Schreibwettbewerb Oktober 2005 - Thema: "Mitternacht"

  • Thema Oktober 2005:


    "Mitternacht"



    Vom 01. bis 20. Oktober 2005 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Oktober 2005 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de oder über das Kontakt-Formular (s.o. im Forum) zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.



    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörter wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!



    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!



    TIPP: Schreibt Eure Beiträge in Word und nutzt die Rechtschreibhilfe. Im Programm Word findet Ihr unter „Extras“ die Möglichkeit „Wörter zählen“.



    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Marlowe


    Sie saßen im Thronsaal, schwiegen und warteten auf Mitternacht . Nur Kaspar flüsterte manchmal: Er wird kommen!
    Mustafa, der einzige Bedienstete, der ihnen geblieben war, kam hereingestürzt. „Ein Stern ist aufgegangen, im Süden, deshalb sind alle weggelaufen!“
    Balthasar, Kaspar und Melchior erhoben sich.. „Wir müssen ihn suchen“ sagten sie.
    Sie durchstreiften die verwaisten Räume ihres Palastes, gewandeten sich in den schönsten Kleidern und nahmen die wertvollsten Geschenke, die sie fanden.
    Sie gingen nur Nachts, folgten dem Schein und Mustafa begleitete sie. Die Umgebung wurde fremdartig. Dann, plötzlich, fielen ihnen die Haare aus, danach die Zähne und ihre Finger- und Zehennägel.
    Er hat die Macht, er zeigt uns Seine Stärke, murmelten sie zwischen ihren Gebetsgesängen.
    Schließlich standen sie vor einer Ruine, der Schein umgab sie und sie wussten, sie waren am Ziel.
    Andächtig und ehrfurchtsvoll traten sie ein. Kaum hatten sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, fielen sie auf ihre Knie. Da war er, der Angekündigte, der Auserwählte, der neue König.
    Das Baby mit der Ausstrahlung eines Erwachsenen schwamm in einem silbernen Trog, zog seine Kreise unter Wasser, schöpfte Luft und schwamm. Ein kleines Feuer unter dem Trog erwärmte das Wasser Als es die Besucher bemerkte, hielt es inne und sah sie an.
    Ängstlich breiteten sie ihre Gaben, wirklich eines neuen Königs dieser Zeit würdig, vor dem Kinde aus. Räucherstäbchen, ein Beutel Marihuana, Gold und eine original verpackte DVD “Mitternachtsspitzen“.
    Es lächelte und sendete seine Botschaft in ihre Köpfe. „Ihr habt an mich geglaubt und seit gekommen. Doch nun geht in Eile und erzählt der Welt, was ihr gesehen habt.“ Voller Staunen und Ehrfurcht betrachten sie seinen göttlichen, haarlosen Körper, die beiden kleinen Arme, die Füßchen und die vier Tentakel, den schnabelförmigen Mund.
    Sie erhoben und verbeugten sich, gingen rückwärts wieder hinaus und stolperten davon. Mustafa, der draußen hatte warten müssen, rannte hinter ihnen her und erfuhr erst nach und nach, was sie gesehen und erlebt hatten.
    Nach vielen Tagen wurde die Gegend wieder fruchtbarer, große Schilder, an denen sie wohl auf der Hinreise nachts vorbeigegangen waren, starrten ihnen entgegen. Was steht da, fragten sie Mustafa, denn nur er war des Lesens mächtig. “Herzlichen Glückwunsch, sie verlassen die radioaktive Zone“ stand auf den Schildern aber Mustafa las laut: „Sie verlassen nun das gelobte Land.“

    Sie beschlossen, sich zu trennen um die gute Botschaft so schnell wie möglich überall hin zu verbreiten. Der Zufall wollte es, dass sie sich nach langen Monaten in Köln wieder trafen und kurz darauf um Mitternacht gleichzeitig starben.
    Da sie in der Nacht leuchteten und den Menschen, wenn sie in ihrer Nähe waren, die Haare ausfielen, wurden sie in bleierne Särge gelegt und aufgebahrt. Erst am Tage des jüngsten Gerichtes sollten sie ihren Schein wieder verbreiten.

    Mustafa aber ging in seine Heimat und erzählte seiner Familie das Erlebnis. Über Generationen wurde die Geschichte mit leichten Verfremdungen weiter erzählt und sechshundert Jahre später beschlossen die Nachfahren, Mustafa zum Propheten zu erklären.

    Der psychiatrischen Klinik sollte man aber keinen Vorwurf machen, sie waren ja als harmlos eingestuft worden.

  • von Perseus


    Er schreckte ruckartig hoch.


    Ein Geräusch.


    Gähnend und blinzelnd starrte er Richtung Tischuhr, deren Display in der Dunkelheit aufleuchtete.. Eine halbe Stunde vor Mitternacht.


    „Oh, ist es wieder soweit.“, dachte Marshall, reckte und streckte sich genüsslich, bevor er sich vom Bett erhob, in seine Schuhe schlüpfte, dass Licht einschaltete, seine Uniform zurechtmachte, mehr oder weniger ordentlich.


    Wieder ein Geräusch. Schleppend bewegte sich Marshall Richtung Tür, schloss sie auf, sofort die Konturen des kantigen Gesichts von Greg erkennend.


    „Unser Kunde wartet schon!“, grinste Greg, sichtlich ebenfalls gerade aufgewacht.


    „Ach, ja, unser Kunde!“.


    Schon lange hatten sie keinen Kunden mehr. Nun, nach langen, ja zähen Verhandlungen, war es wieder soweit. Offensichtlich ist vor wenigen Stunden das kategorische „Okay! Just do it!“ per Telefon durchgegeben worden, den Kunden endlich betreuen zu können.


    Greg und Marshall gingen durch lange Gänge, sauber, äußerst steril, wenn auch der Geruch von Schweiß die Luft bestimmte.


    Vor dem hintersten Raum blieben sie stehen.. „Ted, es ist soweit!“ krächzte Greg heiser. Ted, wohl seit Stunden wach, nickte.


    So schritten sie weiter durch zahlreiche Gänge. Die zwei Uniformierten, und voran, ihr blasser Kunde Ted, der nervös Fingernägel kaute.


    Im 3. Gang gesellte sich schweigend Dr. Nick hinzu, der für das Controlling zuständig war.. „Es gibt hier nichts wichtigeres als Qualitätsmanagement.“, pflegte Greg gerne zu sagen.


    Vorbei an zahlreichen weiteren Kunden, kamen sie endlich ans Ziel.


