Hallo zusammen,
Natürlich ist Kultur, dynamisch verstanden, nicht nur auf "Wurzeln" zu reduzieren, sondern immer auch auf die Richtung, in die eine Bevölkerung/ein Staat/eine Gesellschaft will, das wurde hier bereits gesagt. Dass diese Richtung nicht als betonierte achtspurige Straße zu denken, sondern ein Geflecht aus zum Teil konträren Ansichten und Interessen ist - muss man darüber wirklich diskutieren?
Mit dem "Kultur"-Argument habe ich stets Bauchschmerzen, da der Kulturbegriff insgesamt (auch hier) in sehr vielfältiger Weise gebraucht wird, die zum Teil wertend konnotiert sind.
Allerdings sollte man mit eigenartigen Gebilden wie dem "römisch-germanisch-keltischen Kulturkreis" aufpassen. Den gibt es nicht einmal bei Huntington. Die Kulturkreislehre (erstmals taucht der Begriff 1898 bei Leo Frobenius auf) des deutschen Diffusionismus ist außerdem eine Theorie, die nichts mit einem dynamischen Kulturbegriff zu tun hat, sondern eine zyklische Vorstellung von Kultur verficht.
In der öffentlichen Diskussion habe ich häufig den Eindruck, dass Kultur und Religion einfach gleichgesetzt werden und dass einfach ein tiefgreifendes Unbehagen gegenüber dem Islam besteht. Dass sich das aus christlichen Kampftraditionen, aus der Reconquista sowie aus der von Iris schon angesprochenen kuk-Hysterie speist, ist schwer von der Hand zu weisen. Der Islam war auf dem europäischen Kontinent, wenn ich jetzt mal die sehr angreifbare geographische Bosporus/Ural/Gibraltar/nach Norden nicht ganz klar-Begrenzung zugrunde lege, jahrhundertelang Realität und ist es heute in zunehmendem Maße wieder. Redet man also von einer wirklichen kulturellen Dynamik, zu der Religionsfreiheit idealerweise gehört, finde ich es ziemlich eigenartig im Zusammenhang mit der Frage nach einem Türkeibeitritt immer auf die christlichen "Wurzeln" des Abendlandes zu verweisen.
Was den Laizismus betrifft, ist die heutige Türkei (ich spreche vom Staatsgebilde) deutlich laizistischer als die meisten Mitgliedsländer der EU, incl. Deutschlands (auch darauf wurde bereits hingewiesen). Eine ähnlich klare Trennung zwischen Staat und Kirche besteht eigentlich nur noch in Frankreich. Was die Bevölkerung betrifft, mag das anders sein, aber das ist es auch in Deutschland, nur da finden wir es wahrscheinlich eher drollig. Ich darf zB darauf aufmerksam machen, dass zur Zeit ernsthaft diskutiert wird, ob ein protestantischer Franke tatsächlich die katholisch-obebayrische Hegemonie in der Münchner Staatskanzlei aufbrechen darf. Wie passt das denn in unsere ach so laizistischen politischen Vorstellungen?
Dieses Kultur/Religions-Argument ist also ein Proteus, der sich wandelt, je nachdem, wovon man gerade spricht. Insofern nützt es gar nichts, darüber ohne eine klare Begriffsdefinition zu diskutieren.
Das Argument "Gleichberechtigung" finde ich immer wieder witzig. Wenn es um "die Türkei" bzw. "den Islam" geht, bäumt sich plötzlich ein ganzer öffentlicher Diskurs auf und tut so, als gäbe es in Deutschland weder strukturelle Benachteiligung von noch Gewalt gegen Frauen in einem erwähnenswerten Maße und als sei die christliche Kirche ein Verein von emanzipierten Frauenverstehern. Es ist klar, dass es Bedingung für einen Beitritt zur EU sein muss, dass Gleichbereichtigung rechtlich verankert ist, keine Frage. Aber was die gesellschaftliche Umsetzung und private Realitäten betrifft, die haben mit rechtlichen Grundlagen in Deutschland ebenso wenig zu tun wie überall sonst auf der Welt.