Ein großer Wurf
Einiges ist schon geschrieben worden über Anita Berber, die "Göttin der Nacht" (Titel eines Buches von Lothar Fischer über sie). Sie war - nicht nur in Berlin - eine bekannte Figur der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Dass Joan Weng sich nun - hundert Jahre später - das kurze Leben dieser schillernden Frau erneut vorgenommen hat, um einen Roman darüber zu schreiben, ist allein schon bemerkenswert. Viel bedeutender ist, auf welche Weise sie es tut. Ihr geht es - trotz ihrer überall durchschimmernden erstklassigen Recherchearbeit - nämlich weniger um biografische und historische Exaktheit als um die Auslotung ihrer ebenso rätselhaften wie faszinierenden Protagonistin mit literarischen Mitteln.
Zum Inhalt ein Blick auf den Klappentext:
Anita Berber ist das Phänomen ihrer Zeit. Sie tanzt nackt auf den Bühnen Berlins, betört die Massen mit ihrer Schönheit und Extravaganz. Doch dann ist sie nach einer Reihe von Eskapaden und Skandalen in den Varietés, in denen sie einst Erfolge feierte, nicht mehr willkommen. Von schwindendem Ruhm und Jahren des Exzesses gezeichnet, begegnet sie Otto Dix, dem größten Porträtmaler der Weimarer Republik. Drei Tage wird sie ihm Model stehen – drei Tage, die das Leben beider von Grund auf verändern werden.
Was dieses Buch so unwiderstehlich macht - von der ersten Seite an -, ist Joan Wengs gleichermaßen originelle wie wortsichere Sprache, mit der sie den Leser scheinbar mühelos ganz und gar in ihren Bann zieht, so dass er sich fühlt, als wäre er mitten drin im lästerlichen Strudel der zwanziger Jahre in Berlin, mitten im Tanz auf dem Vulkan zwischen Vergessen und Verzweiflung. Und wie Anita Berber sieht er deutlich die abgeschmackte Banalität des irren Treibens mitten in der Hochphase der Inflation, sieht all die ebenso obszönen wie hilflosen Verkrampfungen einer völlig verunsicherten Gesellschaft, erkennt die Ödnis hinter allem. "Knickerige Zählmeister des eigenen Lebens" lässt Weng ihre Protagonistin die Leute nennen, die sich wie verrückt an das klammern, was ihnen für kurze Zeit Vergessen verschafft, Leute, die "alles erleben, notfalls ersterben" wollen.
Selten hat jemand animalische Lust im Kontrast zu völliger Hoffnungslosigkeit derart aufwühlend in Worte gefasst, wie Joan Weng es in diesem Buch tut. Ihr betörender Stil hat nichts Betuliches, schon gar nichts unverbindlich Narratives, bleibt immer sprach- und bildsicher. Dabei wechselt die Autorin mühelos zwischen bissiger, kompromissloser Klarheit und purer Poesie. Nicht zuletzt deshalb ist dieses Buch anrührend, ohne jedoch jemals schwülstig oder gar kitschig zu werden. Und dazu voll wunderbarer Sätze wie: "Was war Langeweile schon anderes als die vollkommene Abwesenheit von Gefahr?"
Joan Weng erweist sich in diesem Buch als Erzählerin von hohen Graden, der es gelingt, beim Leser mit jeder Seite das Mitgefühl mit dem einsamen, liebenswürdigen, aber tief verstörten und rettungslos unglücklichen Mädchen Anita Berber wachsen zu lassen, das seine einzige Chance darin gesehen hat, in die Kunstfigur der Femme fatale zu schlüpfen - und daran endlich zu Grunde geht.
Ein beglückendes Leseerlebnis - ein großer literarischer Wurf!