    Ein großer, finsterer Raum, genau genommen aufteilt in 2 Bereiche. Ein großer Raum, dessen Mittelpunkt ein unscheinbarer Sessel bildete, und der kleinere Raum, praktisch Marshalls Arbeitszimmer.


    Währendessen sich Marshall in sein Arbeitszimmer begab, deutete Greg Ted Richtung Stuhl: „Bitte Ted, setzen Sie sich.“


    Ted tat dies ohne Widerrede.


    „Ted, Sie wissen ja, wie es funktioniert.“, murmelte Greg, als er Ted laut Vorschrift an den Stuhl fixierte. „Sie brauchen keine Angst zu haben Ted, dies gehört doch zur Routine.“, fügte der gutmütige Dr. Nick hinzu.


    Marshall blickte auf seine Armbanduhr. Noch 5 Minuten.


    Greg vollzog weiterhin penibel seine Arbeit. Der Kundenhut, wie es die Mitarbeiter im Jargon sagten, war schon aufgesetzt, ebenfalls das Beinband, wobei Greg zufrieden nebenbei bemerkte, dass der Friseur wieder einmal hervorragende Arbeit geleistet habe


    „Und nun, zum Schluss, die geheimnisvolle Verschleierung, damit Spannung garantiert ist.“, sagte Greg, und legte Ted eine einfache Augenbinde um. Mit erhobenem Daumen beendete Greg seine heutige Schicht.


    Noch 2 Minuten bis zur Kundenbetreuung.


    Jetzt erst bemerkte Dr. Nick, der abseits stand, die vielen Beobachter hinter der Glaswand, die die Betreuung des Kunden aus den verschiedensten Gründen beobachten wollten. Dr. Nick grinste und winkte den Beobachtern zu.


    1 Minute bis Mitternacht.


    Nun spitzte Marshall gespannt die Ohren. Er brauchte nun keine Uhr. Nur seine Ohren.


    Die Kirchenglocke in der gegenüberliegenden Straße schlug gen Mitternacht.


    Marshalls Part war gekommen. Sogleich befolgte Marshall seinen einzigen Schritt, den er heute tun musste: Er legte den Hebel um.


    Ted zuckte.


    5 Minuten später war Dr. Nick an der Reihe, sein Controlling zu bewerkstelligen. Sein Blick sagte alles.


    Wieder ein glorreicher Tag für Heimat- und Vaterland.
    Um Punkt Mitternacht.

  • von Trugbild


    Deprimiert und lustlos sass das kleine Schreckgespenst auf der Treppe und bohrte in seinen schaurig ekligen Fleischwunden rum. Zwanzig Minuten nach Mitternacht und das Haus war völlig verlassen. Seit die Gerbers geschieden waren und sich der Herr des Hauses auf und davon gemacht hatte, war nichts mehr so wie früher. Frau Gerber schien ihre Jugend nachholen zu wollen und verbrachte die Nächte in Tanzlokalen oder auf privaten Feiern, die beiden jugendlichen Kinder nutzten die neu gewonnene Freiheit ihrerseits zu langen Ausflügen – wohin auch immer.
    Und das Schreckgespenst? Es verbrachte seine einzige Stunde des Tages mit rumsitzen, freudlosem Kettenrasseln und zwecklosem Seufzen. Noch letzte Woche hatte es auf dem alljährlichen Walpurgisnacht-Treffen erfahren, dass es mit seinen Problemen nicht allein war. Die Gesellschaft der Menschen veränderte sich und die einst so geschickt gewählte Geisterstunde zwischen Mitternacht und 1 wurde mehr und mehr zum Leerlauf. Die kleinen Kinder waren vom täglichen Videospiel und Fernsehen dermassen betäubt, dass man sie nachts kaum wach kriegte. Und wenn die Jungs unter der Nase den ersten Flaum entdeckten und den Mädchen die ersten Ansätze einer weiblichen Brust wuchsen, machten sie ihr Recht auf lange Besuche bei Freunden geltend und kamen kaum je vor 1 Uhr zurück. Und wenn doch, waren sie so zugedröhnt, dass sie das Schreckgespenst noch nicht einmal mehr zur Kenntnis nahmen – Klappern und Rasseln hin oder her.
    Zerrüttelte Familienverhältnisse, rebellierende Kinder und chaotische Zustände in den eigenen vier Wänden mochten für Menschen ein Problem sein, aber wer waren denn die wirklichen Leidtragenden? Die armen, kleinen Dinger, denen man Nacht für Nacht die einzige Stunde ihrer Existenz nahm!
    Das Schreckgespenst hatte noch nicht einmal mehr Lust, seine Fleischwunden zu pflegen. Einst als grauenvoller Anblick für menschliche Spuk-Opfer gedacht, liess es sie jetzt mehr und mehr zuwachsen. Wozu sollte es auch noch den ganzen Aufwand betreiben? Wieso sich auftakeln, wenn ja doch niemand da war, den man damit hätte schockiert können?
    „Die Geisterstunde geht vor die Hunde“, seufzte das Gespenst und dachte nicht zum ersten mal darüber nach, sich bei der Gewerkschaft zu melden und die Stelle zu kündigen.
    Und dann? Zurück ins Grab? Das Geister-Dasein an den Nagel hängen? Das käme einem Selbstmord gleich. ‚Aber was soll’s’, dachte sich das Gespenst. ‚Ist ja nicht das erste mal, dass ich mich umbringe...’

