'Mehr als die Erinnerung' - Seiten 080 - 168

  • er hab bloß das Pech, dass die Zeiten sehr schwierig für Idealisten sind.

    Ich glaube, die Zeiten sind immer schwierig für Idealisten, leider ....

    Genau, das ist der Richard aus Im Lautlosen.

    Ja, ich hatte nur die ersten Beiträge gelesen und dann nur noch überflogen. Wurde dann schon darauf eingegangen.

  • D.h. an jemandem wie Bernhard mit einer Hirnschädigung wären nie diesen Behandlungen wie die Kältpackungen etc. vollzogen worden?

    Für mich stellt sich nur die Frage, weil viele neurologische Krankheiten ja erst in den letzten Jahrzehnten besser bekannt geworden sind. Also wenn man noch nicht wusste, woher was kommt und wie das einzuordnen ist. Ich denk da jetzt gerade an Tics und Tourette-Syndrom.

    Wenn ein Mensch mit einer Hirnschädigung dabei freundlich bleibt, wären solche Dinge nicht mit ihm gemacht worden. Es wäre eher interessiert untersucht worden, was er alles nicht mehr kann und daraus haben Forscher früher auch die Landkarte des Gehirns gezeichnet - wenn jemand eine Hirnverletzung hatte und plötzlich bestimmte Dinge nicht mehr gingen, wusste man, dass dann der beschädigte Hirnteil dafür zuständig war.


    Bei Leuten mit einem unangemessenen Verhalten, also z.B. Frontalhirnschäden, hat man auch andere Maßnahmen gemacht, um "ihre Nerven zu beruhigen" - also um ein angemesseneres Sozialverhalten zu erreichen. Sachen wie Tics und Tourette wären damals noch als Geisteskrankheit gewertet worden, außer, sie wären erst im Nachhinein nach einer Hirnschädigung entstanden.

  • Bei Leuten mit einem unangemessenen Verhalten, also z.B. Frontalhirnschäden, hat man auch andere Maßnahmen gemacht, um "ihre Nerven zu beruhigen" - also um ein angemesseneres Sozialverhalten zu erreichen

    Das passt ja dann eigentlich auf den Ludwig Breuer? Da erzählt die Mutter, dass er sich auch unangemessen (ordinär, gerade in Bezug auf Frauen) verhält.

  • Das passt ja dann eigentlich auf den Ludwig Breuer? Da erzählt die Mutter, dass er sich auch unangemessen (ordinär, gerade in Bezug auf Frauen) verhält.

    Genau. Der hatte ein Frontalhirnsyndrom. Dabei ist dann ein distanzloses Verhalten häufig der Fall, weil die Leute ihr Verhalten nicht mehr regulieren können und es auch nicht so wahrnehmen.

  • Verstehe. Und so ein Frontalhirnsyndrom kommt durch???

    Falls es noch im Buch behandelt wird, dann nicht antworten ;)

  • Ich werde mich nun mal ausklinken und den 3. Abschnitt in Angriff nehmen. Bin gespannt, wie es weitergeht :)

  • Wikipedia beschreibt es ganz gut. Problematisch ist die "Pseudopsychopathie", der disinhibitorische Symptomkomplex.


    Das wird durch eine Schädigung des Frontalhirns ausgelöst, die kann durch einen Unfall erfolgen, einen Tumor, einen Schlaganfall oder bestimmte Demenzformen, die zu einer Atrophie des Frontalhirns führen.


    https://de.wikipedia.org/wiki/…ve%20Funktionen%20bezieht.

    Danke! Das schaue ich mir mal in Ruhe an.

  • Ein wahnsinnig interessanter und aufrüttelnder Abschnitt.

    Sowohl die ganz Methoden in der Klinik ganz allgemein als auch die tragischen traurigen Schicksale der Einzelnen haben sehr berührt. Angefangen natürlich bei Kuno. Aber auch der Bruder von Richard Hellmer -

    Ja, Richard Hellmer ist der Held aus "Im Lautlosen" und "Die Stimmlosen". Die Bücher gab es ja vorher schon und ich fand diesen kleinen Besuch ganz schön.

    das dachte ich mir gleich, dass wir den irgendwo im Multiuniversum von Melanie wiedertreffen können :) - als auch von Ludwig Breuer. Jetzt wird es zu einem richtig kniffeligen Kriminalfall. Also diese Kombi zwischen Historischem und Krimi finde ich wirklich sehr gelungen. Und ich bin sehr froh, dass du uns begleitest, liebe Melanie. Du hast hochinteressante Infos für uns zum besseren Verständnis.

