Birgid Hanke: Helena Rubinstein und das Geheimnis der Schönheit. Roman, München 2022, Wilhelm Goldmann Verlag, ISBN 978-3-442-49104-9, Klappenbroschur, 637 Seiten, Format: 12,7 x 3,6 x 18,8 cm, Buch: EUR 11,00 (D), EUR 11,40 (A), Kindle: EUR 9,99.
Atemberaubende Aufsteiger-Geschichte
Hinter der Luxus-Kosmetikmarke „Helena Rubinstein“ steht eine Firmengründerin mit einer atemberaubenden Aufsteiger-Geschichte. Als Chaja Rubinstein 1870 in Kazimierz, einem Stadtteil von Krakau (Österreich-Ungarn, heute Polen) zur Welt kam, hat ihr niemand an der Wiege gesungen, dass sie einmal ein Unternehmen besitzen würde mit 100 Niederlassungen in 14 Ländern und 30.000 Beschäftigten sowie ein Privatvermögen von 100 Millionen Dollar. Das Kind hat nicht einmal eine Wiege.
Sie ist die älteste von 8 (überlebenden) Geschwistern. Das Geld ist immer knapp. Ihr Vater ist streng bis brutal, die Mutter permanent schwanger, im Kindbett oder krank. Chaja muss von klein auf den Haushalt führen und ihre jüngeren Geschwister aufziehen. Schulbildung? Minimal! Dabei ist das Mädchen klug und ehrgeizig. Ein bisschen Bildung und kulturellen Schliff erhält sie bei den gut situierten Nachbarn. Deren Sohn ermöglicht ihr, sich in die Universität zu schleichen um ein paar medizinische Vorlesungen zu hören. Gerne wäre Chaja Ärztin geworden, aber dafür fehlt es ihr an schulischen und finanziellen Voraussetzungen.
Flucht vor der Zwangsheirat
Irgendwann hat Chajas Vater die Faxen dicke von den Extravaganzen seiner Ältesten und arrangiert ihre Verheiratung. Doch Chaja hat andere Vorstellungen vom Leben. Als sich die Hochzeitsgesellschaft in der benachbarten Synagoge versammelt, sitzt sie im Zug nach Wien und schlüpft dort bei Verwandten unter. Doch Wien ist nur eine Zwischenstation. 1896 macht sie sich allein auf den Weg nach Australien, um dort einer geschiedenen Cousine mit den Kindern zu helfen. Mit neuem Vornamen – Helena statt Chaja – und um vier Jahre verjüngt, kommt sie dort an und ist bald enttäuscht. Die ausgewanderten Verwandten sind heruntergekommene Schwätzer und längst nicht so (erfolg-)reich, wie sie ihren Angehörigen in der alten Heimat weisgemacht haben. Helena wird ausgenutzt, schikaniert und belästigt.
Ihr einziger Verbündeter ist der Apotheker Hammerstein. Ihn bittet sie irgendwann, die Hautcreme zu analysieren und „nachzubauen“, die sie aus Europa mitgebracht hat. Ihre Vorräte gehen zur Neige und hier gibt’s so etwas nicht. Helena ist stolz auf ihre helle, zarte und gut gepflegte Haut. Keinesfalls will sie so wettergegerbt aussehen wie die Australierinnen.
Erster Schönheitssalon Australiens
Tatsächlich kriegen Hammerstein und sie eine brauchbare Creme zustande. Hier dürfte ihre Idee entstanden sein, daraus ein Geschäft zu machen.
Es braucht aber noch ein paar Jahre und etliche Umwege, bis Helena mit Hilfe eines erfahrenen Geschäftsmanns im Jahr 1902 in Melbourne den ersten Schönheitssalon Australiens eröffnen kann. Ein durchschlagender Erfolg! Berühmte Künstlerinnen und einflussreiche Damen der Gesellschaft zählen zu ihren Kundinnen, die Presse überschlägt sich vor Begeisterung.
Verheiratet ist Helena noch immer nicht, aber das ist ihr ganz recht so. Sie macht, was sie will und lässt sich von niemandem reinreden. Lange genug war sie von anderen abhängig und hat sich herumschubsen lassen. Das ist vorbei! Jetzt ist sie der Boss. Sie ist willensstark und durchsetzungsfähig, misstrauisch und ein Kontrollfreak. Niemand wagt es, ihr zu widersprechen, schon gar nicht all die armen Verwandten, die sie als Angestellte in ihre Firma holt und schlecht bezahlt. Ich weiß, „B*tch“ sagt man nicht. Aber wie so viele Self-Made Women aus kleinen Verhältnissen war sie eine, wenn man diesem Roman glaubt.
