'Mehr als die Erinnerung' - Seiten 267 - Ende

  • Wirklich, ehrlich? Ja, ja, es wird schon so sein - aber das entsetzt mich nun wirklich!!!

    Wundert mich nicht wirklich - ich habe mal live erleben dürfen, wie eine Gruppe älterer "Damen" die Kellnerin in einem Eiscafe fragte, ob sie nicht etwas gegen eine Gruppe aus der lokalen Werkstatt für Menschen mit Behinderung tun könnte. Bei dem Anblick könnten sie ja ihr Eis gar nicht genießen. Es passiert mir eigentlich selten, aber da bin ich ausfallend geworden.

  • Wundert mich nicht wirklich - ich habe mal live erleben dürfen, wie eine Gruppe älterer "Damen" die Kellnerin in einem Eiscafe fragte, ob sie nicht etwas gegen eine Gruppe aus der lokalen Werkstatt für Menschen mit Behinderung tun könnte. Bei dem Anblick könnten sie ja ihr Eis gar nicht genießen. Es passiert mir eigentlich selten, aber da bin ich ausfallend geworden.

    Alles, was von der Norm abweicht, wird von vielen Menschen immer noch kritisch beäugt oder z.T. als Belästigung erlebt. Man muss aber auch deutlich unterscheiden zwischen dem, was den äußeren Anblick angeht und dem, was tatsächlich eine Belästigung wäre.


    Wenn jemand einfach nur anders aussieht, meinetwegen vielleicht auch lauter redet, weil er nicht gut hören kann, dann ist das okay und muss überall akzeptiert werden.


    Wenn eine Gruppe von Menschen sich allerdings nicht an die Spielregeln hält und Leute belästigt, also direkt auf Leute hinzukommt und sie umarmen will etc. - dann müssen Grenzen gesetzt werden, denn dieses Verhalten würde man auch von sogenannten "Normalen" nicht akzeptieren. Als ich Kind war, hatten wir im Schwimmbad immer zeitgleich Schwimmunterricht mit einer Gruppe von Down-Syndrom-Kindern. Anfangs gab das große Probleme, weil die übergriffig wurden. Die haben uns angetatscht und belästigt. Sie meinten das natürlich nicht böse, aber es hat uns gestört. Die Lehrerin wollte, dass wir die Behinderten akzeptieren, aber für uns war wichtig, dass sie auch unser Bedürfnis akzeptieren, dass wir nicht ständig angetatscht werden wollen. Erst als die ersten von uns sich weigerten, ins Wasser zu gehen, wenn die Down-Kinder mit ihrem Gegrabsche da waren, wurde den Lehrern bewusst, dass Toleranz und Akzeptanz zweischneidig sind. Und es war durchaus möglich, den Kindern mit Down-Syndrom zu sagen, dass sie bitte nicht ungefragt alle Leute anfassen mögen. Aber es hatte ihnen vorher nie jemand gesagt, vermutlich, weil man dachte, alle anderen müssten lernen, das hinzunehmen.


    Das war in den 1970er Jahren - also zu einer Zeit, als erste ungeschickte Versuche der Inklusion unternommen wurden. Nur war das auch keine Begegnung auf Augenhöhe, sondern eher geeignet, Vorurteile zu verstärken, weil man die Kinder mit Down-Syndrom zunächst nicht mit normalen Grenzen konfrontierte, die sie aber durchaus einhalten konnten, wenn man es ihnen erklärte. Dauerte etwas, später ging das aber und das belästigend erlebte Verhalten kam kaum noch vor.


    Inklusion bedeutet letztlich, dass sich jeder in dem Maß, wie er dazu in der Lage ist, in eine Gruppe eingliedern muss - und das Maß, was er trotz Bemühen nicht aufbringen kann, von den anderen toleriert wird, weil sie seine Bemühungen für den Rest anerkennen.


    Durch das Fördern und gleichzeitige Fordern wachsen Menschen auch. Das habe ich im Buch ja auch am Beispiel von Bernhard zeigen wollen. In dem Moment, wo Friederike ihn wieder als richtigen Mann wahrnimmt, wächst er auch über sich hinaus, wird auch wieder zu einem Erwachsenen. Menschen werden oft das, was andere in ihnen sehen. Und deshalb ist es wichtig, auch zu formulieren, was man sich wünscht.