  • von Callabluete


    Zwölf mal schlug die große Standuhr im Flur. Mitternacht. Wie sie es hasste. Fröstelnd lag sie unter ihrer weichen Bettdecke. Sie wußte genau was jetzt kommen würde.
    Da war es schon, das knacken der Treppe, die gedämpften Schritte auf dem Teppisch und ein leises klopfen. Wie immer zog sie sich zitternd die Bettdecke über dem Kopf, und betete im stillen, das es weggehen würde.
    Wie jede Nacht schlief sie voller Angst ein, und träumte schlecht.
    Das Kindermädchen weckte sie mit dem schein der Sonne und rief fröhlich: „Guten morgen meine liebe! Hast du gut geschlafen.“ Glücklich die Nacht wieder überstanden zu haben, stieg sie aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer.
    Im Salon saß sie ihrem Großvater stocksteif gegenüber. Immer wieder überlegte sie wie sie dieses Thema anfangen sollte, Kirsten nahm all ihren Mut zusammen und fragte: „Um Mitternacht höre ich jemanden.“ Erstaunt hob er seine buschigen Augenbrauen und schaute sie fragend an. Ihr wurde auf einmal sehr warm, und sie sagte schnell: „Na ja vielleicht träume ich das auch nur.“ Er widmete sich wieder seinem essen.
    Nach dem Frühstück rannte Kirsten in die Küche um sich bei Petty der Köchin auszweinen. Mißmutig setzte sie sich auf die Eckbank.
    „Was ist mein Kind?“, fragte Petty fürsorglich. „Jede Nacht höre ich jemand vor meinem Zimmer.“, antwortete sie. Petty schaute sie fragend an ging aber nicht näher darauf ein. Keiner wollte mit ihr darüber sprechen, als ob es etwas geheimnisvolles war.
    Als der Abend kam nahm sich Kirsten vor diesmal nachzusehen wer vor ihrer Tür stand.
    Kurz vor zwölf war sie bereit, mit einer Kamera ausgestattet stand sie an der Treppe zur zweiten Etage. Ihre Tür immer im Blick. Es schlug Mitternacht. Vor lauter Angst und aufregung zitterte sie am ganzen Leib.
    Viertel nach zwölf, nichts und niemand war vor ihrer Tür gewesen. Irritiert lief sie in ihr Zimmer, wie konnte das nur sein. Bevor sie in ihr Bett kroch horschte sie noch einmal auf, aber keiner kam. Die Nacht verlief ruhig und erholsam. Kirsten nahm sich jetzt jede Nacht vor zu warten, bis sie endlich einen Beweis hatte.
    Zwei Wochen später kurz vor zwölf saß sie wieder auf der Treppe und starrte auf ihre Tür. Schläfrig vielen ihr die Augen zu, immer wieder nickte sie ein. Als es zwölf schlug hörte sie wieder das knacken der Treppe die gedämpften Schritte und das leise klopfen. Erschrocken fuhr sie hoch und schaute auf ihre Tür, doch niemand stand vor ihrem Zimmer. Wie konnte das sein sie hatte doch nur für einen moment die Augen geschlossen.
    Nach endlosen Wochen des wartens beschloß sie es zu lassen. Kirsten lag um zehn Uhr im Bett und wartete geduldig auf Mitternacht. Als die Uhr zwölf mal schlug vernham sie ein knacken , Schritte und ein klopfen. Ängstlich fuhr sie aus dem Schlaf, da stand jemand. „Kirsten? Du hast so laut gerufen! Was ist den passiert!“, fragte Patty. „Ich war wach!“ „Nein! Du schläfst um diese Zeit immer! Du träumst nur sehr schlecht!“ Konnte das sein?

  • von Caren


    Die alte Standuhr schlug 12 mal, dumpf, geräuschvoll. Ganz anders das Geräusch der zwei Champagnergläser die sich so sanft trafen, wie die Blicke von Nadja und Francine. Nach einem kleinen Schluck zogen sie die Gläser von den Lippen, denn jetzt wollten sie sich treffen, ihre Lippen, ihre Zungen. Sanft gerieten die Hände in Bewegung und sie berührten ihre Rücken, die Schultern, zart, ein leichtes Streicheln von Francine über Nadjas wohl geformten Po. Beide atmen tief durch. Nichts stört diese Harmonie, diese Zweisamkeit, dieses Wohlbefinden. Das Kribbeln steigert sich, ein mitternächtlicher Traum geht heute in Erfüllung. Heute ist die Nacht der Nächte.


    Sie befinden sich im Ahnensaal auf Schloss Reichenau und wissen, dass die Blicke, die auf sie fallen nicht wohlwollend sind. Das Kerzenlicht leuchtet nur ihr Liebesbett aus und so bleiben ihnen die Blicke der Toten verschlossen. Grandios, einmalig und ein Leben in Harmonie und Zweisamkeit. Ab heute ist es Wirklichkeit. Schmachtend und voller Sehnsucht finden ihre Lippen wieder zueinander, das Spiel ihrer Zungen wird noch fordernder und langsam rutschen die Träger der Negliges von den Schultern, über die Brüste und zur Hüfte. Es wird nie wieder so schön sein wie in diesen Minuten nach Mitternacht. Keine Macht der Welt bringt ihnen diese Zeit zurück und so genießen sie. Die Welt steht still, sie hat aufgehört sich zu drehen, nur um diesen Moment festzuhalten, so festzuhalten wie Nadja und Francine sich in den Armen halten. Jede Berührung ein Reiz, ein Beben, ein Zittern und die Sehnsucht nach dem vollkommenen Spiel.


    Francine, Gräfin zu Reichenau und Nadja, die Vollkommene. Sie haben alles auf eine Karte gesetzt, ihre Energien genutzt für ein großes Ziel. Und seit 12 Uhr heute Mittag steht dem nichts mehr im Wege. Sie haben ihn zu Grabe getragen, den letzten Grafen zu Reichenau. Nadja lächelt beseelt, und Francine versteht sie ohne Worte. Die Weinleidenschaft derer zu Reichenau war ihr Untergang, sie lieben nur Champagner. Er perlt wie ihre Liebe, mit jedem Schluck weicht etwas von der Besinnung und ein leichter Rausch stellt sich ein. Ein Liebesrausch um Mitternacht.

  • von Waldfee


    Manche wählen die Gestalt eines Fabelwesens. Andere halten auf Traditionen, wickeln sich in schwarze Umhänge mit großen Kapuzen und tragen Sensen bei sich. Ich komme in Menschengestalt, Geschlecht und Verkleidung variieren. Ich liebe effektvolle Auftritte und erscheine grundsätzlich um Mitternacht. Um meinen Job machen zu können, muss man einiges erlebt haben. Allem voran den Tod.


    Der Tod ist ein umgänglicher Kerl und ein guter Unternehmer, einzig: Er kennt keine Moral. Als wir uns kennen lernten, gestand er, nach mir geschickt zu haben, weil ich ein guter Verkäufer sei. Er bot mir eine Stelle als Gesandter an. Schon zu Lebzeiten hatte ich nichts so sehr gefürchtet wie die Langeweile. Also schlug ich ein.


    Ich handelte auf Weisung des Todes und viele Aufträge gefielen mir nicht. Deshalb reichte ich einen Verbesserungsvorschlag ein:


    1. Mehr Gerechtigkeit bei der Auswahl der Kunden – schlechten Menschen den Vorzug geben, gute Menschen erst in hohem Alter abberufen. Ziel: Wertewandel innerhalb der Belegschaft, Image-Verbesserung im Diesseits.


    2. Dienstleistungen nicht unter Zwang erbringen, ein Nein akzeptieren, Aufschübe gewähren. Ziel: Chancen der Mundpropaganda nutzen, Verbesserung des Ansehens der Marke TOD im Diesseits.


