"Die rote Tänzerin" von Joan Weng

  • Ein großer Wurf


    Einiges ist schon geschrieben worden über Anita Berber, die "Göttin der Nacht" (Titel eines Buches von Lothar Fischer über sie). Sie war - nicht nur in Berlin - eine bekannte Figur der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Dass Joan Weng sich nun - hundert Jahre später - das kurze Leben dieser schillernden Frau erneut vorgenommen hat, um einen Roman darüber zu schreiben, ist allein schon bemerkenswert. Viel bedeutender ist, auf welche Weise sie es tut. Ihr geht es - trotz ihrer überall durchschimmernden erstklassigen Recherchearbeit - nämlich weniger um biografische und historische Exaktheit als um die Auslotung ihrer ebenso rätselhaften wie faszinierenden Protagonistin mit literarischen Mitteln.


    Zum Inhalt ein Blick auf den Klappentext:

    Anita Berber ist das Phänomen ihrer Zeit. Sie tanzt nackt auf den Bühnen Berlins, betört die Massen mit ihrer Schönheit und Extravaganz. Doch dann ist sie nach einer Reihe von Eskapaden und Skandalen in den Varietés, in denen sie einst Erfolge feierte, nicht mehr willkommen. Von schwindendem Ruhm und Jahren des Exzesses gezeichnet, begegnet sie Otto Dix, dem größten Porträtmaler der Weimarer Republik. Drei Tage wird sie ihm Model stehen – drei Tage, die das Leben beider von Grund auf verändern werden.


    Was dieses Buch so unwiderstehlich macht - von der ersten Seite an -, ist Joan Wengs gleichermaßen originelle wie wortsichere Sprache, mit der sie den Leser scheinbar mühelos ganz und gar in ihren Bann zieht, so dass er sich fühlt, als wäre er mitten drin im lästerlichen Strudel der zwanziger Jahre in Berlin, mitten im Tanz auf dem Vulkan zwischen Vergessen und Verzweiflung. Und wie Anita Berber sieht er deutlich die abgeschmackte Banalität des irren Treibens mitten in der Hochphase der Inflation, sieht all die ebenso obszönen wie hilflosen Verkrampfungen einer völlig verunsicherten Gesellschaft, erkennt die Ödnis hinter allem. "Knickerige Zählmeister des eigenen Lebens" lässt Weng ihre Protagonistin die Leute nennen, die sich wie verrückt an das klammern, was ihnen für kurze Zeit Vergessen verschafft, Leute, die "alles erleben, notfalls ersterben" wollen.


    Selten hat jemand animalische Lust im Kontrast zu völliger Hoffnungslosigkeit derart aufwühlend in Worte gefasst, wie Joan Weng es in diesem Buch tut. Ihr betörender Stil hat nichts Betuliches, schon gar nichts unverbindlich Narratives, bleibt immer sprach- und bildsicher. Dabei wechselt die Autorin mühelos zwischen bissiger, kompromissloser Klarheit und purer Poesie. Nicht zuletzt deshalb ist dieses Buch anrührend, ohne jedoch jemals schwülstig oder gar kitschig zu werden. Und dazu voll wunderbarer Sätze wie: "Was war Langeweile schon anderes als die vollkommene Abwesenheit von Gefahr?"


    Joan Weng erweist sich in diesem Buch als Erzählerin von hohen Graden, der es gelingt, beim Leser mit jeder Seite das Mitgefühl mit dem einsamen, liebenswürdigen, aber tief verstörten und rettungslos unglücklichen Mädchen Anita Berber wachsen zu lassen, das seine einzige Chance darin gesehen hat, in die Kunstfigur der Femme fatale zu schlüpfen - und daran endlich zu Grunde geht.


    Ein beglückendes Leseerlebnis - ein großer literarischer Wurf!