  • Gut, dass du das so ergänzt, Melanie. Natürlich muss man bei echten Belästigungen Grenzen setzen und darf da die Behinderung nicht als Ausrede verwenden. Ich habe beruflich und auch privat mit einigen Menschen mit verschiedenen Behinderungen zu tun und habe auch bei meinen Jungs in der Erziehung klar darauf geachtet, dass sie die Grenzen anderer respektieren.


    Ich möchte nur noch kurz klarstellen - in dem von mir geschilderten Fall ging es nur darum, dass die Gruppe ebenfalls an einem Tisch in der Eisdiele saß. Sie waren ein wenig aufgeregt, weil sie jeder eine Kugel Eis nach eigener Wahl bestellen durften - und das war nicht ganz leise und unauffällig. Aber die meisten anderen Gäste haben eher gelächelt, weil die Szene eigentlich sehr viel Lebensfreude ausstrahlte. Nur der eine Tisch hat sich beschwert (und das in meinen Augen widerlichste Zitat über ein Mädchen mit Down Syndrom fiel auch: "So ein Kind muss man doch heute nicht mehr bekommen")

  • Sie waren ein wenig aufgeregt, weil sie jeder eine Kugel Eis nach eigener Wahl bestellen durften - und das war nicht ganz leise und unauffällig. Aber die meisten anderen Gäste haben eher gelächelt, weil die Szene eigentlich sehr viel Lebensfreude ausstrahlte. Nur der eine Tisch hat sich beschwert (und das in meinen Augen widerlichste Zitat über ein Mädchen mit Down Syndrom fiel auch: "So ein Kind muss man doch heute nicht mehr bekommen")

    Ja, das habe ich mir auch schon gedacht, dass das so war. Und das ist unverschämt. Weil diese Menschen in dem Moment ja wirklich niemandem etwas tun, sondern sich einfach nur freuen. Und da kann man sich dann auch ruhig mal mitfreuen oder sich - wenn man anders gestrickt ist - freuen, dass man selbst nicht diese Einschränkungen hat, aber den Mund halten.

  • Puh, das Ende war ja sowas von traurig. :heul Bernhard liebt seine Friederike so sehr und dann muss ausgerechnet er so enden. Ich finde es auf der einen Seite gut, dass es mal nicht so ein Ende ist wie erwartet, aber andererseits "Warum ausgerechnet Bernhard?".... :heul:heul:heul:heul


    Bis zum Schluss bin ich aus Dr. Meinhardt nicht schlau geworden und als "Stark" empfinde ich ihn noch immer nicht. Er war mir zu unnahbar und aus diesem Grund habe ich keinen richtigen Draht zu ihm gefunden.


    Dr. Weiß geschieht es irgendwie Recht, dass er letzten Endes so leidet. Doch er bekommt es nicht mehr so richtig mit, also ist das Leiden für ihn auch kein Leiden. Oder sehe ich das falsch?


    Wolfgang / Walter mag ich auch sehr gern, er ist Bernhard gegenüber so loyal gewesen und ich denke, dass er auch Friederike so loyal gegenüber sein wird. Er ist ein echter Freund. :)

  • Sie waren ein wenig aufgeregt, weil sie jeder eine Kugel Eis nach eigener Wahl bestellen durften - und das war nicht ganz leise und unauffällig

    In solchen Situationen muss ich eigentlich eher schmunzeln, ich finde es eigentlich eher herzerwärmend, wie sie ihre Freude ausdrücken können (was wir heutzutage im Alltagsleben kaum machen)...!

    Hier in Hamburg gibt (oder gab es, ich war schon lange nicht mehr dort) es ein Café in einer Kultureinrichtung, in der fast ausschließlich Menschen mit Down Syndrom arbeiteten, für Bestellung / Bezahlung brauchte es manchmal wirklich lange, aber haben wir gern gemacht, ich fand die Freude immer so ansteckend...

  • Inklusion bedeutet letztlich, dass sich jeder in dem Maß, wie er dazu in der Lage ist, in eine Gruppe eingliedern muss - und das Maß, was er trotz Bemühen nicht aufbringen kann, von den anderen toleriert wird, weil sie seine Bemühungen für den Rest anerkennen.

