Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

  • Zwei Bücher in einem, davon eines brillant


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    In dieser Romanbiografie, die 2017 von einigen als die beste deutschsprachige Neuerscheinung des Jahres gefeiert wurde, erzählt der Robert Gernhardt-Spezi und Benedict Wells-Mentee Klaus Cäsar Zehrer die Geschichten zweier Männer mit dem Nachnamen Sidis. Der eine, Boris, geboren im Russischen Kaiserreich – übrigens auf dem Gebiet der heutigen Ukraine –, kam im Jahr 1887 in die U.S. of A. Der andere, William James Sidis, war sein Sohn.


    Boris Sidis, von den Schergen des Zaren verfolgt und deshalb geflohen, betritt das neue Land in New York, und er landet in einer umtriebigen, schmutzigen, auch architektonisch nicht besonders ansehnlichen Stadt, in die scharenweise Flüchtlinge kommen. Die billigen Herbergen sind dreckig und überfüllt, die Jobs schwer, gefährlich und schlecht bezahlt. Aber der zwanzig Jahre alte, nicht besonders gesellige Sidis, der ein Dutzend Sprachen fließend spricht und sich die englische innerhalb weniger Wochen beibringt, findet schnell seinen Weg, der ein paar Jahre später mit einer vielbeachteten Promotion in Harvard seinen vorläufigen Höhepunkt findet. Sidis begründet die moderne Psychologie mit, widmet sich vor allem der Hypnosetherapie, aber im Kern seines Interesses steht das Unterbewusstsein, auch das kollektive Unterbewusstsein, dessen unerforschtes Potential er für den Schlüssel zur nächsten Evolutionsstufe der Menschheit hält. Deshalb wendet er bei seinem 1898 geborenen Sohn William James konsequent die „Sidis-Methode“ an – heutzutage würde man das „frühkindliche Begabtenförderung“ nennen, wobei Sidis den Säugling quasi ab dem ersten Lebenstag didaktisch malträtiert. Nebenher legt er sich energisch mit den Freudianern an, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts immer mehr Zulauf bekommen. Ihre Ideen hält Sidis jedoch für Kokolores.

    Seine eigenen beweist er eindrucksvoll an seinem Sohn, der sich rasant zu einem echten Genie entwickelt, sensationell sprach- und mathematikbegabt, extrem frühreif, eigenwillig, aber zugleich aufgrund des völligen Fehlens einer klassischen Kindheit ohne jede soziale Kompetenz. Die Geschichte dieses William James – benannt nach Sidis‘ berühmtem Doktorvater – erzählt „Das Genie“ in seiner zweiten Hälfte, die leider die Versprechungen der ersten nicht einzuhalten vermag, die so furios, originell, amüsant, clever und rasant beginnt.


    Das ist, wenn man so will, ein typischer Diogenes-Roman, so ein Wohlfühlbuch für die Klugen und jene, die sich nur selbst dafür halten, durchaus stilvoll, schlau konzipiert, wissensreich, mit spektakulären Dialogen, reichlich Gesellschaftskritik, verblüffenden Geschichtsdetails, einigem Zeitkolorit und vielen zitierfähigen Sätzen, auch wirklich gut zu lesen, aber dann doch irgendwie artifiziell, und im Wortsinn verkopft. Das zeigt sich vor allem im zweiten Teil, der episodisch den tragischen Werdegang des Jungen zeigt, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, der seine Gedanken fließen lassen möchte, und der am liebsten stundenlang mit Straßenbahnen fährt. Der allerdings auch leider eine ziemliche Nervensäge ist, und an dem man nach und nach vollständig das Interesse verliert. Die Rasanz, mit der der Roman anfängt, versandet schließlich, und am Ende ist die von bemüht originellen Einfällen durchsetzte Geschichte nur noch anstrengend.

    Was natürlich eben daran liegt, dass es sich eben um eine Romanbiografie handelt, wobei sich Zehrer, wie auch die Quellen und Literaturverweise belegen, um ein hohes Maß an Genauigkeit bemüht hat, zumindest bei jenen Ereignissen, zu denen es Dokumente gibt. Eine reale Geschichte lässt sich nur schwer mit einer fiktiven Dramaturgie motorisieren, aber es ist auch im Roman so, wie es in der Wirklichkeit war: Am Ende hat sich niemand mehr für William James Sidis interessiert.


    Mir hätte das Buch besser gefallen, wenn ich gegen Seite 200 mit der Lektüre aufgehört hätte. Denn bis dahin ist „Das Genie“ brillant. Danach wollte ich nur noch das Ende erreichen.


    ASIN/ISBN: 3257069987

  • Das ist, wenn man so will, ein typischer Diogenes-Roman, so ein Wohlfühlbuch für die Klugen und jene, die sich nur selbst dafür halten, durchaus stilvoll, schlau konzipiert, wissensreich, mit spektakulären Dialogen, reichlich Gesellschaftskritik, verblüffenden Geschichtsdetails, einigem Zeitkolorit und vielen zitierfähigen Sätzen, auch wirklich gut zu lesen, aber dann doch irgendwie artifiziell, und im Wortsinn verkopft.

    :lache Damit bin ich ja jetzt mit der Tatsache, dass Diogenes einer der Verlage ist, der meine Regale in überdurchschnittlichem Maße bevölkert, in einer schönen Schublade gelandet :rolleyes