Unbehagen gegenüber dem Islam besteht. Dass sich das aus christlichen Kampftraditionen, aus der Reconquista sowie aus der von Iris schon angesprochenen kuk-Hysterie speist, ist schwer von der Hand zu weisen. Der Islam war auf dem europäischen Kontinent, wenn ich jetzt mal die sehr angreifbare geographische Bosporus/Ural/Gibraltar/nach Norden nicht ganz klar-Begrenzung zugrunde lege, jahrhundertelang Realität und ist es heute in zunehmendem Maße wieder. Redet man also von einer wirklichen kulturellen Dynamik, zu der Religionsfreiheit idealerweise gehört, finde ich es ziemlich eigenartig im Zusammenhang mit der Frage nach einem Türkeibeitritt immer auf die christlichen "Wurzeln" des Abendlandes zu verweisen.


    Was den Laizismus betrifft, ist die heutige Türkei (ich spreche vom Staatsgebilde) deutlich laizistischer als die meisten Mitgliedsländer der EU, incl. Deutschlands (auch darauf wurde bereits hingewiesen). Eine ähnlich klare Trennung zwischen Staat und Kirche besteht eigentlich nur noch in Frankreich. Was die Bevölkerung betrifft, mag das anders sein, aber das ist es auch in Deutschland, nur da finden wir es wahrscheinlich eher drollig. Ich darf zB darauf aufmerksam machen, dass zur Zeit ernsthaft diskutiert wird, ob ein protestantischer Franke tatsächlich die katholisch-obebayrische Hegemonie in der Münchner Staatskanzlei aufbrechen darf. Wie passt das denn in unsere ach so laizistischen politischen Vorstellungen?


    Dieses Kultur/Religions-Argument ist also ein Proteus, der sich wandelt, je nachdem, wovon man gerade spricht. Insofern nützt es gar nichts, darüber ohne eine klare Begriffsdefinition zu diskutieren.


    Das Argument "Gleichberechtigung" finde ich immer wieder witzig. Wenn es um "die Türkei" bzw. "den Islam" geht, bäumt sich plötzlich ein ganzer öffentlicher Diskurs auf und tut so, als gäbe es in Deutschland weder strukturelle Benachteiligung von noch Gewalt gegen Frauen in einem erwähnenswerten Maße und als sei die christliche Kirche ein Verein von emanzipierten Frauenverstehern. Es ist klar, dass es Bedingung für einen Beitritt zur EU sein muss, dass Gleichbereichtigung rechtlich verankert ist, keine Frage. Aber was die gesellschaftliche Umsetzung und private Realitäten betrifft, die haben mit rechtlichen Grundlagen in Deutschland ebenso wenig zu tun wie überall sonst auf der Welt.

  • Zitat

    Original von Perseus


    Immer heißt es, die islamisch-türkische Gesellschaft sei weit weg von uns, ganz konträre Geschichte, Kultur etc.


    Daran wird auch noch so eine heiße Diskussion nichts ändern, es ist nun mal so. Aber selbstverständlich hängt das Verständnis dafür am Blickwinkel des Einzelnen.

    Demosthenes :write
    Aus dem Klang eines Gefäßes kann man entnehmen, ob es einen Riß hat oder nicht. Genauso erweist sich aus den Reden der Menschen, ob sie weise oder dumm sind.

  • Zitat

    Daran wird auch noch so eine heiße Diskussion nichts ändern, es ist nun mal so. Aber selbstverständlich hängt das Verständnis dafür am Blickwinkel des Einzelnen.


    Das ist definitiv nicht so.


    Die Völker, die unter den "Türken" zusammengefasst sind, waren weit verbreitet und standen auch mehr oder weniger unter hellenistischem Einfluss, pickten einiges heraus, bauten einiges aus, schwächten einiges ab, etc.


    Die Osmanen, die Byzanz eroberten, bekannten sich ganz klar - obwohl es ihr Ezrfeind war - zum byzantinischen Erbe, und übernahmen nicht nur die Geographie der "Griechen" ...


    Gruß

    Die Geschichte lehrt die Menschen, daß die Geschichte die Menschen nichts lehrt.