    Es gibt doch so einen ganz berühmten Spruch, ich bekomme ihn immer nicht richtig zusammen (und habe auch keine Ahnung, von wem er ist): Die Freiheit des Einen hört immer dort auf, wo die Freiheit des Anderen anfängt - oder so ähnlich... Ich finde, dies gilt für Menschen mit Behinderungen genau wie für andere Menschen auch!

  • Wolfgang / Walter mag ich auch sehr gern, er ist Bernhard gegenüber so loyal gewesen und ich denke, dass er auch Friederike so loyal gegenüber sein wird. Er ist ein echter Freund.

    Ja, der ist sehr loyal - und jetzt spoilere ich mal für Band 2 - wobei das kein echter Spoiler ist, weil das schon gleich am Anfang erzählt wird - Wolfgang bleibt auf Gut Mohlenberg und in der Zeit zwischen den beiden Büchern heiratet er Juliane, sodass er mit ihr in Band 2 verheiratet ist ;-)

    Hier in Hamburg gibt (oder gab es, ich war schon lange nicht mehr dort) es ein Café in einer Kultureinrichtung, in der fast ausschließlich Menschen mit Down Syndrom arbeiteten, für Bestellung / Bezahlung brauchte es manchmal wirklich lange, aber haben wir gern gemacht, ich fand die Freude immer so ansteckend...

    In Hamburg gibt es auch auf dem Alsterdorfer Markt ganz viele inklusive Läden und Werkstätten, wo menschen mit Handicap aller Art tätig sind - von der Schusterei über ein Buchantiquariat bis hin zum Kaufhaus oder Bäcker - und auch Kunsthandwerk. Das ist richtig toll gemacht.

    Es gibt doch so einen ganz berühmten Spruch, ich bekomme ihn immer nicht richtig zusammen (und habe auch keine Ahnung, von wem er ist): Die Freiheit des Einen hört immer dort auf, wo die Freiheit des Anderen anfängt - oder so ähnlich... Ich finde, dies gilt für Menschen mit Behinderungen genau wie für andere Menschen auch!

    Genau - und das ist etwas, das man von jedem Menschen verlangen muss, weil das die Menschlichkeit ausmacht. Natürlich gibt es auch Leute, die das nicht können, aber die sind dann leider auch nicht in der Lage, unbeaufsichtigt unter Menschen zu gehen. Ein Beispiel im Buch war dafür Breuer mit seinem schwerwiegenden Frontalhirnsyndrom, bei dem er ständig zu Belästigungen neigte, aber verbal nicht erreichbar war, weil das Gehirn geschädigt war.

    Ich möchte mich einmal ganz herzlich bei MelanieM bedanken. Ich lerne durch die vielen Erklärungen und Beispiele so viel. So eine angeregte und erhellende Leserunde gibt es selten.

    Vielen Dank, mir hat die Leserunde mit euch auch sehr viel Spaß gemacht. Sind eigentlich schon alle durch?

  • Ja, der ist sehr loyal - und jetzt spoilere ich mal für Band 2 - wobei das kein echter Spoiler ist, weil das schon gleich am Anfang erzählt wird - Wolfgang bleibt auf Gut Mohlenberg und in der Zeit zwischen den beiden Büchern heiratet er Juliane, sodass er mit ihr in Band 2 verheiratet ist

    <3<3<3:love::love::love:

  • Ich möchte nur noch kurz klarstellen - in dem von mir geschilderten Fall ging es nur darum, dass die Gruppe ebenfalls an einem Tisch in der Eisdiele saß. Sie waren ein wenig aufgeregt, weil sie jeder eine Kugel Eis nach eigener Wahl bestellen durften - und das war nicht ganz leise und unauffällig. Aber die meisten anderen Gäste haben eher gelächelt, weil die Szene eigentlich sehr viel Lebensfreude ausstrahlte. Nur der eine Tisch hat sich beschwert (und das in meinen Augen widerlichste Zitat über ein Mädchen mit Down Syndrom fiel auch: "So ein Kind muss man doch heute nicht mehr bekommen")

    Aber wenn ein kleines goldgelocktes Mädchen sich so gefreut hätte, wären sie sicher entzückt gewesen. :cursing:

  • Vermutlich hätten solche Leute auch dann was zu meckern. Von wegen "Kleine Kinder soll man sehen, aber nicht hören."

    Ja, das vermute ich auch. Auch so ein Spruch, der eigentlich schon seit Jahrzehnten ausgestorben sein müsste...