  • Anita Berber – Tänzerin, Femme Fatale, Kunstfigur. Ein Phänomen ihrer Zeit, in ihrer Person vereinigen sich das pulsierende Berlin der 1920er Jahre, das vor Lust und Lasterhaftigkeit sprüht, und die von Krieg und Inflation gebeutelte Hoffnungslosigkeit, die trotz allen Trubels stets präsent bleibt. Zur „roten Tänzerin“ wird sie durch ein Porträt, das Otto Dix von ihr malt, und von dem sie verlangt, sie unsterblich zu machen.


    Die Hauptfigur ist zunächst keine, zu der man als Leser besondere Sympathien entwickelt oder mit der man mitzufiebern beginnt. Dazu ist Anita Berber zu unnahbar, zu egozentrisch, zu vulgär. Aber nach und nach beginnt die Fassade zu bröckeln und man realisiert, wer diese Person, die sich so kompliziert gibt, tatsächlich ist: Eine verlorene, zerbrochene Persönlichkeit, die nichts weiter will als Tanzen, die sich nach Anerkennung ihrer Kunst sehnt – und vielleicht nach ein bisschen Liebe.


    Joan Weng erzählt Anita Berbers Geschichte in einer unnachahmlichen Sprache, die den Leser wohlig in eine längst vergangene Zeitepoche entführt, ohne dabei altbacken oder kitschig zu wirken. So wird dieses Stückchen Zeit zu einem reinen Lesegenuss, der nicht nur harte Fakten präsentiert, sondern auch ein ganz eigenes sprachliches Flair schafft.


    Dieser Roman ist keine Romanbiografie, wie sie in letzter Zeit zuhauf den Markt fluten. Es ist vielmehr die Annäherung an eine Frau, die sicherlich zu ihren Lebzeiten in ihrer Kunst missverstanden wurde, deren Welt von Oberflächlichkeiten geprägt war und die über die Jahre eine erstklassige Fassade um sich herum aufgebaut hat. Ein Roman, der sich wirklich zu lesen lohnt. 10 Eulenpunkte.


    ASIN/ISBN: 3746638321

  • Otto Dix malte 1925 ein Porträt der Tänzerin Anita Berber. Dieser Roman erzählt davon, wie es dazu kam, zeichnet aber auch selbst ein Bild der „Skandalnudel“ der 1920er Jahre.


    Anita Berber war ein Enfant terrible, auch, aber nicht nur, weil sie nackt tanzte. Dabei wollte sie eigentlich nur das: Tanzen, nackt, da Kleidung sie dabei behinderte. Doch auch im Privatleben war sie maßlos, Drogen, Männer, Exzesse bestimmten ihr Leben. Man nannte sie „Dämon“, „Topsau“. Joan Weng spürt in diesem Roman ihrem kurzen Leben nach.


    Otto Dix ist ein bekannter Maler der Weimarer Republik. Nicht wenige Szenen des Romans sind aus seiner Perspektive erzählt, auch ihn lernt man so ein bisschen besser kennen.


    Ich kenne alle bisherigen Werke von Joan Weng, und hatte daher natürlich eine bestimmte Erwartung an diesen Roman. Diese wurde erst einmal nicht erfüllt. Thematik, Sprache und Erzählstil sind so ganz anders, als ich es bisher von der Autorin kannte, und so musste ich mich erst einmal eingewöhnen. Mir gefällt gut, dass Joan Weng hier ihren Stil gewandelt, dem Thema und der Protagonistin angepasst hat, auch, wenn mir das Lesen (und Rezensieren) etwas mehr Mühe macht(e) als gewohnt.


    Auch die Zeitwechsel könnten manchem Probleme bereiten, denn immer wieder gibt es Rückblenden. Ich finde aber, dass man diese gut erkennen kann und habe damit keine Schwierigkeiten gehabt. Sehr gelungen finde ich jeweils die Übergänge, die jeweils durch etwas Bestimmtes verbunden sind, z. B. wird das Wort „Tulpen“ aufgenommen.