    Mahatma Gandhi, indischer Freiheitskämpfer

  • zur Kulturdiskussion: Ich finde die Diskussion auch interessant, aber es geht um den aktuellen Stand. Meine Meinung dazu ist, dass es durchaus ein Miteinander vers. Kulturen möglich ist, wenn man dabei auf der Basis des europäischen Rechtsempfindens arbeitet. Damit meine ich, dass die Kultur im engeren Sinn keinen Einfluß auf rechtliche Positionen haben sollte, ausser wenn dies sinnvoll ist.


    Ein kleines Beispiel aus der Geburtstation, die mir eine Hebamme erzählt hat. Das erste was passiert, wenn eine Muslimin dort entbindet ist, dass das Kreuz im Zimmer entfernt wird.
    Toleranz müsste also auch von beiden Seiten kommen, weil hier auch schon oft kritisiert wurde, dass von Seiten der Einheimischen zu wenig Initiative zur Integration kommt.


    @ Perseus: Wohin verschlägt es dich etwa, dass du so lange von Internet abgeschnitten bist?

  • Zitat

    Original von taciturus
    zur Kulturdiskussion: Ich finde die Diskussion auch interessant, aber es geht um den aktuellen Stand.


    :write :write :write


    ...und da wir doch, denk ich, alle u.a. auch hier teilnehmen, weil wir etwas dazulernen wollen, sollten wir - wenn wir vielschichtige Begriffe wie Kultur verwenden, erstmal klären - damit alle über das Gleiche reden, wenn er verwendet wird.


    Ich denk, so kann man Mißverständnisse und ein Aneinandervorbeireden dann auch gut vermeiden?


    Daher:


    Wikipedia meint zu Kultur


    Fremdwörterbuch: "Kul|tur [lat.] die; -, -en: 1. (ohne Plural) die Gesamtheit der geistigen u. künstlerischen Lebensäußerungen einer Gemeinschaft, eines Volkes; politische -: aus der Gemeinschaft hervorgehende Bestrebungen u. Äußerungsformen, die sich auf die politische u./od. soziale Gestaltung des täglichen Lebens beziehen wie Bürgerinitiativen, alternatives Leben, Umweltschutz, kommunale Mitbestimmung, das In-Frage-Stellen von üblichen Lebensformen u. Lebenseinstellungen; zweite -: Wertvorstellungen im Hinblick auf Kulturelles, die im Gegensatz zu den alten Wertvorstellungen (z. B. gegenüber den Klassikern) stehen. 2. (ohne Plural) feine Lebensart, Erziehung u. Bildung. 3. Zucht von Bakterien u. anderen Lebewesen auf Nährböden. 4. Nutzung, Pflege u. Bebauung von Ackerboden. 5. junger Bestand von Forstpflanzen. 6. (ohne Plural) das Kultivieren (1)."


    (c) Dudenverlag.



    Kultur allgemein: "Gesamtheit der typ. Lebensformen größerer Menschengruppen einschließlich ihrer geistigen Aktivitäten. In Unterscheidung zu dem Begriff der Natur (die ohne Zutun des Menschen existiert) bezeichnet K. i.)w).)S. alles, was der Mensch als gesellschaftl. Wesen bzw. die Menschen aller Völker zu den verschiedensten Zeiten und in unterschiedlichster Weise produktiv bearbeitet oder gestalterisch hervorgebracht haben. I.)e.)S. bezeichnet K. alle Bereiche, die der menschl. Bildung (der Erkenntnis, dem Wissen, den eth. und ästhet. Bedürfnissen) dienen: v.)a. das Umfeld von Literatur, Kunst und Musik, von Philosophie, Theologie und Wissenschaft. K. wird auch bedeutungsgleich mit Kultiviertheit verwendet (Eß-, Schlaf-, Wohnkultur); im Hinblick auf die zwischenmenschl. Kommunikation bezeichnet K. die Fähigkeit, sich mit anderen in einer Weise auseinandersetzen zu können, die zu produktiven Ergebnissen führt, u.)a. Gesprächs-, Konflikt-, Streitkultur."


    (c) Meyers Lexikonverlag.