  • Bevor ich Eure Beiträge lese, möchte ich noch kurz meine Eindrücke hinterlassen. Es war ein wirklich spannendes Finale, ich hatte eigentlich nicht erwartet, das Buch gestern noch zu beenden, aber ich konnte es dann nicht mehr aus der Hand legen.


    Mich hat Juliane besonders beeindruckt - sie ist sehr selbstbewusst aufgetreten und hat sich ihrem Bruder und ihrer Vergangenheit gestellt. Dass sie sich auf Gut Mohlenberg so gut eingefunden hat, dass sie dort mitarbeiten kann, finde ich toll. Das ist eine wirklich gute Lösung, denn zu ihrer Familie kann sie wohl nicht mehr zurück.


    Walter / Wolfgang - dem habe ich doch tatsächlich zwischenzeitlich misstraut und habe mir Sorgen gemacht, dass er das Tagebuch nicht zur Polizei bringt, sondern verschwinden lässt. Ich fürchte, ich lese zu viele Krimis. :rofl


    Bernhards Tod hat mich allerdings sehr traurig gestimmt - ich hatte gehofft, im nächsten Band noch mehr von ihm zu lesen. Ob er sich noch weiter entwickelt, und wie er als Vater ist. Ich hoffe, Friederike findet einen Weg, mit dem Verlust zu leben.

  • Es war ein wirklich spannendes Finale, ich hatte eigentlich nicht erwartet, das Buch gestern noch zu beenden, aber ich konnte es dann nicht mehr aus der Hand legen.

    Das freut mich sehr.

    Mich hat Juliane besonders beeindruckt - sie ist sehr selbstbewusst aufgetreten und hat sich ihrem Bruder und ihrer Vergangenheit gestellt. Dass sie sich auf Gut Mohlenberg so gut eingefunden hat, dass sie dort mitarbeiten kann, finde ich toll. Das ist eine wirklich gute Lösung, denn zu ihrer Familie kann sie wohl nicht mehr zurück.

    Juliane wird in den kommenden Bänden weiterhin dabei sein, gemeinsam mit Wolfgang.

    Walter / Wolfgang - dem habe ich doch tatsächlich zwischenzeitlich misstraut und habe mir Sorgen gemacht, dass er das Tagebuch nicht zur Polizei bringt, sondern verschwinden lässt. Ich fürchte, ich lese zu viele Krimis.

    Das freut mich zu hören, wenn er doch noch zum Nachdenken und Zweifeln anregt ;-)

    Bernhards Tod hat mich allerdings sehr traurig gestimmt - ich hatte gehofft, im nächsten Band noch mehr von ihm zu lesen. Ob er sich noch weiter entwickelt, und wie er als Vater ist. Ich hoffe, Friederike findet einen Weg, mit dem Verlust zu leben.

    Friederike bleibt ja mehr als die Erinnerung von ihm. Im nächsten Band ist ihre Tochter Charlotte dann schon zwei Jahre alt ;-)

  • Ich möchte mich einmal ganz herzlich bei MelanieM bedanken. Ich lerne durch die vielen Erklärungen und Beispiele so viel. So eine angeregte und erhellende Leserunde gibt es selten.

    Genau. :)

    Diese Leserunde ist das beste Beispiel dafür, warum ich Leserunden LIEBE. Der Austausch über das Buch führt zu Themen, die uns alle betreffen und interessieren. Das Buch ist also Anregung zum Nachdenken und in unsere Realität spiegeln. Eine wirklich tolle Runde. Eben auch, weil Melanie so engagiert dabei ist und ganz neue Aspekte auftut. :love: Danke euch allen dafür.

    Wie schön, dass es schon bald weitergeht.

    Hollundergrüße :wave



    :lesend


    Heumahd - Susanne Betz


    (Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin,

    daß er tun kann, was er will,

    sondern daß er nicht tun muß,

    was er nicht will - Jean Rousseau)

  • Ich möchte mich hier auch noch mal bei Melanie für ihr Engagement bedanken - ich war ja in den letzten zwei Jahren eher leserundenmüde, aber diese habe ich genossen und hoffe, in Zukunft auch Spaß an weiteren zu finden. Band zwei wartet auf meinem Reader - bis dahin kann ich ja vielleicht noch die Hafenschwester 3 reinschieben ;-)