    Es ist keine Biografie, sondern ganz klar ein Roman, mit fiktiven Szenen und Charakteren, im Nachwort der Autorin kann man darüber mehr erfahren, doch es hätte durchaus so sein können. Die Atmosphäre stimmt auf jedenfalls, nicht nur die der 1920er Jahre, auch die Stimmungen und die atmosphärischen Beschreibungen sind wunderbar be-/geschrieben


    Dieser Roman ist eine gewisse Herausforderung, vor allem, wenn man die anderen Romane der Autorin kennt. Trotzdem sollte man nicht davor zurückschrecken und dem Roman eine Chance geben. Wer einen besonderen Blick auf Anita Berber – und auch Otto Dix – haben, aber keine Biografie lesen möchte, könnte hier einen guten Einstieg finden, nach dem Lesen wird man auf jeden Fall mehr über (nicht nur) die beiden wissen wollen.

  • Mit der roten Tänzerin entführt uns Joan Weng in die Welt der faszinierenden und auch sicher polarisierenden und den einen oder anderen schockierenden Persönlichkeit von Anita Berber.

    Diese Tänzerin erlebte in den 20iger Jahren ihre Hochzeit - bevor es zum tiefen Absturz und frühen Tod kam.

    Anita Berber war nicht greifbar, nicht vorhersehbar, nicht planbar.

    Entsprechend verlief ihr Leben und ihre Karriere.

    Joan Weng bringt uns in ihrem Roman Anita Berber sehr nahe...........so hätte sie sein können, so hätte alles passieren können.

    Vieles ist belegt, sei es das Bild von ihr von Otto Dix, ihre Männer und anderes.

    "Die rote Tänzerin" bietet eine gelungene Mischung aus Realität und Fiktion - sprachlich perfekt und großartig umgesetzt.

    Mir hat dieses "andere" Buch von Joan Weng sehr gut gefallen.

  • Anita Berber, ganz anders als ihr Ruf...


    Ich kenne bereits einige Bücher von Joan Weng, aber mit ihrem Roman „Die rote Tänzerin“ hat sie einen vollkommen neuen Weg eingeschlagen: es ist ein Roman - keine Roman-Biografie, denn die intensive Recherche ist zwar deutlich spürbar, aber Autorin vermischt die historischen Fakten mit Fiktion „Wie es hätte sein können“ und überlässt es uns Leser*innen, unsere eigenen Schlüsse zu ziehen. Das Buch ist zwar fokussiert auf die Tage, die Anita Berber mit Otto Dix verbracht hat, der ihr (und auch sich) mit dem Bild „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ ein Denkmal setzte, aber wir erfahren auch viel über das Leben, die Gedanken, die Gefühle, Sorgen usw. der „Femme Fatale“ der 1920-er Jahre.

    Ich lese gern historische (Kriminal-)Romane und hatte immer den Eindruck, dass in jedem Buch, dass in dieser Zeit spielt, Anita Berber mit mindestens einem Satz erwähnt wird, ich bin förmlich über sie „gestolpert“, meist als skandalumwitterte Nackttänzerin, exzessiv drogenabhängig, die keinerlei Hemmungen kannte.

    Joan Weng nimmt einen anderen Weg: sie zeigt uns eine sehr verletzliche und einsame Frau. Sie schreibt im ausgezeichneten und informativen Nachwort: “Und je mehr Monographien ich über die Berber las, desto mehr faszinierte sie mich - ihr wilder Lebenshunger, ihre Verletzlichkeit und auch ihr früher Tod waren für mich immer sinnbildlich für die junge Weimarer Republik.“ (S. 247). Sie beschreibt Anita Berber als sehr intelligente Frau, die zumindest zeitweise – wenn sie keine Drogen konsumiert hatte – einen klaren Blick auf sich und ihre Handlungsweisen hatte.

