Samanta Schweblin: Hundert Augen

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    Als ich kürzlich mein iPhone (vermeintlich) ausgeschaltet habe, erschien vor dem Erlöschen des Bildschirms noch eine Nachricht. Das Betriebssystem des Smartphones teilte mir mit, dass die Ortungsfunktion des Geräts auch im ausgeschalteten Zustand aktiv bliebe. Es ist keine Neuheit und auch keine Überraschung, dass Smartphones, Tablets, Musicplayer, Spielekonsolen, sprachgesteuerte Alltagshelfer und Smart-Home-Komponenten erst dann wirklich untätig sind, wenn man es geschafft hat, ihre Akkus restlos zu leeren und sie endgültig vom Strom zu trennen, aber diese lapidare Mitteilung, die da letztlich lautete: „Du glaubst nur, dass ich ausgeschaltet bin, nachdem Du mich ausgeschaltet hast“, war in ihrer Klarheit und Offenheit doch ein wenig schockierend.

    Schon seit Jahren lassen wir Technik in unsere Intimsphären, die weit mehr tut als nur das, was wir von ihr erhoffen. Alexas und Siris, die uns ständig belauschen, während sie auf unsere Befehle zu warten vorgeben, stellen nur die Spitze dieses gewaltigen Eisbergs dar. Unsere Smartphones bilden mit Geräten vom selben Hersteller klandestine Netzwerke, die beispielsweise genutzt werden, um schlüsselanhängergroße „Tags“ aufzuspüren, die man an irgendwas (oder -wem) befestigt hatte und die zusammen mit diesem, äh, Objekt, äh, verlorengegangen sind. Wir sind längst nicht mehr Herrscher über die Technik, die wir nutzen. Wir sind umgeben von als Helfern getarnten Überwachungssystemen, und das freiwillig, weil sie einen gewissen Komfort bieten. Bequemlichkeit hat Bedenken schon immer geschlagen. Dass mein Smartphone weiß, wo genau die Ohrhörer gerade liegen, und das muss nicht notwendigerweise innerhalb der Wohnung sein, ist prinzipiell großartig. Was nötig ist, um das zu ermöglichen, und was diese Funktionalität darüber hinaus kann, ist erschreckend. Es lässt alle Datenschutzbemühungen als alberne Beschäftigungsmaßnahmen erscheinen.


    Im Jahr 2015 hat der Spielzeughersteller Mattel für eine besondere Version der Barbiepuppe den „Big Brother Award“ erhalten. Diese Puppe bespitzelte die Kinder aktiv, merkte sich Gesprächsinhalte, beobachtete das Geschehen um sich herum und sandte die Daten aus dem Kinderzimmer in die Konzernzentrale. In Europa war dieses Modell aufgrund der restriktiveren Datenschutzbestimmungen nicht erhältlich, und die Behörden hierzulande fechten einen energischen Kampf gegen als Spielzeug getarnte Überwachungssysteme, die zuweilen von Eltern genutzt werden, um den Nachwuchs im Blick zu behalten, vor allem aber elektronische Scheunentore in unsere Privatwelten sind. Diese Schlacht kann perspektivisch nur verloren werden. Sie ist es längst.


    Die argentinische Autorin Samanta Schweblin, die seit einigen Jahren in Berlin lebt, hat diesen Gedanken fortgesponnen und in eine originelle Idee gegossen. Sie hat sich „Kentukis“ ausgedacht, von einem namenlosen und nie näher beschriebenen Hersteller ausgedachte Kuscheltiere, etwa Pandas, Maulwürfe, Kaninchen, kleine Drachen und ähnliche, nicht unbedingt schön anzusehen, etwa dreißig Zentimeter hoch und zwei Kilo schwer. In diesen Geräten steckt überschaubare Technik - sie haben Mikrofone und Kameras, sie können auf Rollen laufen, ein paar Bewegungen ausführen und klar definierte Geräusche von sich geben. Aber jedes Gerät ist mit genau einer anderen Person irgendwo auf dem Planeten verbunden, die es steuert, und die sehen und hören kann, was im Haushalt geschieht, in dem sich der Kentuki befindet. Diese Verbindung ist zufällig hergestellt und kann nicht ausgesucht oder verändert werden, sie ist einmalig und kann nach einer Beendigung nicht erneuert werden. Die 280 Dollar, die Kentukibesitzer oder Kentukikontrolleur für das Arrangement bezahlt haben, sind für beide verloren, wenn der Akku des Spielzeugs nicht mehr aufgeladen wird oder die steuernde Person die Verbindung kappt. Das Ding ist dann Müll.


