Kindheit im Schatten: Wenn Eltern krank sind und Kinder stark sein müssen – Maja Roedenbeck
Herausgeber : Ch. Links Verlag; (20. April 2016)
Sprache : Deutsch
Taschenbuch : 232 Seiten
ISBN-10 : 3861538792
ISBN-13 : 978-3861538790
Inhalt:
Menschen, die als Kind einen kranken Elternteil hatten - körperlich, psychisch oder suchtkrank -, machen ihre schwierige Kindheit oft erst im Erwachsenenalter zum Thema: Wenn die Partnersuche erfolglos verläuft, sie auf Schwierigkeiten in Beziehungen stoßen oder beim Gründen der eigenen Familie überfordert sind. Schuldgefühle, Verlustängste, Probleme im Miteinander oder Depressionen beeinträchtigen nicht selten ihr Leben. Maja Roedenbeck erzählt die berührende Geschichte ihrer Familie und versammelt zahlreiche Stimmen von Betroffenen sowie Ratschläge von Experten. Ihr Buch hilft, die Schatten der Kindheit anzunehmen und macht Mut, das eigene Leben zu leben.
Triggerwarnung:
Ich bin selbst von dem Thema betroffen – meine Mutter litt seit ihrer Schwangerschaft an mir unter MS. Inzwischen bin ich Ü60, trotzdem hat das Buch es geschafft, alten Groll, Wut und Traurigkeit in mir hochzuspülen. Ich kann hier keinen neutralen Leseeindruck schreiben, sondern muss auch von meinen persönlichen Erfahrungen und Gefühlen berichten. Falls ihr ebenfalls zu den Betroffenen gehört, egal ob Kind oder Elternteil, dann lest nur weiter, wenn es euch gut geht.
Mein Leseeindruck:
Das Buch bespricht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Familien von körperlich und psychisch kranken und suchtkranken Eltern(teilen), insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen auf die in der jeweiligen Familie lebenden Kinder. Jeder Teil beginnt mit einer allgemeinen, mehr theoretischen Darstellung, gefolgt von Betroffenenberichten und Interviews mit Psychologen, Sozialarbeitern und anderen Fachleuten.
Jedes Wort in dem Buch ging mir nahe, vor allem natürlich, wenn es um Kinder in Familien mit einem körperlich kranken Elternteil ging. Wie oben beschrieben bin ich selber vom Thema betroffen und durch das Buch habe ich einige meiner weniger bewussten und unbewussten Strategien entdeckt, die mich heute noch durch den Alltag begleiten.
Z. B. fällt es mir schwer, meine eigenen Wünsche überhaupt erst einmal wahrzunehmen. Ich bin es zu sehr gewohnt, auf die Bedürfnisse Anderer einzugehen, mich nach denen zu richten und vermeintlich kein Recht auf eigene Sorgen zu haben. Natürlich fiel es mir als Kind schwer, immerzu für die kranke Mutter und den überforderten Vater Verständnis zu haben, und es hat mich geschmerzt, dass meine Wünsche oft nicht erfüllt werden konnten. Unsere Lebenssituation war nicht verhandelbar, trotzdem habe ich mir oft gewünscht, dass mein eigenes Leid wahrgenommen wird, egal von wem. Eine andere Folge ist, dass ich es noch heute vermeide, mich zu früh auf ein geplantes Ereignis zu freuen, denn die Erfahrung hat gezeigt, dass z. B. ein Zoo- oder Restaurantbesuch noch platzen kann, wenn man schon in Mantel und Schuhen im Hausflur steht. Erst wenn ich im Auto sitze, kann ich mich entspannen und vorsichtig anfangen, mich auf den Tag zu freuen.