    Eigentlich träumte „die Berber“ von einem bürgerlichen Leben, mit Mann, Kindern und einem Garten voller Tulpen – obwohl sie realistisch reflektiert, dass ihr das wohl nie gelungen wäre. Sondern „Tanzen wollte sie, tanzen und fliegen und fallen und taumeln, um die Qual ihrer Seele zu heilen oder wenigstens zu lindern.“ (S. 196). Oder auch „Sie war die Inflationsprinzessin, und die Inflation war vorbei, jetzt war sie wertlos wie ein Hunderttausendmarkschein.“ (S. 205)

    Joan Wengs Roman ist sehr eindrücklich und empathisch, der mich in seinen Bann gezogen hat und nachhaltig beeindruckt hat. Sie lässt vieles offen, so z.B. die Art der Beziehung zwischen Anita Berber und Susi Warnowski oder was „wirklich“ zwischen Anita und Otto Dix geschah...Darüber müssen wir Leser*innen uns selbst eine Meinung bilden... wie bei einem Blumenstrauß: wir bekommen Anhaltspunkte präsentiert - besonders im oben erwähnten Nachwort – aber die Wahl müssen wir selbst treffen!

    Auch von Otto Dix, seinen Hintergründen, seinen Dämonen, seiner Lebensgeschichte erfahren wir „nebenbei“ viel – und ich muss gestehen, am Ende des Buches war er mir sympathischer als zu Beginn, aber ich werde wohl nie ein Fan seiner Bilder... Aber durch ihn lernen wir die Düsseldorfer Galeristin Johanna Ey kennen, von ihr hatte ich noch nie gehört – und sie hat mich neugierig gemacht...

    Es ist kein Buch, dass ich gut hintereinander „weg-lesen“ konnte (wie sonst die Bücher von Joan Weng), aber die Faszination der Autorin für diese Frau hat mich in die Geschichte einbezogen. Ich habe den Menschen hinter der „skandalösen Berber“ erlebt, eine einsame und verletzliche junge Frau. Ein vollkommen anderer Blickwinkel – und aus diesem Grund kann und will ich diesem Buch einen großen Erfolg wünschen und spreche ausdrücklich eine Leseempfehlung aus!

  • Die Hauptfigur blieb mir fremd


    Buchmeinung zu Joan Weng – Die rote Tänzerin


    „Die rote Tänzerin“ ist ein Roman von Joan Weng, der 2022 bei Aufbau Digital erschienen ist.


    Zum Autor:

    Joan Weng, geboren 1984, studierte Germanistik und Geschichte und promoviert über die Literatur der Weimarer Republik.

    Klappentext:

    Sommer 1925: Anita Berber ist das Phänomen ihrer Zeit. Sie tanzt nackt auf den Bühnen der Weimarer Republik, betört die Massen mit ihrer Schönheit und Extravaganz. Doch dann ist sie nach einer Reihe Eskapaden und Skandalen in den Varietés, in denen sie einst Erfolge feierte, nicht mehr willkommen. Von nun an tanzt sie nur noch vor leeren Rängen und droht, sich in Erinnerungen an ein vergangenes Leben zu verlieren. In der Gefahr, bereits in Vergessenheit zu geraten, begegnet sie einem noch recht unbekannten Maler: Otto Dix.


    Meine Meinung:

    Dieses Buch erzählt episodenhaft aus dem Leben Anita Berbers und ihren Begegnungen mit Otto Dix. Anita Berbers Ehrgeiz, ihr Talent und ihr Selbstbewusstsein treten früh zu Tage. Sie geht an ihre Grenzen, überschreitet sie und nimmt Drogen. All dies schildert die Autorin eindrucksvoll, aber mich hat es nicht gefesselt. Die weitaus fesselndere Figur war für mich der Maler Otto Dix, der von der ersten Begegnung an von der Tänzerin fasziniert war, aber auch eine von ihr ausgehende Gefahr spürte.

    Die Autorin zeichnet ein vielschichtiges Bild der Tänzerin, auch wenn die meisten Episoden aus den Jahren nach ihrem Höhepunkt stammen. Gerade dort wirkt Anita Berber wie eine zerrissene Persönlichkeit mit wenigen lichten Momenten. Auch Personen aus dem Umfeld der beiden Künstler werden beschrieben und ihre Bedeutung für den jeweiligen Künstler gewürdigt.