    Und noch kürzer:


    Kultur:"Zivilisation, Fortschritt, Entwicklung."


    (c) Dudenverlag.


    So, hoffe, den Diskutanden damit eine bessere Grundlage zum Unterhalten gegeben zu haben :-)


    :wave
    Ikarus

  • Zitat

    Original von Bartlebooth
    Das Argument "Gleichberechtigung" finde ich immer wieder witzig. Wenn es um "die Türkei" bzw. "den Islam" geht, bäumt sich plötzlich ein ganzer öffentlicher Diskurs auf <...>


    Bartlebooth, dieses Argument kommt grundsätzlich von denen, die selbst nicht viel damit am Hut haben, und sich in Diskussionen weiblichen Diskussionspartnern gegenüber gerne in onkelhafter Herablassung ergehen. :grin


    Mich ärgert die Behauptung, es gäbe einen krassen kulturellen Unterschied zwischen Orient und Okzident. Belegt wird das, indem man aus offenbar arg populären Sachbüchern und Zeitschriftenartikeln zusammengezogene Argumente zusammen mit ein paar Detailkenntnissen heranzieht und z.B. die Vorstellungswelt eines europäisch-säkularen Mittelstands mit der eines armen ostanatolischen Ziegenhirten vergleicht -- also wissenschaftlich gesehen gewissermaßen Äpfel mit Kartoffeln.

    Dieser Eiserne Vorhang wurde in der Spätzeit des Osmanischen Reiches einseitig hochgezogen, fiel dann aber angesichts der Faszinaton, die der Orient auch später noch ausübte, wieder in sich zusammen.
    Erst die krasse Ausbeutung der Quellen für fossile Brennstoffe, die völkerrechtlich hochproblematische Gründung des Staates Israel und die Migration eher unterprivilegierter Schichten als "Gastarbeiter" nach Europa führte dazu, daß sich so mancher Kerneuropäer angesichts der anders aussehenden Menschen mit ihrer anders anmutenden Religion in unseren Straßen ein wohliges Feindbild zimmerte.


    Mit der Realität hat dieses Feindbild nichts zu tun -- leider verursachte das daraus resultierende Verhalten derer, die dieses Feindbild pflegen, und die Reaktion der Betroffenen in den vergangenen Jahrzehnten gravierende soziale und politische Probleme, zu denen Tom ja schon einiges geschrieben hat.


    Bis jetzt ist noch kein außenpolitisches Argument gegen eine auf lange Sicht avisierte Mitgliedschaft der Türkei in der EU aufgekommen -- nur Argumente, die sich aus "mißlungener Integration der Migranten" und haushaltspolitischen Fragen der EU speisen, von denen hier wohl kaum jemand (mich ausdrücklich eingeschlossen!) wirklich etwas versteht.


    Dafür spricht, daß somit die Mitgliedschaft der Türkei zu einer Brücke in den Nahen und Mittleren Osten werden kann. Die Möglichkeiten der friedlichen politischen Einflußnahme würden sich erheblich steigern.


    Andererseits macht mir persönlich Sorge, daß die Türkei von den USA wie ein Vasallenstaat behandelt wird. Eigentlich möchte ich keine militärische US-Dependance in diesem Kreise haben, zumal angesichts der augenblicklichen politischen Lage in den USA (ich verweise mal auf die Streitigkeiten zum neuen Militärhaushalt: [URL=http://sueddeutsche.de/,poll7/ausland/artikel/945/61884/]SZ, 6.10.[/URL]; [URL=http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,378493,00.html]spiegel online, 6.10.[/URL]).

  • Zitat

    Original von Iris
    Bis jetzt ist noch kein außenpolitisches Argument gegen eine auf lange Sicht avisierte Mitgliedschaft der Türkei in der EU aufgekommen -- nur Argumente, die sich aus "mißlungener Integration der Migranten" und haushaltspolitischen Fragen der EU speisen, von denen hier wohl kaum jemand (mich ausdrücklich eingeschlossen!) wirklich etwas versteht.