    Der Tod war amüsiert. Das einzige, was ihn kümmere, sei der Umsatz. Auf ein positives Image pfeife er. Ich hatte jedoch einen Vertrag auf Todeszeit unterschrieben und beschloss, meine Arbeit fortan positiv zu sehen: Sie ist abwechslungsreich, erfordert Fantasie und Einfühlungsvermögen, und sie führt mich regelmäßig ins Diesseits.


    Ich arbeite eng mit unseren Partnern zusammen, am häufigsten mit der Krankheit, der Sucht und dem Zufall. Sie leisten die Vorarbeit, ich mache den Abschluss. Meist ist die Vorarbeit so gut, dass der Kunde nur noch unterschreiben muss. Doch einige weigern sich. Sie bevorzugen es, fünfzehn Jahre oder länger im Wachkoma zu liegen, ertragen schlimme Schmerzen und fristen ihr Dasein unter unwürdigsten Bedingungen. Solche Fälle sind eine Herausforderung.


    Manchmal reichen ein billiges Nuttenkostüm, ein großer Busen und verheißungsvolle Andeutungen. Wo nötig komme ich mehrmals, wiederhole mein Angebot und mache kleine Geschenke: Miniatur-Sensen, die als Brieföffner dienen, fluoreszierende Totenköpfe oder winzige Gebetsbücher, die beim Aufschlagen die Titelmelodie von „Spiel mir das Lied vom Tod“ wiedergeben. Der Verkaufsschlager ist mein Auftritt in weißem Gewand und strahlendem Licht, natürlich zur Geisterstunde, begleitet von engelschorgleichem Gesang. Ich behaupte nicht, Gott zu sein, um Himmels Willen. Ich spreche mit sanfter, sonorer und zugleich gütiger Stimme. Die Wirkung ist großartig, und der Tod ist sehr zufrieden mit meiner Abschlussquote.


    Heute erhielt ich jedoch ein Schreiben auf leuchtendem Papier:


    Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihrem anmaßenden Geschäftsgebaren als Gesandter des Todes nicht länger tatenlos zusehen kann. Ich werde daher veranlassen, dass Ihr Vertrag auf Todeszeit vorzeitig gelöst wird. Da Ihre Vorschläge für die Image-Aufwertung der Marke TOD jedoch in meinem Sinne sind, biete ich Ihnen einen guten Platz im Jenseits an. Leider sind meine jahrtausende währenden Verhandlungen mit dem Teufel über eine Änderung der Geschäftspraktiken unseres gemeinsamen Unternehmens TOD im Sinne von mehr Gerechtigkeit und Kundenfreundlichkeit bislang ergebnislos verlaufen. Ich bleibe aber dran.


    G.

  • von Kim_Meridian


    Christian hetzte keuchend durch den dichten Wald.
    Er musste laufen, immer weiter laufen, weit weg.
    Zweige streiften ihn, kratzten an seiner nackten Haut und er stolperte über gefallene Äste, doch er durfte nicht anhalten. Das fahle Mondlicht warf silberhelle Flecken auf den Waldboden. Der runde Mond glänzte am Himmel wie eine Perle, doch Christian konnte seiner Schönheit schon lange nichts mehr abgewinnen.


    Der junge Mann gönnte sich eine kurze Atempause und zwang sich dann weiter zu laufen. Er musste weg von Flora.
    Beim Gedanken an sie wurde ihm warm, ja geradezu heiß. Wie sie dort gelegen hatte, schlafend, ihre milchweiße Haut und ihre honigfarbenen Locken. Ein hinreißender Kontrast zu der dunkelgrünen Wiese. Und er hatte sich hinreißen lassen.
    Aber Mitternacht war immer näher gerückt, unaufhaltsam. Und als der Vollmond Floras zarte Haut erleuchtet hatte und der Schein sich in ihrem Perlenschmuck widerspiegelte, war Christian jäh bewusst geworden, in welcher Gefahr sie schwebte. Und dass diese Gefahr von ihm ausging.
    Und dann rannte er.


    Mitternacht war gekommen, das spürte er. Die Verwandlung stand bevor.
    Es fing mit dem vertrauten Ziehen in seinen Knochen an. Sie begannen sich zu verformen, die Haut spannte sich, Haare breiteten sich über seinem Körper aus, seine Kieferknochen verbreiteten sich, seine Zähne nahmen gigantische Ausmaße an, seine Augen begannen zu glühen und sein menschliches Bewusstsein wurde zurückgedrängt, in die hinterste Ecke und die Bestie nahm ihren Platz ein.


    Schließlich kehrte Christians Bewusstsein an seinen Platz zurück und er wurde wieder Herr seiner selbst. Die Rückwandlung war bereits abgeschlossen und er lag nackt auf dem taufeuchten Waldboden. Der Himmel über ihm färbte sich schon rot. Die Sonne würde bald aufgehen. Christian setzte sich auf. Und dann sah er das Blut.
    Der rote Lebenssaft klebte an seinem Leib, bedeckte seine Hände, sein Gesicht. Was hatte er nur getan? Er hatte gemordet... aber was? Oder wen?


    Schließlich wurde ihm bewusst, dass er etwas in seiner Hand hielt.
    Er öffnete die blutverkrusteten Finger und blickte auf einen glitzernden Perlenohrring. Und da wusste er, dass er nicht weit genug gelaufen war.

  • von Churchill


    Die Nacht ist vorgedrungen,
    der Tag ist nicht mehr fern.
    So sei nun Lob gesungen
    dem hellen Morgenstern.


    Sein Blick fiel auf diese Zeilen, die er vor fast genau 5 Jahren geschrieben hatte. Ein Adventslied, das die Ankunft des Herrn ankündigte. Schon damals war es keine leichte Zeit. Umso heller sollte der Morgenstern strahlen. Für alle Menschen, die daran glaubten, dass Gott als kleines Kind in die Welt gekommen war, um Erlösung für alle möglich zu machen.
    Jochen Klepper schloss die Augen. Sein Text war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Jetzt stach er ins Fleisch und ließ das Blut stocken.


    Auch wer zur Nacht geweinet,
    der stimme froh mit ein.
    Der Morgenstern bescheinet
    auch deine Angst und Pein.