    Gut gelungen ist die Beschreibung des historischen Umfelds dieser Epoche. Den Schreibstil der Autorin empfinde ich als angenehm


    Fazit:

    Meine Probleme mit diesem Buch beruhen in erster Linie auf der Figur Anita Berber, die mir schlicht fremd blieb. Deshalb bewerte ich das Buch trotz des angenehmen Schreibstils und der spürbaren historischen Atmosphäre mit drei von fünf Sternen (60 von 100 Punkten).


    ASIN/ISBN: B09XVKW6J7

    :lesend Hanna Caspian - Im Takt der Freiheit, Agatha Christie - Miss Marple (Kurzgeschichten von 12 erfolgreichen Autorinnen der Jetztzeit mit Miss Marple), Michael Peinkofer - Die steinerne Krone

  • Große Erzählung über eine bemerkenswerte Frau


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    In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts feierte eine ganz besondere Frau ganz besondere Erfolge – die eigenwillige, ungeheuer schöne, sehr talentierte Tänzerin Anita Berber, die neben Josephine Baker für die meiste Aufregung auf den Tanzbühnen der Welt sorgte, vor allem aber in Europa, und dort meistens im quirligen Berlin.


    Das nicht sehr lange und überaus intensive Leben dieser lebenslustigen, oft auch sehr unsicheren Frau, die nackt tanzte, aber keine erotischen oder, wie man das damals verniedlichend nannte, „orientalischen“ Tänze aufführte, sondern auf den Show- und Nachtclubbühnen kunstvoll inszenierte, energetische Darbietungen ablieferte, die nichtsdestotrotz vor allem die Männer im Publikum völlig kirre machten, ist schon mehrfach thematisiert worden, und Rosa von Praunheim hat Anita Berber einen ganzen Film gewidmet. Die Autorin Joan Weng („Feine Leute“, „Noble Gesellschaft“ u.v.a.m.) konzentriert sich in ihrer sehr ungewöhnlich aufgebauten Erzählung vor allem auf die Begegnung „der Berber“ mit dem Maler Otto Dix, dessen „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ zu seinen berühmtesten Werken gehört. Joan Weng erzählt aber noch einiges mehr – von der Jugend der Tänzerin, ihrer großen Sehnsucht, ihrem künstlerischen Anspruch, von der Schnelllebigkeit der Publikumsgunst und vom Wesen jener Zeit, den dann endenden Goldenen Zwanzigern. Sie erzählt auch vom Verfall der Popularität, von kaufmännischen Fehlentscheidungen und der ständigen Balance zwischen Selbstverwirklichung, dem Bedürfnis, gemocht zu werden, und dem kommerziellen Erfolg. Und, natürlich, von der Liebe.


    Der sehr eigenwillig komponierte und eindringlich erzählte Roman besticht – neben seiner sprachlichen Kunstfertigkeit – vor allem durch die enorme Nähe zu seinen Figuren, durch die große Empathie, die aber nie kritiklos ist. Joan Weng gelingt es, Zerrissenheit, Druck, Ängste und Orientierungslosigkeit nicht nur der Berber, sondern auch des Malers Dix und von Berbers Assistentin, die keine kleine Rolle spielt, so zu vermitteln, dass die Episoden etwas von klug gestalteten, sehr spannenden Tagebucheinträgen haben.


    Biografische Erzählungen über historische Personen sind normalerweise nicht meins, aber Joan Wengs neuester Roman fällt nicht nur in dieser Hinsicht aus dem Rahmen. Die Eigenwilligkeit von Erzählweise und Ausdruck bauen eine Verbindung zur Hauptfigur auf, die ihr in einer Weise gerecht zu werden scheint, die wirklich beeindruckend ist. Tolles Buch!