    Dafür spricht, daß somit die Mitgliedschaft der Türkei zu einer Brücke in den Nahen und Mittleren Osten werden kann. Die Möglichkeiten der friedlichen politischen Einflußnahme würden sich erheblich steigern.


    Durch einen Beitritt der Türkei würde der EU-Haushalt über Gebühr belastet werden. Das ist in meinen Augen ein sehr wichtiges Argument welches gegen den Beitritt spricht.


    Da die EU keine gemeinsame Außenpolitik verfolgt, kann natürlich auch kein außenpolitisches Argument gegen den Türkei-Beitritt aufkommen. Jedes der EU-Mitgliedsländer verfolgt mehr oder weniger eine von den eigenen Interessen geprägte Außenpolitik.


    Für die USA ist die Türkei lediglich von strategischen Interesse. Aufgabe der Türkei war es immer schon, der NATO Flankendeckung zu geben. Eine andere Aufgabe hatten sie nicht und an mehr ist die USA in Bezug auf die Türkei auch nicht interessiert.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Durch einen Beitritt der Türkei würde der EU-Haushalt über Gebühr belastet werden. Das ist in meinen Augen ein sehr wichtiges Argument welches gegen den Beitritt spricht.


    Das unterstellt, daß einige Presseorgane wie z.B. Die Welt mehr von europäischer Haushaltspolitik verstehen als die dort tätigen, die Beitrittsverhandlungen befürwortenden Politiker, die einerseits in den jeweiligen Mitgliedsländern in verantwortliche Positionen, andererseits in das Europaparlament gewählt wurden.
    Selbst in der CDU besteht -- trotz der Merkelschen Verdikts -- keine Einigkeit zum Thema, wie übrigens auch nicht in den anderen Parteien.
    Aber ich bezweifle dennoch sehr, daß ausgewählte Sentenzen einiger Haushaltsexperten, die einige Presseorgane gebetsmühlenartig wiederholen, der Weisheit letzter Schluß sind.


    Ich gehöre nun mal nicht zu denen, für die jeder Politiker, der nicht die eigene Meinung vertritt, ein inkompetenter und korrupter Trottel ist. Ich nehme Frau Merkel ihre Sorgen durchaus ab, aber auch die andere Seite hat triftige Argumente.


    Zitat

    Da die EU keine gemeinsame Außenpolitik verfolgt, kann natürlich auch kein außenpolitisches Argument gegen den Türkei-Beitritt aufkommen. Jedes der EU-Mitgliedsländer verfolgt mehr oder weniger eine von den eigenen Interessen geprägte Außenpolitik.


    Daran wird ja inzwischen sehr fleißig gearbeitet.


    Zitat

    Für die USA ist die Türkei lediglich von strategischen Interesse.


    Was heißt hier "lediglich"? Hat die derzeitige US-Administration denn noch andere als strategische, vor allem globalstrategische Interessen?


    Zitat

    Aufgabe der Türkei war es immer schon, der NATO Flankendeckung zu geben.


    Ein schöner ausdruck, der präzise das Bedrohungsgefühl wiedergibt, das das Vokabular eines "war against terror", der von Anfang an ein von langer Hand geplanter Krieg um die Vorherrschaft über die Förderung fossiler Brennstoffe war, in den Köpfen der Menschen schon angerichtet hat.


    Die Türkei ist erst seit dem ersten Irak-Krieg (1990/91) ein strategisch wichtiger Platz -- vor allem stellen die US-Militärbasen dort ein exzellentes Bedrohungspotenzial gegen den Nahen und Mittleren Osten dar.
    Seitdem die NATO durch die magelnde Willfährigkeit der mächtigsten europäischen Staaten bei den "Kreuzzügen" der Bush-Administration als strategisches Bündnis geschwächt wurde, geht es vor allem um ein strategisches Bündnis innerhalb der EU.


    Zu diesem Zweck wäre eine in die europäische Politik eingebundene Türkei ein weitaus besserer Partner als eine Türkei, die den militärischen Hampelmann der USA abgibt und anstelle von Flankenschutz einen Keil zwischen Orient und Okzident bildet.

  • Zitat

    Original von Iris


    Mich ärgert die Behauptung, es gäbe einen krassen kulturellen Unterschied zwischen Orient und Okzident.