Interessant war zu lesen, dass die langfristigen Auswirkungen auf die „Young Carers“ noch gar nicht so lange Gegenstand der Forschung sind. Zu Kindern suchtkranker Eltern gibt es allerdings schon mehr Literatur, auch zu Kindern psychisch kranker Eltern. Aber die Kinder der körperlich kranken Eltern erhalten erst seit etwa 10 Jahren die Aufmerksamkeit der Wissenschaft. Den Weg in die Gesetze, Ämter und Krankenkassen hat dieses Wissen aber noch lange nicht gefunden. So besteht heute noch „Hilfe“ möglicherweise darin, dass Kinder in Pflegefamilien untergebracht werden, weil es nicht vorgesehen ist, eine langfristige und regelfinanzierte Hilfe im Haushalt zu bekommen. Während in Deutschland Krankenhausaufenthalte, Operationen und Reha-Maßnahmen einigermaßen organisiert und finanziert sind, fallen die Familien in ein Loch, wenn die Patienten wieder nach Hause entlassen werden. Hilfe im Haushalt kann zwar beantragt werden, aber diese ist auch bei eindeutiger Diagnose einer (lebens-) langen Krankheit zeitlich eng gefasst – natürlich hilft es, wenn über 3 Wochen eine Hilfe im Haushalt arbeitet, aber chronisch Kranke sind nicht in 3 Wochen gesund und fit genug, um einen Haushalt mit Kindern wieder selbst zu schmeißen.
Ich erinnere mich noch heute gut an die Helferinnen, die bei uns ein- und ausgingen. Meistens waren das Diakonissen in grauen Kleidern und weißen Häubchen, sie kochten alle sehr gut. Eine der Diakonissen, die uns betreute, kam aus Schlesien und kochte die weltbesten Eintöpfe.
Das Buch bleibt nicht in der Theorie, es liefert auch ganz konkrete Vorschläge, wie man mit der Familiensituation umgehen kann. Z. B. wird immer wieder betont, dass Geheimniskrämerei um die Krankheit eher kontraproduktiv ist und es viel Energie kostet, dieses Geheimnis aufrecht zu erhalten. Energie, die dann anderswo fehlt. Kinder nehmen Krankheiten der Eltern oft als nüchterne Tatsache auf, und sie haben in der Regel meistens sowieso schon gemerkt, dass in ihrer Familie irgendetwas anders ist als bei den Familien der Schulfreunde. Dafür kann man ihnen frühzeitig eine Erklärung liefern, mit der sie umgehen können.
Leider war in meiner Familie die MS meiner Mutter ein Tabu, und wir Kinder merkten sehr schnell, dass Mama nicht dazu gefragt werden will. Ich war schon im Gymnasium, als ich überhaupt erstmal den Namen der Krankheit erfahren habe und mich informieren konnte. Ich hätte die Infos gerne früher gehabt, denn natürlich fragten die Schulkameradinnen schon in der Grundschule, warum meine Großmutter zum Elternabend kommt und nicht meine Mutter. Und warum ich am Schulanfang alleine im Schreibwarenladen stand, um Hefte und Umschläge zu kaufen, während die Freundinnen mit ihren Müttern kamen. Aber meine Geschwister und ich haben uns nie getraut, das Thema im Familienkreis anzusprechen. Hier galt das Motto „Wir sind eine ganz normale Familie“. Waren wir aber nicht.
Das Buch verschweigt aber auch nicht, dass die „Young Carer“ positive Eigenschaften für ihr späteres Leben aus dem Erlebten ziehen können. So reagieren Sie in der Regel gelassener auf Probleme und können diese schnell und unaufgeregt lösen, sie handeln pragmatisch und flexibel – Eigenschaften, die Arbeitgeber aller Art gerne sehen.
Schlusssatz im Buch:
Eine „Kindheit im Schatten“ trägt man ein Leben lang mit sich herum.
Ich könnte hier noch seitenweise schreiben. Aber damit soll es jetzt gut sein.
Ich empfehle das Buch allen Betroffenen, egal ob (ehemaliges) Kind oder Elternteil oder „nur“ Bekannte einer betroffenen Familie.
ASIN/ISBN: 3861538792 |