  • Die rote Tänzerin ist ist ein biografischer Roman um die Protagonistin Anita Berber. Anita Berber ist Tänzerin, genau genommen Nackttänzerin, im Berlin der 1920er Jahre. In kurzen Kapiteln erhalte ich Einblick in das Leben der Künstlerin und ihrer Person.



    Joan Weng lässt die Berber in klarer Sprache zu Wort kommen. Ungeschönt, gar ungeschminkt, trifft die Protagonistin ihre Äußerungen. Dabei kommt die Sprachbildung der 1920er Jahre wunderbar zur Geltung. Da hatte Frau noch Chuzpe, wenn sie mal eine nicht zurückhaltende Antwort parat hatte sondern sich schlagfertig in Szene setzte. Und in Szene setzen konnte Anita Berber sich.


    "Morgenstern starrte einen Moment sprachlos, dann winkte er den Mädchen, die Teller wieder abzutragen. Leicht würde es mit der nicht, aber leicht machte auch keinen Spaß." - Seite 121


    Obwohl Anita Berber nackt auftrat, hat sie sich nie so verletzlich gezeigt, wie sie eigentlich war und nach und nach zu Tage trat. Anfangs erschien mir die Berber unnahbar. Doch je mehr ich über Anita erfuhr, desto verständlicher wurde mir ihr Handeln, ihre Entgegnungen, ihre Show. Und zum Schluss, ja, zum Schluss war ich in Annis Art verliebt.

    Dass es sich bei Die rote Tänzerin nicht um eine Biografie sondern um einen Biografischen Roman handelt, macht das Erleben für mich als Leser noch intensiver. In den Momenten, in denen sich Anita Berber ihrem Gegenüber öffnet, wird sie für mich nahbar. Und anhand der Erlebnisse im Geschehen kann ich in die Situation eintauchen und mit Anita mitfühlen. Gern möchte ich glauben, dass sich die Szenen in Anita Berbers realem Leben tatsächlich so abgespielt haben. Im Nachwort erzählt Joan Weng, wie viel Wissen und Wahrheit in der Geschichte steckt und was unserer eigenen Fantasie überlassen bleibt.


    "Und Anita? Die hatte ihn sinnend unter halb gesenkten Lidern hervor betrachtet, hatte sich lüstern die Lippen geleckt, ihm dann "Ich bevorzuge jüngere Frauen" hingeknallt." - Seite 56


    Nach dem Leseerlebnis von Die rote Tänzerin wird mir Anita Berber in guter Erinnerung bleiben. Oder, wie Anni so schön sagte: "Machen sie mich unsterblich, Herr Dix!"


    Fazit

    Die rote Tänzerin ist für alle, die gern biografische Romane lesen. Ein spannender und höchst interessanter Einblick in das Leben der Anita Berber und das Berlin der 1920er Jahre. Geschrieben von Joan Weng, die das Berlin zu Zeiten der Weimarer Republik sprachlich sehr bildhaft zum Leben erweckt.

  • Joan Weng: Die rote Tänzerin. Die Nacht ist ihre Bühne, ihre Kunst unbezähmbar. Roman, Berlin 2022, Aufbau Verlage, ISBN 978-3-7466-3832-4, Softcover, 253 Seiten, Format: 11,6 x 2,7 x 18,8 cm, Buch: EUR 12,00 (D), EUR 12,40 (A), Kindle: EUR 8,99.


    „Anita, die immer so viel Wert darauf gelegt hatte, dass sie keine simple Nackttänzerin, sondern eine Künstlerin ohne Kleider war. Anita, die mit solcher Wucht gegen alles Verknöcherte, Biedere, Brave angetanzt hatte. […] Und nun sollte sie plötzlich Anita Berber, die orientalische Tänzerin sein – weil die Rechnungen gezahlt werden mussten? Wann hatte Anita sich je um Geld geschert?“ (Seite 196)


    Berlin 1925: Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber, 26, ist in dritter Ehe mit dem US-amerikanischen Tänzer Henri Châtin Hofmann verheiratet und hat beruflich schon bessere Tage gesehen. Gesundheitlich auch. Die jahrelange Drogensucht fordert ihren Tribut. So wacht sie zum Beispiel eines Morgens auf und erkennt ihren eigenen Mann nicht. Wenn sie ihre Freundin und Managerin Susi Wanowski nicht hätte, wäre sie schon längst am Ende.