    Ja, mich ärgert das auch, und ich finde es auch richtig und wichtig immer wieder auf die Gemeinsamkeiten hinzuweisen. Doch wenn's ans Eingemachte geht, interessiert die historische Tatsache, dass Europas Erfindung eine Sache des Mittelmeerraumes ist, eben keinen, weil immer wieder auf diese künstliche und in nicht unerheblichem Maße religiös induzierte Trennung verwiesen wird, die seither stattgefunden und zugegebenermaßen eine große Wirkmächtigkeit entfaltet hat - und insofern, bei aller Zustimmung zu dem was du schreibst, Iris: Was ist schon die "Realität eines Feindbildes?.


    Und natürlich finden sich immer Unterschiede, wenn man nach ihnen sucht (auch zwischen Baden und Württemberg oder Villariba und Villabajo), und wenn man als "europäisch" nur gelten lässt, was man dann jenseits des Bosporus eben nicht mehr findet (ich habe diesbezüglich zB mal einem Vortrag über Stadtentwicklung lauschen dürfen), dann gehört Anatolien - wenig überraschend - nicht mehr zu Europa. Diese Form der Argumentation hat den großen Fehler, dass sie erstmal setzt, was "europäisch" ist und das diese Setzung natürlich meist genau mit dem Ziel geschieht, bestimmte Phänomene eben als "eingedrungen", als "sekundär" auszuweisen. Dh solche Strategien landen im Zirkelschluss. Man will ja gerade auf die Unterschiede zwischen vorher definierten geographischen Gebieten hinaus.


    Und alle, die mit so festen Einheiten argumentieren, können mir dann auch nicht mehr glaubhaft machen, dass sie einem dynamischen Kulturbegriff folgen. Wenn eine Dynamik sich darin erschöpft, dass die Variation, die mir noch angenehm ist, die mich also noch nicht wirklich mit meinem Tellerrand konfrontiert, ok , alles andere aber ein "zu großer" Unterschied ist, dann habe ich eben ganz klar keine dynamische Vorstellung von Kultur. Und dann ist es nur noch ein winziger Schritt, bis man in Spenglersches Fahrwasser und sonstige zyklische Verfallstheorien (wie die Kulturkreislehre) rutscht.
    Das ist legitim, aber es ist nicht mein Ding und es ist ganz sicher sehr statisch und keinesfalls dynamisch.


    Herzlich, B.

  • Ich bin gegen eine weitere Aufnahme irgendwelcher Länder im Osten, dabei ist es mir egal ob es sich um Bulgarien, Rumänien oder die Türkei handelt.
    Es belastet die Wirtschaft der jetzigen EU-Mitglieder übermässig.
    Nichts gegen einen Beitritt der Skandinavier oder Schweizer, wenn sie denn mal wollen sollten. Diese Wirtschaften werden in den gemeinsamen Topf einzahlen und nicht ihren zukünftigen Aufschwung dank Subventionen aus Brüssel geschenkt bekommen.


    Welchen tatsächlichen wirtschaftlichen Vorteil hat denn die Osterweiterung für die alten 15 EU-Länder gebracht?


    Es mag politisch vielleicht interessant sein, die östlichen Länder einzubinden, aber die EU ist hauptsächlich eine Vereinigung von Ländern mit wirtschaftlichen Interessen.


    Es ist natürlich verständlich, dass die Anwärter auf eine Mitgliedschaft vieles tun werden, um aufgenommen zu werden und später in die Euro-Zone zu gelangen (ich erinnere an das Fälschen der Bilanzen der Griechen, um an den Euro zu kommen), aber genauso muss es verständlich sein, dass viele EU-Bürger nicht unbedingt andere Staaten finanzieren möchten, wenn sie selbst nicht davon profitieren können.


  • Sehr guter Beitrag. Nur noch dieser Hinweis. Von den skandinavischen Ländern fehlt nur noch Norwegen. Dort steht man einer EU-Mitgliedschaft aber mehr als skeptisch gegenüber. In einer Volksabstimmung haben sich die Norweger klar gegen eine EU-Mitgliedschaft ausgesprochen.