    Bei Leuten mit einem unangemessenen Verhalten, also z.B. Frontalhirnschäden, hat man auch andere Maßnahmen gemacht, um "ihre Nerven zu beruhigen"

    Ich bin immer sehr zwiegespalten bei den damaligen Methoden. Leider wussten die Menschen ja noch wenig von den inneren Zusammenhängen im menschlichen Körper und Geist. Und ohne Forschung und sicherlich auch ohne Fehlversuche mit falschen Behandlungsmethoden, hätte man oft nicht die richtigen gefunden. Schlimm finde ich nur, wenn sich Methoden festgesetzt haben, die nur durch fortwährende Schmerzen zum Erfolg führten und man die Menschlichkeit und das Wohlergehen der Kranken vollkommen ausblendete. Ich versuche mir zu sagen, es können ja nicht alles Sadisten und Ignoranten gewesen sein. Die vorherrschende Meinung war schon in der ganzen Gesellschaft, dass geistig Kranke "minderwertig" wären. Das Individuum zählte auch noch nicht so wie heute. Und selbst Angehörige taten sich oft schwer mit ihren kranken Liebsten.


    Diese Idee mit den erregten Nerven, die beruhigt werden müssten, war ja sehr hartnäckig. Und auch diese Schocktherapien jeder Art. Mit Strom oder Eiswasser oder noch schlimmer ertränken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für fürchterliche Schicksale in diesen Kliniken Menschen erleiden mussten. Und dass die Ärzte ihren Tod billigend mit Schulterzucken in Kauf genommen haben. :schlaeger

    Bernhard hingegen hatte eine komplexe Schädigung des Temporalhirns. Deshalb hat er Gedächtnisprobleme, ist im formalen Gedankengang auf konkretistisches Denken eingeengt und das Zentrum, in dem die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben ist, ist auch geschädigt.

    Das wird durch eine Schädigung des Frontalhirns ausgelöst, die kann durch einen Unfall erfolgen, einen Tumor, einen Schlaganfall oder bestimmte Demenzformen, die zu einer Atrophie des Frontalhirns führen.

    Wieder was gelernt. Hätte es bei Frontalhirn-Schädigung eine Heilungsmethode gegeben? Gibt es die heute? Oder nur Medikamente?

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Ah fast ergessen.

    Ich habe ja auch die Vermutung, dass Walter mit Absicht auf dem Gut ist und herausfinden will, wie Dr. Weiß das Handwerk zu legen ist und was er wirklich bei der Explosion getan hat. Ich schätze mal, es gab gar keinen Franzosen sondern etwas, woran Weiß mit Schuld war.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Leider wussten die Menschen ja noch wenig von den inneren Zusammenhängen im menschlichen Körper und Geist. Und ohne Forschung und sicherlich auch ohne Fehlversuche mit falschen Behandlungsmethoden, hätte man oft nicht die richtigen gefunden. Schlimm finde ich nur, wenn sich Methoden festgesetzt haben, die nur durch fortwährende Schmerzen zum Erfolg führten und man die Menschlichkeit und das Wohlergehen der Kranken vollkommen ausblendete.

    Das ist heute bei vielen Erkrankungen noch immer der Fall. Man denke nur an Chemotherapien bei Krebs. Da ist letztlich ja auch das Ziel, die Krebszellen mit der höheren Teilungsrate schneller als die gesunden Zellen zu töten. Es hilft in vielen Fällen, aber ist gruselig. Wer weiß, was die Leute in 100 Jahren dazu sagen werden.

    Mit Strom oder Eiswasser oder noch schlimmer ertränken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für fürchterliche Schicksale in diesen Kliniken Menschen erleiden mussten.