Hochstapler unter sich
Im Umgang mit der Wahrheit ist Helena kreativ. Über ihre Herkunft und ihre Qualifikation schwindelt sie ebenso wie über die ihrer mitarbeitenden Verwandten. Der einzige, der ihr dabei auf die Schliche kommt, ist der amerikanische Jurist und Journalist Edward William Titus. Und warum? Weil es einen Hochstapler braucht um einen anderen zu erkennen. Andersherum funktioniert es leider nicht, weil Helena sich Hals über Kopf in den charmanten Kerl verliebt. Die beiden heiraten, haben zwei Söhne, jetten um die Welt und eröffnen überall Niederlassungen. Sie leben in London, Paris und New York, haben die tollsten Immobilien, illustre Freunde und Bekannte und jede Menge Geld. Aber ihre Ehe verläuft turbulent.
Helena verzeiht ihrem Mann zwar manches, aber irgendwann ist Schluss und sie schmeißt ihn raus. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie ihn nicht stets wie einen Angestellten herumkommandiert hätte.
Helena hat’s nicht so mit Beziehungen auf Augenhöhe, bildlich gesprochen. Zu ihren Mentor:innen sieht sie auf, alle anderen haben gefälligst zu tun, was sie will. Ihre einzige wirklich gleichberechtigte Gesprächspartnerin ist die Ärztin Lilith Krapp, die sie 1905 auf ihrer Studienreise durch Europa kennengelernt hat. Die darf ihr auch unbequeme Wahrheiten sagen.
Schicksalsschläge
Geschäftlich hat Helena ein gutes Händchen, bei der Wahl ihrer Ehemänner eher nicht. Gatte Nr. 2 ist ein Spieler und hat auch sonst ein paar Geheimnisse. Und ihr privilegierter Lebensstil schützt die beiden nicht vor schweren Schicksalsschlägen ...
Ich verstehe das Milieu, aus dem Helena stammt und kann nachvollziehen, dass sie alles gegeben hat, um dort herauszukommen. Und „Madame“ und „Prinzessin“ hin, Vermögen her: Irgendwie bleibt sie immer ein bisschen die zähe kleine Chaja aus dem Kazimierz in Krakau.
Der Roman umfasst mehr als 630 Seiten, doch bei so einer wechselvollen Lebensgeschichte hat man die im Nu gelesen. Selbst wenn man, wie ich, immer wieder nach den Figuren und Ereignissen im Roman googelt. Wie haben die Protagonistin, ihre Angehörigen und engsten Mitarbeiter ausgesehen? Gibt’s Fotos von ihrer Kunstsammlung? Kannte sie wirklich all diese Promis? Ach, und den Skandal da bei der Ballettpremiere hat es wirklich gegeben, genau wie das brennende Kleid auf der Party!
Über manche wichtigen Nebenfiguren findet man nichts im Internet. Die wurden vielleicht aus dramaturgischen Gründen dazu erfunden. Das ist vollkommen legitim: Es ist ja ein Roman und keine Biographie. Aber so etwas wüsste ich gern. Das könnte man im Anhang erwähnen.
Zeitsprünge und Rückblenden
Die Geschichte wird nicht streng chronologisch erzählt, es gibt Zeitsprünge und Rückblenden. Sie beginnt 1892 in Krakau und endet 1965 in New York.
Manchmal stutzt man schon kurz. Wie jetzt? Die Herzogin ist über 80? Die war doch gerade noch eine blutjunge Ehefrau! Und was macht jetzt der Dingens da, der ist doch schon tot? Ein kurzer Blick auf die Jahreszahl in der Zwischenüberschrift schafft Klarheit. Darauf sollte man also achten, um sich schnell orientieren zu können.
Wenn man an der Lektüre dranbleiben kann, funktioniert das prima, hat man längere Lesepausen, kommt man schon mal ins Schleudern. Das ist aber nicht dramatisch.
Ich habe das Porträt einer zielstrebigen Frau, die sich aus bitterster Armut in die höchsten gesellschaftlichen Kreise emporgearbeitet hat, mit großem Interesse und viel Vergnügen gelesen.
Die Autorin
Birgid Hanke ist in Nordrhein-Westfalen geboren, in Hessen aufgewachsen und in Norddeutschland schon lange zu Hause. Nach dem Jurastudium arbeitete sie in verschiedenen Berufen, ehe sie zum Schreiben fand und zahlreiche Bücher verschiedenster Genres veröffentlichte. Sie lebt als freie Autorin in Bremen.
ASIN/ISBN: 3442491045 |