    Froh einstimmen... Wie naiv. Genauso naiv hatte er sein Leben gelebt. 39 Jahre bis zum heutigen Tag. Naiv hatte er gedacht, er würde ein großer Schriftsteller werden können. Ein paar kleine Geschichten, ein ganz netter und ein richtig guter Roman waren ihm gelungen. Und eben die Kirchenlieder. Naiv hatte er gehofft, seine Familie würde akzeptieren, dass er Hanni heiratet, auch wenn sie Jüdin war , 11 Jahre älter als er und zwei Töchter mitbrachte. Naiv hatte er gemeint, als Soldat Frau und Kinder retten zu können, um dann schließlich wegen Wehrunwürdigkeit entlassen zu werden. Welche Würde! Und nun Angst und Pein pur. Kein Morgenschein. Nacktes Weinen zur Nacht.


    Noch manche Nacht wird fallen
    auf Menschenleid und -schuld.
    Doch wandert nun mit allen
    der Stern der Gotteshuld.


    Dunklere Nacht war nicht zu denken. Bis heute Nachmittag gab es Hoffnung wenigstens noch für Renate. Schweden hatte „Ja“ gesagt zur Aufnahme der Tochter. Eichmann hatte es verhindert. Höchstpersönlich. Ein kaltes Nein. Keine Ausreise. Welch eine Nacht, die auf ihr Leid fiel. Auch auf die Schuld der anderen ?
    Klepper hob den Kopf und schaute auf Renate. Wache , klare Augen erwiderten seinen Blick. Auf der anderen Seite die gelassene Ruhe im Gesicht von Hanni, die langsam nickte.


    Beglänzt von seinem Lichte,
    hält euch kein Dunkel mehr.
    Von Gottes Angesichte
    kam euch die Rettung her.


    Der 11.Dezember 1942 hatte soeben begonnen. Klepper schlug das Büchlein zu, dem er fünf Jahre zuvor den Titel „Kyrie“ gegeben hatte. „Kyrie – Herr“, flüsterte er, „erbarme dich unser“. Nur eine letzte Naivität? Nein, es war seine ganze Hoffnung, sein Glauben, dass die Rettung nahe war. Bedächtig nahm er einen Zettel, schrieb die letzten beiden Worte darauf, klebte ihn von außen an die Küchentür, schloss diese fest und drehte sich zum Herd.


    Die Haushälterin las die Worte am Morgen als erste.
    „Vorsicht Gas“.

  • von Nasenbär


    Arabella betrat den Ballsaal und kam nicht umhin, sich staunend umzusehen.
    „Ich hoffe, es ist alles zu deiner Zufriedenheit, meine Liebste“, sagte ihr
    Mann, der in diesem Moment zu ihr trat.
    „Ja, alles wunderbar“, lächelte sie. „Ich kann nur nicht glauben, dass es
    wirklich schon so lange her ist.“
    Sie wollten an diesem Tag ihren Hochzeitstag begehen und dabei sollte alles
    genauso verlaufen wie damals.
    „Die Vorbereitungen sind fast abgeschlossen. Wir müssen uns nur umkleiden
    und dann kann das Fest beginnen.“
    Als die Musik erklang, fühlte sich Arabella tatsächlich um Jahre
    zurückversetzt. Sie betrat den Saal als Letzte und alleine, genau wie
    damals. Das Kleid, das sie trug, war ebenfalls dasjenige, welches sie vor
    Jahren getragen hatte. Es hatte nichts von seiner Schönheit eingebüßt und
    unterstrich die ihre Sie fühlte, wie sich alle Augen auf sie richteten,
    besonders einen Blick spürte sie. Noch bevor sie ihn sah, fühlte sie seine
    Gegenwart. Endlich stand er vor ihr und nahm ihre Hand, die er den ganzen
    Abend nicht wieder losließ.
    Immer, wenn ein anderer Mann es wagte, sie aufzufordern, so sprach ihr Mann
    die gleichen Worte: „Das ist meine Tänzerin.“
    Sie drehten sich zu den Melodien und die Zeit verflog wie im Traum. Doch
    immer wieder blickte Arabella verstohlen zu Uhr. Sie durfte den richtigen
    Zeitpunkt nicht verpassen.
    Dann war es soweit.
    „Ich muss gehen, Liebster“, flüsterte sie in sein Ohr.
    „Nein, bleib doch. Bitte!“
    „Du weißt, ich kann nicht.“
    In diesem Moment hörte sie die Turmuhr. Arabella drehte sich um und lief so
    schnell davon, dass ihr Mann ihr nicht folgen konnte.
    Sie wusste, was sie erwartete und versuchte – trotz ihrer Geschwindigkeit –
    vorsichtig zu sein, doch sie blieb mit dem Absatz im Rocksaum hängen und
    stolperte auf die große Freitreppe. Sie versuchte sich zu halten, was nur
    bedingt gelang, denn den Halt, den sie glaubte am Geländer zu finden, war
    keiner. Die Verzierung riss ihr ein großes Stück Stoff aus dem Ärmel und
    sie fiel bis auf den Weg. Auf dem Sand angelangt, sah sie, dass sie ihren
    Schuh verloren hatte und ihren Mann aus der Tür treten.
    Ungläubig sah sie nach oben. So hatte sie den Ausgang des Abends nicht
    geplant, doch in dem Moment, als sie wieder aufstehen wollte, hörte sie das
    warme Lachen ihres Mannes.
    „Nun hast du dein Aussehen noch mehr der Vergangenheit angepasst, mein
    Aschenputtel.“