    Zum Thema Strom - Elektrokrampf-Therapie, kurz EKT - muss ich was zur Ehrenrettung sagen. Diese Therapieform gibt es bis heute und ist - bei den richtigen Diagnosen angewendet, hochwirksam. Sie wird allerdings heutzutage unter Vollnarkose gemacht, die Narkose dauer 15 min und ist gut verträglich.


    Es gibt Zustandsbilder - die Katatonie bei Schizophrenie oder die stuporöse Depression - die lebensbedrohlich werden können. Die Menschen haben dann oft mehr als 40°C Fieber, die Muskeln lösen sich auf (Rhabdomyolyse) und nichts hilft. Die würden sterben.


    Man hat festgestellt, dass ein leichter gezielter Stromstoß das Gehirn dann wieder ins Gleichgewicht bringt - ähnlich wie bei der Herzdefibrilation mit Strom. Wie genau das funktioniert, sprengt hier den Rahmen. Aber es wirkt. Auch bei schweren therapierefraktären Depressionen ohne das lebensgefährliche Syndrom. Allerdings genügt nicht eine Behandlung, sondern es müssen immer mehrere, meistens 9 bis 12 Behandlungen an mehreren Tagen, durchgeführt werden. Der Effekt ist ganz erstaunlich. Meine erste Erfahrung damit machte ich 1998 - eine Frau mit einer Katatonie und Rhabdomyolyse, wo selbst auf der Intensivstation nicht mehr viel machbar war, bis der Chef meinte, das wäre eine EKT-Indikation. Die Frau war vorher bettlägerig und völlig geistig desolat - mit der konnte man nicht mal mehr reden und wir brauchten eine Eilbetreuung, damit ein gesetzlicher Betreuer für diese Therapie das Einverständnis geben konnte.


    Nach den ersten zwei EKTs passierte noch nicht viel, nach der dritten konnte sie wieder sprechen. Nach Abschluss der Serie war sie wieder völlig klar und konnte aus dem Krankenhaus entlassen werden und selbstständig in ihre Wohnung zurückkehren.


    Wenn ihr jemals EKT heutzutage hört, ist das keine Folter, sondern eine hochwirksame Behandlung bei der richtigen Indikation. Das ist dann so ähnlich zu betrachten wie Herzdefibrilation bei der Reanimation.


    Natürlich ist EKT kein Wundermittel. Man setzt ja auch eine Herzdefibrilation nicht willkürlich bei jeder Herzerkrankung ein. Aber es gibt Indikationen.


    Auch die Insulinschocktherapie war nicht als Quälerei geplant. Die Ärzte hatten damals beobachtet, dass schizophrene Diabetiker, die durch Zufall unterzuckert waren, danach ein paar Tage etwas klarer waren. Es gibt auch da Zusammenwirkungen mit dem Hirnstoffwechsel. Diese Therapie ist allerdings lebensgefährlich und wurde deshalb schnell wieder beendet. Und es war natürlich Unsinn, Kriegszitterer, die eine Posttraumatische Belastungsstörung hatten, damit zu behandeln. Das hilft nicht. Die brauchen Ruhe, Verständnis und eine spezifische Traumatherapie. Aber das wusste man damals noch nicht.

    Wieder was gelernt. Hätte es bei Frontalhirn-Schädigung eine Heilungsmethode gegeben? Gibt es die heute? Oder nur Medikamente?

    Nein, bei Hirnschädigungen gibt es grundsätzlich keine Heilungsmethoden, weil Hirngewebe nicht nachwächst. Was weg ist, ist weg. Bei kleinen Kindern können sich Unfallfolgen noch verwachsen, wenn noch unbelegte Hirnareale die Funktionen übernehmen. Bei Erwachsenen ist das nur noch sehr begrenzt möglich. Medikamente helfen auch nur gegen Verhaltensauffälligkeiten, wenn sie dämpfend wirken.