    Susi vermittelt ihr den Kontakt zum Agenten Benjamin Morgenstern, der ihr vorschlägt, mit orientalischen Tänzen aufzutreten. Anita ist nicht begeistert. Sie fühlt sich gekränkt. Für sie besteht ein himmelweiter Unterschied zwischen ihrer Kunst, die einen unbekleideten Auftritt erfordert und ordinärem Nackttanz. Und das, was Morgenstern ihr anbietet, fällt in die zweite Kategorie.


    Skandalöse Auftritte


    Doch zunächst einmal steht ein Termin mit dem Maler Otto Dix an. Auch das hat Susi Wanowski eingefädelt. Dix will die Berber porträtieren. Sie trifft sich mit ihm und ist höchst überrascht, dass er sie in bürgerlicher Aufmachung und ohne das starke Bühnen-Make-up gar nicht erkennt. Er hat sie für eine junge Dame aus gutem Haus gehalten. Aber das ist sie doch auch! Sie ist die Tochter des Violinvirtuosen Professor Felix Berber und der Kabarettistin und Chansonsängerin Lucie Berber. Sie hat in Dresden die höhere Töchterschule besucht und war einige Monate im Internat eines Töchterbildungsinstituts in Weimar. Auch wenn sie sich manchmal vulgär gibt: Aus der Gosse stammt sie nicht.


    Der Traum vom kleinen Glück

    Anita wundert sich, dass Dix sich über sie wundert. Für sie ist „die Berber“ nur eine Rolle. Sie ist Anita, eine ganz normale, lebenslustige Frau.


    Dix‘ Gattin Martha, eine sehr kluge, gebildete und pragmatische Frau, findet Anita Berber auch erstaunlich sympathisch und umgänglich. Sie hat kein Problem damit, die beiden drei Tage lang allein zu lassen. So lange soll Anita dem Künstler Modell stehen.


    Anita und Dix: Seelenverwandte

    Dix jedoch langweilt sich inzwischen mit Frau und Kind, obwohl ihn klar ist, dass er mit der loyalen und vermögenden Martha das große Los gezogen hat. In der Berber glaubt er, eine verwandte Seele zu erkennen, einen getriebenen Menschen, der, genau wie er, nur für die Kunst lebt und mit „normalen“ Maßstäben nicht zu messen ist. Auch er fühlt sich von seinem Umfeld missverstanden. Er will nicht nur als Antikriegsmaler wahrgenommen werden. Er hat so viel mehr zu sagen und eine große stilistische Vielfalt zu bieten!


    Anita spürt diese Verbundenheit ebenfalls. „Sie war die Inflationsprinzessin, und die Inflation war vorbei, jetzt war sie wertlos wie ein Hundertrausendmarkschein. Vielleicht verstand Otto all dies, auch ohne dass sie es erklärte?“ (Seite 206)


    Zukunft?

    Auch wenn Otto und Anita sich zueinander hingezogen fühlen und vieles gemeinsam haben – hätten sie denn zusammen eine Zukunft?


    Die Autorin nimmt sich, vor allem bei den Nebenfiguren, ein paar dichterische Freiheiten, um uns eine Vorstellung davon zu geben, wie Anita Berber gewesen sein könnte. Was Dichtung und was Wahrheit ist, erklärt sie uns im Anhang. Für mich, die ich nur ein paar dürre Fakten über das Leben von Anita Berber kannte, liest sich die Geschichte plausibel. Und wer, nachdem er diesen Roman gelesen hat, mehr über die Protagonistin wissen möchte, kann gern den Literaturempfehlungen folgen, die die Autorin im Buch gibt.