    Ich möchte auch noch auf folgendes Hinweisen. Deutschland ist in der EU ein sogenanntes Geberland. Die neu aufgenommenen Staaten sind aber in ihrer großen Mehrheit nur Nehmerländer. Das bedeutet, dass der deutsche Steuerzahler in großem Maße den wirschaftlichen Aufschwung dieser Nehmerländer finanziert.


    Die "europäische Integrationsromantik" hat sich in der heutigen Zeit überlebt. Eine EU-Erweiterung macht nur dann Sinn, wenn es uns wirtschaftlich nach vorn bringt, wenn wir dabei neue Märkte erschliessen können. Es bringt uns aber nicht weiter, wenn andere Länder ihr Arbeitslosenproblem nach Deutschland transportieren. Deutschland gehört in fast allen Organisationen (EU, UNO, NATO) zu den Hauptzahlern. Dabei steht auch unser Land schon jetzt am Rande seiner finanziellen Leistungsfähigkeit.


    Am Rande: Die Sachlichkeit der Diskussion in diesem Thread empfinde ich persönlich als sehr angenehm, gerade auch wenn man sich ansieht, welche grundverschiedenen Ansichten hier gepostet wurden.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Rosenstolz
    Oryx und Voltaire haben es für mich auf den Punkt gebracht.............


    :write Seh ich auch so :write


    Zitat

    Original von Voltaire


    Am Rande: Die Sachlichkeit der Diskussion in diesem Thread empfinde ich persönlich als sehr angenehm, gerade auch wenn man sich ansieht, welche grundverschiedenen Ansichten hier gepostet wurden.


    ... wenn ihr meine unmaßgebliche, kleine Meinung hören bzw. lesen wollt, wäre es sehr schön, wenn wir ALLE (nehm mich da selbst ganz betont NICHT aus) das in zukünftigen Diskussionen NOCH etwas verbessern könnten.


    Mit allem Respekt vor jedem hier (und keiner Dramatik!) ... ich hab so den (vielleicht verrückten) Traum, dass dann aus der Abgabe von statements tatsächlich gute Unterhaltungen werden würden!


    :wave
    Ikarus

  • Voltaire : Ich habe die Skandinavier genannt, denn die haben bis auf die Finnen keinen Euro, sind also noch nicht ganz im Kern der EU angekommen. Der Euro ist zu fast 30% basierend auf der deutschen Wirtschaft - versagt diese, dann sinkt auch der Wert des Euro...


    Europa ist das gelobte Land im Ausland - weit mehr als die USA mit ihrer sehr restriktiven Einwanderungspolitik. Man muss nur nach Südspanien sehen, um zu bemerken, dass sich da etwas grosses anbahnt.

  • [URL=http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,379188,00.html]SPIEGEL ONLINE: TÜRKEI UND ARMENIEN Friedensstifter im Visier[/URL]


    Ein Artikel von Cem Özdemir.


    Özdemirs abschließender Appell zur Novellierung des Strafesetzbuches, das anscheinend die Meinungsfreiheit torpediert, ist konsequent und gut.


    Eine Stelle des Artikels mißfällt mir aber: Özdemir deutet den Habitus der Reaktionäre als Antwort auf den schmerzenden Reformweg, den die türkische Regierung eingeleitet habe. Die Angriffe der reaktionär-nationalistischen Front müsse man aussitzen, schließt er diesen Abschnitt und leitet zum eigentlichen Thema seines Artikels über. Soweit ich ihm in seiner Interpretation zustimme, so wenig möchte ich seinem Schluss beipflichten.


    Dieser Kampf darf nicht nur auf Parlamentsstühlen geführt werden! Es ist eine Angelegenheit, die auf dem Rücken der Öffentlichkeit in der Öffentlichkeit ausgetragen werden muss. Die Identität einer Nation nährt sich vor allem aus der Bewusstheit der eigenen Geschichte, deshalb ist eine Aufarbeitung, wie vorgesehen, notwendig, und diese Aufarbeitung muss auch von der Öffentlichkeit als notwendiger Schritt begriffen werden.


    Löst man das Problem, in dem man es ignoriert?