  • von Polli


    Gratuliere, du bist zum ersten Mal Mutter geworden. Sämtliche Tanten und Verwandten und achtzehn Nachbarn erscheinen unangemeldet zum Babygucken. „Ach, wie süüüüß!“, schreien sie. Dich beachtet niemand. Gewöhne dich daran, das bleibt die nächsten Jahre so. Der schweinchenrosa Stramplerstapel wächst, deine Alkohol- und Kaffeevorräte schrumpfen, und wenn der Letzte weg ist, fällt dir ein, dass dein überdrehtes, nervöses Baby auf die 22-Uhr-Mahlzeit wartet und du endlich, endlich eine Nacht durchschlafen musst, um den nächsten Tag zu überleben.
    Mahlzeit, Baby. „Das Stillen ist gesund für Mutter und Kind.“ Hat vermutlich ein Mann geschrieben. Sobald du deine arme, geschundene Brustwarze hinhältst, dockt es mit einem schmerzhaften Reflex an und lässt freiwillig nicht mehr los. Stillst du länger als fünf Minuten auf jeder Seite, wird die Brust wund, aber das Baby ist für die nächsten zwei Stunden satt. Stillst du kürzer, bleibt die Haut heil, aber das Kind brüllt weiter. Du entscheidest dich für Longplay. Das Baby entscheidet sich fürs Verdauen. Das geht so: Zuerst rumort es so laut in dem Winzling, dass du erwägst den Arzt zu holen. Dann versucht es die Scheiße rauszudrücken. Weil das nicht klappt, wird das Baby sauer. Es schreit. Du willst es trösten, was das Kind heftig abwehrt. Ist logisch, ich würde genauso reagieren, wenn ich kurz vorm Durchfall stehe und jemand will in dem Moment mit mir kuscheln. Irgendwann, das Theater zieht sich endlos lange hin und du kriegst hässliche Gedanken, während du das Baby auf und ab durch durch die unaufgeräumte Wohnung trägst, wird es schläfrig. Happy end, murmelst du, schleichst dich zum Kinderbett, legst sanft das Kind hinein und - richtig, es merkt den freien Fall, die Übertölpelung und erinnert sich und dich lautstark daran, dass es eigentlich mit Verdauen beschäftigt war. Gleiches Spiel von vorn.
    Mittlerweile ist es Mitternacht. Die Kirchturmuhr schlägt zwölfe und wohltuende Ruhe senkt sich auf dein Heimatstädtchen herab. Nur auf dich nicht. Du stehst vorm Wickeltisch, packst ein unleidliches, säuerlich riechendes Baby aus und wunderst dich darüber, wie die Scheiße bis in die Nackenfalten kriechen konnte. Du sehnst den Tag herbei, an dem feste Nahrung zu festen Ausscheidungen führt, bedenkst aber nicht, dass der Gestank dann unerträglich wird. Du säuberst das Baby trotz kräftiger Gegenwehr, lässt dich kommentarlos anpinkeln und verpackst den Po in eine neue, garantiert auslaufsichere Fertigwindel. Du ziehst einen frischen Strampler über. Nicht dir, du übermüdete Mutter! Erschöpft nimmst du dein Kind, ignorierst das Badezimmer-Chaos und vertagst das Aufräumen auf morgen, unterdrückst einen Weinkrampf, legst das muntere Kind ins Bett, dich selbst verzweifelt auf das naturbelassene Schaffell davor und wartest aufs Einschlafen. Vergeblich, denn das Baby ist von dieser anstrengenden Umziehaktion verdammt hungrig geworden und du betastest verstohlen deine nunmehr heftig entzündeten Brustwarzen. Es ist Geisterstunde, fällt dir ein, und blass wie ein Gespenst siehst du auch aus: Dein Gewand ist modrig-feucht vom Anpinkeln, deine Haare stehen wirr von deinem Schädel ab und du wirst auf ewig keine Ruhe mehr finden.
    Gute Nacht, Mutter!

  • von Tom


    Natürlich hatte ich auch schon bei tausend Kilometern pro Stunde gepißt, im Flieger über dem Atlantik, oder auf dem Weg in den Süden, aber hier, im ICE zwischen Kassel-Wilhelmshöhe und Fulda, bei einem Viertel der Geschwindigkeit einer 737, kam es mir wirklicher vor. Mein klarer, gelblicher, kaffeegestärkter Urinstrahl scherte sich nicht um die Raserei. Eine Hand am etwas schmierigen Haltegriff und die andere am Hals meines glatzköpfigen Helfers strullerte ich in den Fahrtwind, den der phallische Triebwagen von mir abhielt. Trotzdem spürte ich ihn, über die Vibrationswellen an meinen Fußsohlen, sah ihn in den Schattenfetzen im Milchglasfenster, im Kräuseln der im Strahltrichter vor mir wachsenden Pfütze. Ich bemerkte das Bedürnis, die Scheibe herauszureißen und meine Pisse in das Tosen zu richten, das den Stahlpfeil umgab, aber bevor ich der Lust nachgeben konnte, versiegte der Harnstrom. Ich lächelte erleichtert, aus mehrerlei Gründen, sortierte mich zuggastkonform und kehrte an meinen Vierertisch im vermüffelten Raucherabteil zurück.


    „Milch und Zucker?“ fragte die kartoffelförmige Schaffnerin mit dem zerzausten Schnurrbart soeben meinen Sitznachbarn.
    „Ich weiß nicht“, antwortete er lächelnd. „Haben Sie Salz?“
    Der Schauer, der sich der Zugbegleiterin bemächtigte, war nachgerade greifbar. „Salz?“ fragte sie ungläubig.
    „Man weiß nie, wie etwas schmeckt, wenn man es nicht selbst gekostet hat“, dozierte der Mann, ein vollbärtiger Endfünfziger, der trotz seiner gepflegten Kleidung subtil unsauber wirkte. „Menschen erzählen Ihnen, daß Kaffee mit Salz nicht schmeckt. Aber haben Sie es je selbst probiert?“
    Die Blauuninformierte balancierte das Tablett auf der Tischkante, als wäre jenes die Kante der Scheibe, von der man früher geglaubt hatte, die Erde besäße ihre Form. „Ich muß das holen“, flüsterte sie unter ihrem Bärtchen, das ganz leicht zu zittern schien.
    Der Mann lachte. „Das war ein Scherz“, half er ihr aus der Misere. „Nur Zucker, bitte.“
    Die Frau legte das Päckchen auf den Tisch, aber zaghaft, als erwartete sie noch etwas, beispielsweise die Bitte um Ketchup.


    Wenig später waren wir im Gespräch, der leicht verlotterte Bartträger und ich. Nachdem ich meine Urinalphantasien zum besten gegeben hatte, die er nickend quittiert hatte, deutete er aus dem Fenster und fragte: „Was sehen Sie?“
    Ich widmete mich einige Sekunden der Betrachtung und sagte dann: „Die Welt.“
    Er lachte. „Und wenn Sie Ihre Augen nicht mehr der Bewegung des Zuges anzupassen versuchen?“
    Ich sah ihm in die grünen, selbstbewußten Augen, und dann wieder aus dem Fenster, versuchte dabei, nichts zu fixieren, das Bild hinter dem Bild zu erkennen.
    „Es ist die Zeit, die Sie sehen“, nahm er mir vorweg. „Die Sie gespürt haben, als Ihr Strahl weit entfernt von der Stelle, an der er Ihren Körper verließ, das Becken traf. Die Ihnen unwirklich vorkam, als ich Salz verlangte. Bewegung ist Zeit.“


    Er stieg in Frankfurt aus, meine Reise würde mich weiter in den Süden führen, in den ich nicht mehr flog, weil mir das dabei fehlende Gefühl von Geschwindigkeit zuwider war. Als ich in Rom den Zug verließ, schlug eine Uhr zwölfmal, und ich haßte sie dafür, daß sie sich dabei nicht bewegte.