    Was wirklich geschah …

    Was in den drei Tagen des Modellsitzens zwischen der Tänzerin und dem Maler vorgefallen oder nicht vorgefallen ist, weiß man nicht. Das Porträt „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ gibt’s aber wirklich. Es hängt in Stuttgart im Kunstmuseum. Vielleicht verlief die Sitzung wirklich so ähnlich wie Joan Weng es in diesem Roman beschreibt. Martha Dix, Ottos Frau, wird schon einen Grund gehabt haben, sich danach so spitz über die Berber zu äußern, wie es überliefert ist.


    Überhaupt: Martha Dix! Sie spielt hier nur eine Nebenrolle, ist aber eine überaus interessante Frau mit einer für die damalige Zeit außergewöhnlichen Lebensgeschichte. Das gilt auch für die Galeristin Johanna Ey, ebenfalls eine historische Person. Schon verschwindet man als Leser:in im Kaninchenbau des Internets und sucht nach Informationen über die Eheleute Dix und „Mutter Ey“. Und, zack, ist man wieder ein bisschen schlauer geworden und verdankt das diesem unterhaltsamen und berührenden Roman.


    Erstkontakt

    Für mich sind Romane über berühmte Persönlichkeiten immer so eine Art „Erstkontakt“ oder „Appetithappen“. Wenn ich dann finde, dass sich eine nähere Beschäftigung mit diesem Menschen lohnen könnte, mache ich mich auf die Suche nach weiterführenden Fakten. Von einem Roman erwarte ich gar nicht, dass er mir schon allumfassende Informationen liefert. Das ist nicht sein Job. Ein Roman soll uns unterhalten, vielleicht ein bisschen Stoff zum Nachdenken bieten und – im Fall dieses Genres – auf die reale Person neugierig machen. Das alles kriegt Joan Wengs DIE ROTE TÄNZERIN wunderbar hin.


    Sollte die Autorin je auf die Idee kommen, ihre umfangreichen Recherchen für diesen Roman dazu zu nutzen, ein Sachbuch über Anita Berber zu schreiben: Ich würd’s gerne lesen!


    Die Autorin

    Joan Weng, geboren 1984, studierte Germanistik und Geschichte und promoviert über die Literatur der Weimarer Republik. Im Aufbau Taschenbuch sind die Romane „Amalientöchter“, „Das Café unter den Linden“, „Die Frauen vom Savignyplatz“ und "Die Damen vom Pariser Platz" sowie die Kriminalromane „Feine Leute“ und „Noble Gesellschaft“ lieferbar. Mehr zur Autorin auf www.joanweng.de


    ASIN/ISBN: 3746638321

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

  • Das Buch wirkt schmal und eher unscheinbar, doch steckt so viel drin! Eine sehr differenzierte Annäherung an den durchaus schwierigen Charakter der Künstlerin Anita Berber, eine Hommage an den Maler Otto Dix und ein gelungenes Zeitporträt der 1920er Jahre. Das alles mit einer abgestimmten Sprache, die sich sehr gut an den Inhalt anpasst. Während am Anfang in kurzen Szenen fast mosaikartig Anita Berber und ihre Zeit porträtiert werden, so ändert sich der Schreib- und Erzählstil im zweiten Teil, als sich die Tänzerin und Otto Dix beim Modellsitzen annähern. Ich fand das sehr schön und vor allem auch sehr passend erzählt.


    Die Autorin hält sich bei ihrer Erzählung weitgehend an historische Ereignisse und füllt Leerstellen fiktiv, wie es gewesen sein könnte. Im Nachwort erklärt sie, was „echt“ und was erfunden ist. So kann man Fiktion und Tatsache sehr gut unterscheiden.


    Fazit: Ein schönes und gewinnbringendes Lesevergnügen, das mir Personen und Zeit der 1920er nahegebracht hat. Acht gelungene Eulenpunkte (von zehn) von mir.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021