  • Liebe MelanieM , ich drück dich schon jetzt dafür, dass du so ausführlich und erhellend auf unsere Fragen antwortest. So viel Engagement von einer Autorin in einer Leserunde begeistert mich immer sehr. :*

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Uah! Ist das spannend :yikes


    Erst mal zu dieser Klinik in Langenhagen: Ich habe irgendwann die Serie “Ratchet” gesehen, in der diese Wasserbäder auch vorkamen. Ich finde all die “Behandlungsmethoden” einfach nur grausam. Die Menschen haben damit doch nur viel mehr Schaden davon getragen. Haben die behandelnden Ärzte das alles wirklich geglaubt oder haben sie nur gerne experimentiert?

    Der Kommissar hat ja ausgeschlossen, dass Bernhard mit den Morden zu tun hat. Ich habe mich allerdings gefragt, in tief in ihm eine gewalttätige Seele, vielleicht ausgelöst vom Krieg, steckt. Und in der Kommissar sich von seinem augenscheinlichen Verhalten täuschen lässt. Aber dagegen spricht, dass Friederike ihm vertraut.


    So langsam scheint es rund zu werden. Doktor Weiß und Walter scheinen Bernard zu kennen. Wenn Walter tatsächlich mit Bernhard befreundet war, verstehe ich, dass er mit ihm so umgeht wir er es tut. Allerdings verstehe ich das Verhalten von Doktor Weiß nicht. Will er Bernhard schützen, weil er so sehr darauf beharrt, dass er wie ein kleines Kind ist? Oder will er verbergen, dass er Dreck am Stecken hat, vielleicht weil er Angst hat, dass er nun doch erkannt wird? Aber hätte dann nicht Walter ihm schon verraten? Welche Abhängigkeiten haben denn die beiden? :gruebel


    Was hat es mit dem französischen Spion auf sich und ist der überhaupt wichtig? Und was ist mit dem Burschen von Dr. Weiss?


    Bei mir rödelt es im Kopf :lache

    Jede Frage wirft eine neue Frage auf. :yikes

  • Haben die behandelnden Ärzte das alles wirklich geglaubt oder haben sie nur gerne experimentiert?

    Es gab beide Sorten. Die, die es glaubten, aber wenn sie merkten, dass es nichts bringt, auf andere Behandlungsmethoden übergingen und die, die gern experimentierten. Die zweite Gruppe hatte dann unter den Nazis ihr persönliches Paradies gefunden.

  • Das ist echt schwierig - es gibt leider sehr viele, die Klischees bedienen. Ich werde mir in den nächsten Tagen mal ein paar Gedanken machen, welche mir einfallen. Spontan wäre es von Margaret Atwood "alias Grace", der mir gut gefallen hat.

    Den habe ich schon auf dem SUB - ich habe die Verfilmung gesehen und bin echt gespannt.

  • Vorab mal ein dickes Dankeschön an MelanieM für die vielen interessanten Zusatzinfos!

    Und Euch allen für den tollen Austausch!


    Der Abschnitt war fesselnd und die Seiten flogen nur so dahin.

    Die Behandlungsmethoden lesen sich wirklich fies... aber wie weiter vorn schon jemand schrieb, wer weiß, was die Leute in der Zukunft von unseren jetzt aktuellen Behandlungsmethoden (egal gegen was) halten.

    Bei den Ärzten hat sich vermutlich nur eins nicht geändert, manche haben Empathie, manche nicht. Die sehen nur das wissenschaftlich interessante Problem, aber was der Patient dabei fühlt, ist egal.


    Ich überlege die ganze Zeit, in welchem Buch ich schon mal über diese damaligen Behandlungsmethoden gelesen habe...


    Tante Vera finde ich toll! Die gefällt mir.


    Auf den Krimiteil mit den Morden könnte ich dagegen komplett verzichten.


    Fräulein Juliane taut ein wenig auf, ich hatte ja erst ein wenig Sorge als Friederike sie mit dem netten jungen Tischler alleine gelassen hat... aber der konnte ihr ja tatsächlich ein wenig helfen.


    habe ein bisschen die Befürchtung, das Bernhard irgendwas weiß.


    Ja, das fürchte ich auch, da er mehrfach gefragt hat, ob man ihm glauben würde. Hmm.

    Aber so ganz steig ich bei dieser Explosionsgeschichte noch nicht durch.


    Freue mich aufs Weiterlesen.