  • von Asrai


    Meine Stimme wird langsam aber sicher heiser, der Mund trocken und mein Zeigefinger von der eintönigen Bewegung steif. Ebenso steif wie mein Rücken vom langen Sitzen. War der Stuhl vor einer Stunde auch schon so hart?
    Peterchen und Anneliese sind nun über den Karpfenteich zur Sternenwiese geflogen und die Nachtfee wird gleich ihren Segen sprechen:
    „Mitternacht! -- Die Welt schlief ein; Frieden, Frieden soll über ihr sein!“
    Ich mag diesen Spruch sehr, aber Frieden, passt das? Ich meine nicht die Weltproblematik da draußen, ich spreche vom Unfrieden hier drinnen, in der kleinen Welt dieses Zimmers.
    Ich finde, der Segen ist die geeignete Stelle, um Schluss zu machen. Aber er scheint das anders zu sehen.
    „Bitte, noch ein kleines Bisschen!“, bettelt er.
    Werde ich diesmal hart bleiben, oder wird mich sein Blick wieder herumkriegen?
    Die Nacht hat ihren Segen gesprochen und ich spähe vorsichtig nach unten. Schläft er wirklich? Jetzt schon? Gaaanz vorsichtig klappe ich das Buch zu, stehe auf und schleiche zur Tür. Ich kann mein Glück kaum fassen. Sonst muss ich immer mindestens bis zur Weihnachtswiese oder dem Osternest lesen. Leise klinke ich die Tür auf. Ich schlüpfe hindurch und will vor Erleichterung schon tief durchatmen. Da schlägt die große Standuhr im Erdgeschoss Mitternacht!
    „Anna!“, kräht es aus dem Zimmer, das ich beinahe erfolgreich verlassen hätte. „Wo bist du? Ich kann nicht schlafen!“
    Habe ich schon erwähnt, dass ich Babysitten hasse?

  • von Wilma Wattwurm


    Die Glocke schlägt, zum dritten Mal, ich habe mitgezählt. Dreiviertel zwölf. Noch fünfzehn Minuten bis Mitternacht.
    Die erste Nacht in meinem neuen Zuhause. Nach all der Aufregung kann ich nicht schlafen. Ich liege stocksteif in der mir noch nicht vertrauten Umgebung und lausche. Es ist still hier, eine Befreiung nach der permanenten Geräuschkulisse bei Mutter. Alles ist neu. Den Geruch von frischem Holz habe ich immer schon gemocht. Früher, als Kind konnte ich stundenlang bei Julie Federer zubringen. Ihr Vater hatte eine Schreinerei.
    Ach ja, früher!
    Julie war es auch, von der ich das mit den Toten zum ersten Mal hörte. Mit beschwörendem Ton hatte sie es mir geschildert. Julie wohnte gegenüber dem Zentralfriedhof. Eines Nachts war sie wach geworden und hatte viele Lichter über die Gräber huschen sehen.
    Damals habe ich es entsetzt Oma erzählt. Ich habe immer alles Oma erzählt. Sie war für mich da, wenn ich aus der Schule nachhause kam und Mutter noch arbeiten mußte.
    Oma bestätigte, daß Julie sich die Lichter nicht eingebildet hatte. Es waren die Seelen der Toten, die um Schlag Mitternacht aus ihren Gräbern kamen und bis zum Morgengrauen tanzten


    Ja, Oma war eine kluge Frau. Zu ihr konnte ich mit all meinen Fragen und Problemen. Ich war vierzehn als sie von uns ging. Ich habe sie sehr vermißt.
    Sie fehlte mir, als ER auf der Bildfläche erschien und schließlich bei uns einzog. Sie fehlte mir, als ER stets mehr Bierkästen anschleppte und Mutter immer depressiver wurde, und sie fehlte mir vor allem, als Mutter kaum noch das Schlafzimmer verließ und ich nirgendwo mehr sicher war vor diesen grabschenden Händen.


    Ich war froh, als ich gleich nach dem Schulabschluß eine Ganztagsbeschäftigung fand und wollte mir so schnell wie möglich eine eigene Wohnung suchen.


    Und dann kam jener Nachmittag.
    Er war schon mächtig alkoholisiert, als ich um fünf Uhr nachhause kam. Sein glasiger Blick prophezeite nichts Gutes und ich hatte größte Mühe, den außer Kontrolle geratenen Händen zu entweichen.
    Als er sich gerade wieder bei offener Klotüre eines Radebergers entledigte, und mein Blick auf seinen achtlos auf den Küchentisch geworfenen Schlüsselbund fiel, brannte etwas in mir durch. Ohne groß nachzudenken packte ich die Schlüssel, rannte aus der Wohnung, schloß sogar hinter mir ab, und ehe ich mich’s versah, saß ich in seinem Auto. Und das obwohl ich noch nicht einmal fünf Farhstunden absolviert habe. Das mußte ja schief gehen.


    Ich habe seinen kostbaren BMW zu Schrott gefahren, das wird er mir nie verzeihen.
    Aber egal!
    Ich habe keine Angst mehr, ich fühle mich zufrieden wie lange nicht mehr.
    Gleich ist es soweit. Ich freue mich schon, Oma wieder zu sehen, und vielleicht lerne ich jetzt endlich meinen leiblichen Vater kennen, ich bin sehr gespannt auf ihn.
    Und ich bin gespannt, wie es sich anfühlt, wenn meine Seele nach oben steigt und mit den anderen Seelen tanzt. Ich stelle mir das wunderschön vor.


    Still, es ist soweit, die Glocken fangen an zu schlagen: zwölfmal, Mitternacht.