    Aber vorher ist es ein Fenster in einen wildfremden Haushalt, irgendwo auf der Welt, und für die Bewohner dieses Haushalts, die über die Person auf der anderen Seite praktisch nichts wissen, ist es ein einseitig durchlässiger Spiegel. Weil das Ding aber so wenig kann, fühlt es sich für viele wie ein etwas intelligenteres Haustier an, wie eine neue Umgebungserfahrung. Nicht wenige Besitzer verdrängen oder vergessen, dass das klobige kleine Ding der Avatar einer echten Person ist.


    Samanta Schweblin erzählt von einem Dutzend Leuten, die Kentukis haben oder Kentukis sind, die Geräte also beherrschen, sie erzählt von Kommunikationsversuchen, von Einsamkeit und von schweren Verbrechen, sie erzählt von Ablehnung und kurzgedachter Akzeptanz. Sie erzählt von dem Jungen, der noch nie Schnee berührt hat, aber über den von ihm gesteuerten Kentuki diese Chance hätte. Sie erzählt von dem cleveren jungen Mann in Zagreb, der Dutzende Kentukis steuert und teuer gebraucht weiterverkauft, an Leute, die lieber wissen wollen, was auf sie zukommt. Sie erzählt von der jungen Frau, die einen Künstler in die Künstlerkolonie begleitet hat und während der vielen einsamen Stunden ein besonderes Verhältnis zu ihrem Kentuki aufgebaut hat. Sie erzählt von der älteren Dame, die ein Spielzeug von ihrem Sohn bekommen hat. Sie erzählt von einem Vater, der nicht wahrhaben will, was auf der anderen Seite der Überwachung seines Sohnes geschieht. Sie erzählt aber vor allem davon, wie schnell die Bedenken verdrängt werden, wie kritiklos etwas in den eigenen Alltag integriert wird, das da wirklich nicht hingehört. Wobei die spezielle Ausführung, diese Idee, die Daten nicht an irgendwelche Konzerne oder Regierungen zu liefern, sondern einfach an irgendwen, als hochironischer, aber konsequenter Gedanke einerseits sehr amüsant und andererseits umso erschütternder daherkommt. Denn auch all die Mitarbeiter in den Konzernen und Regierungen, denen wir aus Bequemlichkeit unsere Privatsphäre öffnen, sind natürlich irgendwelche Privatpersonen.


    „Hundert Augen“ ist sehr clever aufgebaut und wirklich schön ausgedacht. Samanta Schweblin bewegt sich sicher und konsequent auf dem Terrain, inspiziert die denkbaren Spielarten, und sie überlässt die Wertung ihren Figuren und den Lesern. Der Roman ist kein Manifest gegen Überwachung und Denkfaulheit, aber eine sehr gut erzählte Geschichte über genau diese Themen, zu der man sich, wenn man will (und nicht zu bequem dafür ist), seine eigenen Gedanken machen kann.


    Der Roman hat allerdings ein paar Längen, die mit dem episodischen Aufbau einhergehen. Hiervon abgesehen ist „Hundert Augen“ vortrefflich gelungen, kühn ausgedacht, großartig umgesetzt und also dringend zu empfehlen.


    ASIN/ISBN: 3518429663

  • Als ich das Buch am Ende zuklappte, dachte ich: wie schön, dass es das ist, was es zu sein scheint. Ein Buch.

    Weder Kamera noch Mikrophon eingebaut.

    Eigentlich unglaublich, wie sich Menschen freiwillig einen völlig unbekannten anderen Menschen ins Haus holen. Einen, der alles beobachten und hören kann, was um ihn herum vorgeht.

    Diese Ungeheuerlichkeit beschreibt Samanta Schweblin ganz großartig und geht dabei auch auf die beiden unterschiedlichen Rollen ein, die die Nutzer einnehmen können.


    Offenbar ist diese Entwicklung der Preisgabe jedes Privatlebens, jeder Intimität nicht aufzuhalten. Mehr und mehr angeblich hilfreiche Geräte werden angeschafft, die alle möglichen Daten, Fakten, Bilder und Töne weitergeben. Ohne Kontrolle, wohin das alles weitergegeben wird.

    Aber es kann niemand sagen, es habe keine Warnhinweise gegeben.

    Dieses Buch ist einer davon und ein besonders gelungener.