  • von Hinterwäldlerin


    "Erna, hast du auch alles?"
    "Ja, verdammt. Glaubst du wirklich, dass ich schon so vermodert bin und
    heute Abend etwas vergesse?"
    Erna verdrehte die Augen und murmelte etwas Unverständliches. Diese
    Liesbeth! Immer musste die sie die große Schwester spielen und das, obwohl
    sie nur ein paar Jährchen älter war als sie selbst! Dann hatte sie eben
    die Inquisition erlebt- und? Machte sie das fähiger?
    "Vergiss nicht, ich war es nicht, die es fast geschafft hätte, sich den
    Kopf abhacken zu lassen!", stichelte sie.
    Liesbeth zuckte mit den Schultern. "Du und deine alten Kamellen! Das
    muss doch schon Jahrhunderte her sein. Wirklich, damals reagierten aber
    auch alle cholerisch! Nur weil ich diese Krankheit ausgelöst habe, wie
    hieß die noch gleich.?" "Beulenpest? Liesbeth, weißt du, wie viele Leute
    daran gestorben sind?" "Ja, mein Gott, man wird sich doch mal einen
    Spaß erlauben können." Erna wandte sich ab und kontrollierte nochmals den
    Inhalt ihrer braunen Ledertasche. "Also, wir haben hier die Steine, die
    Karten, das Kräuterzeug, diese blaue Flüssigkeit." "Erna, hast du die
    speziellen Bonbons? Du weißt doch, die, die die Kinderchen immer so
    schön gefügig machen?" "Ja, aber sicherlich, Liese." Erna nahm ein
    blutrotes Bonbon aus ihrer Tasche. "Wer hätte gedacht, dass sich die Jugend so
    wenig verändert?" "Tja, Gutes bewährt sich eben. Was in der Renaissance
    gewirkt hat, muss heute nicht schlecht sein! Und wenn die Kinderchen
    immer noch auf den alten Hänsel-und-Gretel-Spruch anspringen..." "Ach ja,
    Hänsel und Gretel, diese Biester. Schwesterchen hatte ihr
    Lebkuchenhaus so kunstvoll imprägniert und diese Wänster bringen sie einfach um!
    Aber von dem tödlichen Inhalt der Lebkuchen haben sie nichts gewusst,
    wie?" Erna und Liesbeth brachen in schallendes Gelächter aus. "Und
    -uahaha!- weißt du- hihi- noch, wie.diese Grimm-Brüder den qual vollen Tod von
    Hänsel und Gretel umschrieben haben, Liesbeth?" "Ja! Hahaha! Lebten
    glücklich bis an ihr Lebensende! Muahaha! Leider haben sie vergessen zu
    schreiben, wie nah ihr Lebensende schon war! Ahahahahaaa!" "Oder dann,
    1517: Die wissen bis heute nicht, dass es Luther gar nicht gab! Also,
    Liesl, dass muss ich dir lassen: Wie du dich da in einen Mann verwandelt
    hast- perfekt!" "Na, das war aber auch eine Teufelsarbeit! Wenigstens
    gabs dann irgendwann einen Krieg, da wars nicht ganz umsonst. Aber, Erna,
    wie du es geschafft hast, das geozentrische Weltbild umzumodeln und
    dich dann als Kopernikus ausgegeben, es "entdeckt" und dich gefeiert
    lassen
    hast, das ist auch nicht zu verachten!" "Tja, Liese, da
    staunste, was? Aber genug davon. Es ist schon Mitternacht! Wir haben
    heute noch viel vor!" "Jaja." Erna und Liesbeth nahmen sich die zwei
    unscheinbaren Besen, die neben der Haustür standen und traten ins Freie.
    "Erna, das wi rd das beste Halloween, das wir je hatten! Zum Glück dürfen
    die Kinderchen heutzutage an Halloween so lange draußen bleiben!"
    Liesbeth zog aus ihrem Mantel eine lange Liste hervor. "Also, zuerst wären
    da die Kinder auf dem Spielplatz am Puschkinplatz. Dann haben wir einen
    Bandenkrieg im Stadtpark. Ach, und falls wir es schaffen: Im Nahen
    Osten braut sich gerade ein Krieg zusammen..."

  • von Sinela


    Dieser Abend hatte so viel versprechend begonnen. Miriam Fröschle hatte sich zum 10jährigen Klassentreffen ein scharfes Outfit angezogen, welches seine Wirkung nicht verfehlt hatte. Harald, ihr Jugendschwarm, wich die ganze Zeit nicht von ihrer Seite. Das alte Gefühl für ihn war wieder da, war wohl nie ganz weg gewesen. Sie küssten sich gerade auf der Tanzfläche, als es an der Tür einen lauten Tumult gab. Eine hochschwangere Frau stürzte sich wie eine Furie auf sie und schlug ihr ins Gesicht. Völlig benommen saß sie auf dem Boden, hörte die Worte, die Harald mit dieser Person wechselte wie durch eine Nebelwand: Harald war verheiratet und würde in vier Wochen Vater werden. Er hatte nur einen One-Night-Stand mit ihr haben wollen. Sie sprang auf und lief von dannen, rannte und rannte, bis sie keine Luft mehr bekam und stehen bleiben musste. Wie konnte sie nur so dumm sein? Würde sie es denn nie lernen? Sie wollte jetzt nur noch eines: Nach Hause und allein sein mit ihrem Kummer. Mit müden Schritten schlurfte die junge Frau über den von der Sommersonne aufgeheizten Asphalt. Selbst jetzt, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, durchdrang die Wärme die Sohlen ihrer Sandalen. Doch Miriam fühlte nichts. Völlig in Gedanken versunken erreichte sie die Tür zu dem Haus, in dem sie wohnte. Sie schloss auf und ging hinein. Den Mann, der ihr lautlos folgte, bemerkte sie nicht.


    Zerissen lagen das bauchfreie Sommertop und der Mini-Rock auf dem Boden neben dem Bett. Mit einem mehr als zufriedenen Gesichtsausdruck zog sich der Mann die Hosen hoch, knöpfte sie zu. Sein Blick fiel auf die nackte Frau, die an den Händen gefesselt und mit weit gespreizten Beinen auf der Matraze lag. Sie sah noch besser aus als er es sich ausgemalt hatte, als er sie das erste Mal sah. Noch nie war es so gut gewesen wie dieses Mal. Genussvoll dachte er daran, wie er ihr die Klamotten vom Leib gerissen hatte. Sie hatte sich zuerst heftig gewehrt, aber mit seinen Fäusten konnte er sie schnell gefügig machen. Wehrlos lag sie vor ihm auf dem Bett, gefesselt und geknebelt. Er hatte sich Zeit gelassen, sie mit glühenden Zigarettenkippen gequält. Ihr schmerzhaftes Wimmern geilte ihn auf. Kraftvoll stieß er in sie hinein, wieder und wieder, bis ihn ein heftiger Orgasmus erbeben ließ. Bei dem Gedanken daran stöhnte er erneut auf. Der Mann schüttelte sich, er brauchte nun einen klaren Kopf. Er durfte keine Spuren zurücklassen.


    Voller Angst verfolgte Miriam, wie der Mann, der sie gedemütigt und ihr Schmerzen zugefügt hatte, sich dem Bett näherte und sich neben sie setzte. Sie spürte seine Hände auf ihrem Busen, nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Würde das denn nie enden? Nun lagen seine Finger um ihren Hals und - drückten zu. Panisch warf sie sich hin und her, rang nach Luft. Sie sah Sternchen, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Die Glocken der nahen Kirche, die um Mitternacht den neuen Tag einläuteten, waren das letzte, was sie in ihrem Leben hörte.